Ein Becher und andere Erinnerungen

Internationale Künstlerinnen und Künstler zeigen unterschiedliche Umgangsformen mit dem ursprünglich funktionalen Medium Dia-Positiv und seine aktuelle Ablöse durch die Daten­projektion. Das Kunstmuseum Lentos widmet sich dem Thema „Projektion“. Zwölf beispielhafte Meilensteine in der Geschichte der apparativen Lichtbildkunst wurden ausgewählt. Philip Hautmann projiziert über sich und die Ausstellung.

Grundsätzlich halte ich ja nicht viel von Kunst. In die Sigmar Polke – Retro­spektive in Wien habe ich mich verirrt, weil ich die Bushaltestelle suchte; von alldem verstand ich nichts. Jonathan Meese, der zur Zeit in Kloster­neu­burg gastiert, habe ich aufgrund seines Namens und seines kulturlosen Ra­bau­kentums immer für einen Amerikaner gehalten, bis ich eines Besseren be­lehrt wurde, ohne dass es freilich etwas genützt hätte. So war das im­mer und immer wieder, es gäbe zahlreiche andere Beispiele. Wie ganz an­ders und frisch bewegt fühle ich mich seit dem Besuch der Ausstel­lung „Pro­jek­tion“ im Linzer Kunstmuseum Lentos! Da ist doch wirklich etwas passiert.

(Das Linzer Kunstmuseum Lentos ist mir im übrigen deshalb sympathisch, weil es darauf Bedacht nimmt, internationaler wie heimischer Kunst glei­cher­maßen ein Podium zu bieten; in dieser Ausgewogenheit und in diesem Qua­li­täts­anspruch ist das nicht selbstverständlich.)

In der in Kooperation mit dem Kunstmuseum Luzern auf die Beine gestellten Ausstellung „Projektion“ geht es um, na ja, wie soll ich sagen, Kunstwer­ke, die sich der Technik der Dia- oder Videoprojektion bedienen und dabei etwas ausdrücken wollen. Oder, wie der Katalog es sagt, um „den reflektier­ten künstlerischen Umgang mit einem Verfahren, das lange Zeit ein hauptsächlich funktionales war: Ein Medium zur variablen Großdarstellung bei Vorträgen oder – im übertragenen Sinn – ein Phänomen im Zusammenhang mit der perspektivischen Darstellung, um nur zwei Beispiele zu nennen.“ Fun­damentale Fragen, wie zum Beispiel die des Verhältnisses zwischen Bild und Wirklichkeit und dessen philosophische Metapher des Platonschen Höh­lengleichnisses klingen da an, genauso wie die der manchmal unheimlichen Veräußerlichungsleistung innerer Zustände, in der Psychoanalyse ebenfalls genannt „Projektion“, ebenso wie die Beschäftigung mit den Parametern Raum, Licht, Mechanik, Bildträger und Bildwurf, und zuletzt die Versinn­bild­lichung der Vorstellungskraft, eben über das Verfahren der Projektion, schlechthin. Irgendwann werden sich die Künstler noch einmal mit so viel beschäftigen, dass sie explodieren.

Alsdann. In der zwölf Exponate umfassenden Ausstellung trifft man im ersten der sieben Räume auf eine Installation, bei der man auf einer kleinen, sich drehenden Scheibe einen gerillten, durchsichtigen Plastikbecher beim Herumrollen beobachten kann, bzw. wie der von einer zweifärbigen Lichtquelle beleuchtete gerillte und herum rollende Plastikbecher das Licht der Quelle auf die dahinter liegende Wand streut und dadurch „wunderbare Muster und Schlieren an die Wand zaubert“ (© Dietland Herbestreit, OÖN) bzw. „Licht- und Schattenwürfe sich drehen, und ein buntes Spektakel an die Wand zaubern, das an die Lichtbrechung durch ein gotisches Kir­chen­fenster erinnert“ (© fic, ÖSTERREICH). Ein besonderer Clou besteht da­bei darin, dass der Becher auf dem Drehteller unkontrolliert herum rollt. Auf der Metaebene werden dadurch die Unvorhersehbarkeit der Ereignisse und der trügerische Charakter der Wirklichkeit bzw. ihrer Wahrnehmung versinnbildlicht. Zu alldem trägt die Anrichtung den Titel „Son et Lumière (Le rayon vert)“ und ist eine Schöpfung des Schweizer Künstlerduos Peter Fischli und David Weiss aus dem Jahr 1990.

Ich muss ehrlicherweise gestehen, dass ich noch selten in einem Museum so etwas gesehen habe wie den Becher. Rätselhafte Dinge, ja, aber wirklich noch selten habe ich etwas Vergleichbares erlebt wie mit dem Becher. Lässt man eine gewisse, kurze Zeit verstreichen, die Zeit, in der man von der flüch­tigen und oberflächlichen, in Museen erfahrungsgemäß herkömmli­chen, in die ernsthafte und meditative, in Museen und bei uns allen erfahrungsgemäß seltene Betrachtung kippt, so hält einen der Becher dann schon irgendwie gefangen, und wunderbare Gedanken zaubern sich in den Kopf, wie: „Man denkt sich, der Becher verfügt durchaus über die hypnotische Kraft einer rotierenden Waschmaschinentrommel“, oder: „Chaos, Fraktale, selt­same Attraktoren und Cantor-Staub“. Zwei außergewöhnlich gut aussehende und gestylte junge Damen Anfang zwanzig kommen plötzlich in den Raum mit dem Becher, auch sie wollen die Ausstellung sehen, und ich den­ke dann an Thomas Bernhard und „Alte Meister“: Einer Jahrzehnte langen Angewohnheit zufolge begibt sich der zweiundachzigjährige Musikphilo­soph Reger jeden zweiten Tag, außer Samstags, ins Museum, um, allein auf einer Bank sitzend, den Becher zu betrachten. Hier habe er immer seine bes­ten Gedanken, so Reger, wie: „Die Betrachtung des Bechers löst die Intro­spek­tion in Prousts ‚Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘ aus“, oder: „Wäh­rend Platon sein Höhlengleichnis im Alleingang entwickelte, waren für Ent­wurf und Realisierung des Bechers zwei Menschen nötig.“

Trotz oder gerade aufgrund all dieser interessanten Gedanken und Anre­gungen durch den Becher treibt es einen dann aber weiter in die Aus­stel­lung. Dort kann man dann unter anderem eine Videoarbeit von Valie Ex­port aus den späten 60er Jahren sehen, eine optisch interessante Pro­jek­tion von Elementen aus der Originalcouch von Sigmund Freud der britischen Künstlerin Cornelia Parker (Bezug nehmend auf den psychoanalytischen Be­griff der Projektion), eine Doppelprojektion von Bildern, die allen, die mit dem Film A Clockwork Orange vertraut sind, vielleicht bekannt vorkommen, des ebenfalls britischen Künstlers Liam Gillick, eine Diaex­pedi­tion durch New York City des Schweizer Künstlers Beat Streuli, und zuletzt das unheimliche Werk „1st Light“ des Amerikaners Paul Chan, von der wir LEIDER berichten müssen, dass es zum Zeitpunkt unseres Besuchs irgendwie nicht ganz funktioniert und keine Projektion gezeigt hat. Das ist durchaus schade, denn „1. Light“ hätte als bewegter Schattenriss am Boden „Gegen­stände zivilisatorischer Errungenschaften, die jedoch in der heutigen Zeit der Globalisierung eine negative (schwarzmalerische im wörtlichen Sinne) Bedeutung erfahren haben – Handys, Züge, Autos, und immer wieder durchs Bild fallende Menschen – die terroristischen Anschläge vom 11. Sep­tember unweigerlich in Erinnerung rufend“ gezeigt und durch ihre silhouettenhafte Darstellung von Schatten einen Rückbezug zum bereits genannten Höhlengleichnis geschaffen. Die Nachvollziehbarkeit der Exponate findet sich überhaupt erheblich dadurch verbessert, dass ausführliche Begleit­texte zur freien Entnahme in den jeweiligen Ausstellungsräumen bereit liegen und Verweise auf die kunsthistorische Bedeutung der Werke geben. So weit, so gut, als wir durch sind, komme ich nicht umhin, meine Be­gleiterin in weinerlichem Ton darauf hinzuweisen, dass ich noch einmal „den Becher sehen wolle.“ Und wir gehen noch einmal zurück, unter anderem auch, um nachzusehen, was sich bei dem New York-Werk von Beat Streuli inzwischen so getan hat.

Ich glaube, bis an mein Lebensende werde ich den Becher nicht vergessen. Um einen anderen psychoanalytischen Begriff zu strapazieren, so bilde ich mir doch ein, sagen zu können, dass die Übertragung (also die schwierige Herstellung des „richtigen Drahts“ zwischen Analytiker und Analysant) zwischen dem Duo Fischli/Weiss und mir in einer geradezu perfekten Weise geklappt hat. Seitdem lebe ich in einem Gefühl einer telepathischen Harmo­nie mit den beiden Eidgenossen. Könnte natürlich sein, dass der Becher von den beiden tatsächlich als etwas Ernst zu nehmendes, vielleicht sogar Ehr­furcht gebietendes, begriffen wird, und nicht als genialer Witz (auch auf die Referenzen innerhalb der Kunst), dann würde sich meine Annahme der gelungenen Übertragung freilich als falsch erweisen, und ich hätte mich geirrt. Treffe ich die Annahme, dass ich mich irre? Ich denke, nein.

Ausstellung „Projektion“, Lentos Kunstmuseum Linz, zu sehen noch bis 13. 01. 2008
Katalog „Projektion“ (Hrsg. Susanne Neubauer, Kunstmuseum Luzern), Revolver Verlag für aktuelle Kunst, Frankfurt am Main 2006, 128 Seiten, Museumspreis EUR 17,-

Im Lentos außerdem zu sehen: Filmische Arbeiten von Ursula Mayer, die aktuell den Msgr. Otto Mauer Preis 2007 erhalten hat, u.a. für Werke, die bei der Ausstellung „Zeit­kristalle“ zu sehen sind. Dies unterstreicht Aussagen, dass sich die Künstlerin „auf dem Sprung“ zu einer internationalen Karriere befindet und bestätigt die Lentos-Leitung in ihrer Pro­gram­mierung. Die LinzerInnen scheinen diese im übrigen mehr zu schätzen als die bizarren me­dialen Rundumschläge zur Besucher­zah­lendebatte dies vermuten ließen, denn: Eine Inter­pretation dieser Zahlen könnte ebenso lauten, dass jede/r vierte LinzerIn in dieser Saison das Lentos besucht hat. Aber wer will schon Erfolgsmeldungen?

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11/07

Peter Fischli und David Weiss, Son et lumière (Le ayon vert), 1990. Taschenlampe, Drehscheibe, Plastikbecher, Klebeband, Batterie, Motor. Hauser and Wirth Collection, Switzerland.

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