Guillermo Vilas und der Tunnelbau
Der Damm in seinem Reservistendasein, als Platzhalter möglicher protourbaner Situationen, wird als Speichermasse sämtlicher Linz-spezifischer (Wunsch-)Eigenschaften gelesen.
Er beinhaltet neben seiner Notwendigkeit, die Bahngeleise eben in das Stadtgefüge einzuschleusen und sie wieder auszuspucken, die immensen rollenden Lasten abzufangen und gleichmäßig nach unten zu verteilen, auch einen zu 100 % verdichteten Stadtraum, den es zu erobern gilt.
Der neben der Regulierung des Donaustroms wohl größte topographische Eingriff in der Linzebene ist, genauso wie das Donaubecken selbst, in seiner Ausprägung Veränderungen unterworfen, die sich von der Bevölkerung unbemerkt, wie von alleine und ohne großes Aufsehen vollziehen. (Einerseits ist das Zuschütten von Teilen des dreigliedrigen Hafenbeckens scheinbar beschlossene Sache, anderseits sind auch die Planung der Trassenerweiterung um zwei Schienenstränge und eventuelle Veränderungen an den bestehenden Unterführungen schon vollzogen.)
Die Fläche an der Oberseite dieses gigantischen Stadtkörpers stellt in ihrer Ausdehnung einen neuen Stadthorizont dar, der in der aktuellen Stadtrezeption, ausgenommen der Diskussion um die Ausformulierung und Dekorierung der kilometerlangen Schallschutzmauern im Inneren der Stadt, kaum Widerhall findet. Diese Ebene, gepflügt durch mehrere Geleiseführungen und ihrer daraus resultierenden zerklüfteten Konsistenz, ähnlich einer Nashornhaut1, fungiert als sensibles Aufnahmegerät, das den darunter liegenden schlafenden Stadtriesen mit verschiedensten Reisegeschichten speist.
Die stete Erschütterung, das eigentümliche Stottern der Wagonketten wirkt nicht nur beruhigend, sondern hämmert das Programm des Reisens, so genannte Mental Maps2, in gleichmäßigen Intervallen in die aufnahmebegierige Stadtsubstanz.
Der materiell verdichtet und mit „fremden, intimen“ Inhalten genährte Stadtraum besitzt dadurch einen eigenen Herzschlag und die Verkehrspläne der ÖBB bestimmen seine Frequenz.
Die Beziehung des gesamten Geleisekörpers zur Stadt entspricht dem Verhältnis von übertrainierten Unterarmmuskeln eines Tennisspielers im Vergleich zu seinem restlichen Körperbau.
Als markantes Beispiel kann der mächtige linke Antebrachium (lat. Bezeichnung für den gesamten Unterarm) des berühmten Guillermo Vilas3 dienen, der ihm ein kraftvolles, für seine Zeit revolutionäres Topspinspiel ermöglichte und dadurch die Grundvoraussetzung für mehrere Grandslamtiteln darstellte.
Die Belebung dieses Stadtmuskels birgt ähnliche großartige Potentiale und Linz könnte, wie die Linz09 Intendanz allerorts großspurig ankündigt, tatsächlich zur interessantesten Stadt Österreichs avancieren und im internationalen Städtewettbewerb vielleicht sogar in ein Semifinale eines großen Städtevergleichsturniers vorstoßen.
Dieser wie aus einem Guss geformte Stadtteil gibt freiwillig keine Räume her, er verbirgt vielmehr sein Potenzial wie einen großen sagenumwobenen Schatz.
Um hier neue Stadtsituationen/Stadtatmosphären zu kreieren, muss man eine invertierte Raumproduktion betreiben. Das heißt neue Stadtareale entstehen nur dort, wo der Verdrängungsmechanismus stärker ist als die Dichte des bestehenden Stadtgebindes.
In diesem speziellen Fall werden sich Attribute wie das Aushöhlen, Ausschaben, Sprengen und Auslagern als Begriffe der alltäglichen Städtebaupraxis etablieren.
Die gewünschten möglichen Vorstellungen von Funktionen/Antifunktionen fressen den Raum förmlich auf4.
Die vormals perfekt erschaffene geologische Struktur wird zur Ruine erklärt, die in ihrer brüchigen Existenz zum Ambiente5 und zugleich Träger neuer protourbaner Strukturen werden könnte.
Es wurde im Stadtgebiet Linz verzweifelt versucht, den gesamten Geleisekörper, etwa durch Bepflanzungen an seinen schräg abfallenden Seitenflächen und anderen ungültigen Maßnahmen, zum Verschwinden zu bringen. Alle bisherigen Vertuschungsaktionen haben sich als nicht wirksam genug erwiesen, denn er wurde wiederentdeckt.
Jenseits aller Forscherromantiken und erkenntnisreichen Stadtexpeditionen im Sinne der altbekannten Abenteurer des 19. und 20. Jahrhunderts, oder dem Wunsch unbekannte Welten zu erkunden, wie es alle drei Star Trek-Generationen immer wieder kläglich versuchen, sollte sich der Städtebau in Bezug auf diese einmalige Situation ein Beispiel an John Carpenters Filmklassiker „Dark Star“ (1974) nehmen.
Die vier, eigentlich fünf, Hauptprotagonisten, Doolittle, Talby, Pinback, Boiler und der tote, auf Eis gelegte Kapitän, allesamt abgehalfterte Astronauten eines in die Jahre gekommenen Raumschiffs, haben nicht die Aufgabe, neue Territorien zu erkunden, sondern ihre Mission ist die Zerstörung von Planeten und anderen Himmelskörpern, die, aus ihrer Bahn geraten, kein Chaos verursachen sollen. Die Suche nach intelligentem, außerirdischem Leben interessiert sie gar nicht. Sie machen zwar hier und da einmal eine Möglichkeit solcher Lebensformen aus, lassen sie aber links liegen. In ihrem Verhalten stellen sie die genaue Antithese zu den großen Entdeckungserzählungen dar.
Sie produzieren im Wegnehmen und Auslöschen räumliche funktionale Systeme.
Umgelegt auf dem schon beschriebenen, ortspezifischen Linzwurm, würde das bedeuten, das als wesentliche Technologie die weltberühmte österreichische Tunnelbauweise6 zum Einsatz kommen müsste, um Städtebau sichtbar machen zu können.
Räume unwahrscheinlichen Ausmaßes warten darauf, durch vernichtende Mechanik zum Leben erweckt zu werden.
1 Vgl. die Beschreibung von Deleuze über das Baconsche Diagramm; „… das nennt Bacon ein Diagramm; es ist , als befänden wir uns plötzlich in der Sahara, einer Sahara im Kopf, es ist, als spannten wir die Haut eines Nashorns darüber, die Haut eines Nashorns durch ein Mikroskop betrachtet; es ist, als zögen wir zwei Teile des Kopfes mit Hilfe eines Meeres auseinander, es ist, als wechselten wir den Maßstab und ersetzten figurative Elemente durch mikroskopische oder kosmische Elemente. Eine Sahara, eine Nashornhaut, das ist das plötzlich ausgebreitete Diagramm. Es gleicht einer Katastrophe, die dem Bild plötzlich innerhalb figurativer oder probabilistischer Daten zustieße.“
Gilles Deleuze, „The Diagramm“ in: The Deleuze Reader, Hg. Constantin Boundas, New York,1993 S193-194
2 Hierzu werden zwei Modelle miteinander verknüpft. Einerseits liegen diesem Begriff die farbenfrohen Aquarellarbeiten eins Franz Ackermanns zu Grunde, der sie als eine Art eigenständigen Reisebericht behandelt, und den Ort als Auslöser niemals aber als Abbild verstanden wissen will, anderseits haben Mental Maps vor allem Funktionen im Zusammenhang mit der räumlichen Orientierung und Ordnung die in Form von Gedächtnisprotokollen und Kartenskizzen durch Kevin Lynch im Buch „Das Bild der Stadt“ (1970) ausgelotet wurden.
3 Guillermo Vilas
Geb. 17.08.1952 in Mar del Plata, Argentinien
Seine größten Erfolge:
1974 Masters
1977 French Open, US Open
1978 Australian Open
1979 Australian Open
4 Der süße Brei
Es war einmal ein armes, frommes Mädchen … eine alte Frau schenkte ihm ein Töpfchen, zu dem sollt es sagen: „Töpfchen, koche“, so kochte es guten, süßen Hirsebrei, und wenn es sagte: „Töpfchen, steh“, so hörte es wieder auf zu kochen … dass das Töpfchen wieder aufhören soll, aber sie weiß das Wort nicht. Also kocht es fort, und der Brei steigt über den Rand hinaus und kocht immerzu, die Küche und das ganze Haus voll und das zweite Haus und dann die Straße … Endlich, wie nur noch ein einziges Haus übrig ist, da kommt das Kind heim und spricht nur: „Töpfchen, steh“, da steht es und hört auf zu kochen, und wer wieder in die Stadt wollte, der musste sich durchessen.
Quelle: Kinder- und Hausmärchen, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm (Brüder Grimm), 1812-15, KHM 103
5 Der Feststellung Diedrich Diederichsen aus seinem Buch „Der lange Weg zur Mitte“, Köln: KiepenheuerWitsch 1999, S163-169 zufolge, funktioniert Ambiente als Begrifflichkeit im Wesentlichen in drei Zuständen:
1. in konstruktiver Form, 2. dokumentarisch festgehalten, 3.als langsamer Ablauf eines schnelleren „Vorgängers“ (z.B. eine Tanzmusik ohne Beats.)
Seiner Meinung nach wäre Brian Eno der ideale Vertreter zu Punkt 1., Murray Schafer zu Punkt 2. und die Chill-Out-Räume zu Punkt 3.
6 Die Neue Österreichische Tunnelbauweise wurde, basierend auf ein von L. von Rabcewicz 1948 angemeldetes Patent auf eine neue Tunnelbauweise, entwickelt.
Die wesentliche Neuerungen stellten die Berücksichtigung des Gebirges als tragender Bauteil, die Ausbildung der nachgiebigen Betonschale als vergütete Oberfläche und die Berechnung des Tunnels als geschlossene, dickwandige Röhre dar.
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