Das Scheitern an der Lebensgeschichte
Für Harald Szeemann war das Scheitern „die poetische Dimension in der Kunst“. Das mag die Rolle des Künstlers betreffen, der an der Spitze einer Avantgardebewegung und als „Topos der Moderne“ mitunter an der Gegenwart scheitert. Andererseits betrifft die poetische Dimension des Scheiterns auch einen Mythos der Kunst an sich, künstlerische Inhalte darzustellen, die an einer Übermacht des Realen scheitern oder an der Vermessenheit der eigenen Idee. Manches Mal wird der Gestus einer unternehmerischen Risikobereitschaft bis in die Absurdität hinein karikiert oder übersteigert, was nicht in Erfolg, sondern in heiterer Befreiung oder auch in Wahnsinn enden kann. Denkt man beispielhaft an Alexis Sorbas und das fröhliche Zusammenkrachen der mühsam errichteten Transportrutsche am Ende des Filmes oder an den Wahnsinn im Film Fitzcarraldo, ein Schiff durch den Urwald zu schleppen, dann kann man innerhalb dieser doch sehr unterschiedlichen Filme dem Scheitern eine befreiende Kraft zuschreiben, die quasi geradezu als Mythos eine Läuterung darstellt. Als negative Erzählung ihrer nicht gelungenen Erfolgsgeschichte stellt das Scheitern die ursprünglich angestrebte Idee in Frage oder das System oder ebenso die mitunter zweifelhaften unternehmerischen Charaktere der Protagonisten.
So weit, so gut, kann man wohl feststellen, dass das Scheitern im realen Leben wohl zu keiner Zeit ein besonders erstrebenswertes Ziel war, wenngleich das Scheitern zu neuer Aktualität gekommen sein mag, bzw. sogar ein gewisses Flair erlangt hat. Bereits im Dezember des vergangenen Jahres recherchierten Mitglieder der Redaktion anlässlich einer Veranstaltungsreihe im Wiener Aktionsradius Augarten über das Scheitern („Friedhof der gescheiterten Projekte“). Grundtenor der Veranstaltung war, gescheiterte Projekte als gescheite Projekte zu bezeichnen. Diese falsche etymologische Herleitung des Wortes stellte gewissermaßen einen „rechtmäßigen“ Ausweg dar, das Schicksal des unverdienten Scheiterns guter Projekte in etwas individuell Positiveres umzuwerten. Ergebnisse der weiteren Recherche waren unter anderem der „Club der polnischen Versager“ oder die „Show des Scheiterns“, beides Berliner Phänomene, die das Scheitern in einer abgefahrenen Mischung aus Ernst und Show präsentieren. Außerdem tauchten im Internet einige Suchergebnisse auf, die dem Scheitern eine amüsante, urbane Note beifügten (Werbeagenturchic) oder Internetseiten, die einem allgemein gut zu spürendem Gefühl ehrlichen Ausdruck geben wollten. Nicht zuletzt wurde immer wieder das Scheitern als „das große Tabu der Moderne“ zitiert, was in Person des Kultursoziologen Richard Sennett einen wissenschaftlich fundierten Hintergrund belegt, der aber (wie ich glaube), gar nicht unbedingt notwendigerweise immer genau gekannt sein muss. Um die volle Dimension des „großen modernen Tabu“ zu verstehen, ist eine weitere Lektüre zwar unbedingt empfehlenswert, in Eingängigkeit und Dramatik allerdings wird die Aussage aufgrund der Lebenserfahrung des modernen Menschen aber vermutlich ohnehin sofort verstanden. Christoph Schlingensief formulierte wahrscheinlich genau in dieser Mischung aus sofortigem Verständnis, Aktualität, Amüsement, Ohnmacht und Todernst des umfassenden „Scheitern-Gefühls“ den breitenwirksamen Slogan „Scheitern als Chance“. Die verzweifelte Kampfparole appelliert in ihrem Kunstaktivismus wohl kaum an den schöngeistigen Kunstsinn oder an eine unternehmerische Risikobereitschaft, die Erfolg verspricht. Scheitern scheint vielmehr zu einer ewigen Chance geworden zu sein, zu einer ausweglosen Ästhetik innerhalb vieler anderen ausweglosen Ästhetiken. So gesehen kann „Scheitern als Chance“ gleichermaßen als Lebenshilfeparole, als Kampf- und Trostprogramm für eine breite Bevölkerungsschicht gesehen werden, die in ständigem Risiko von materiellen oder immateriellen Verlust zu leben gezwungen ist.
Wo kommt nun die Thematisierung der neuen Aufmerksamkeit am Scheitern her? Nicht nur nach Sennett sind der neue Kapitalismus und der umfassende soziale Wandel der Institutionen für vielerlei negative Entwicklungen verantwortlich. Die Argumentation mit Flexibilisierung, Fragmentierung und Beschleunigung ist zwar nicht mehr ganz neu, dafür in den alltäglichen Lebensrealitäten umso aktueller. Bereits 1998 behandelt Sennett in seinem Buch „Der flexible Mensch“ (Original: „The Corrosion of Character“) die weitläufigen Auswirkungen des neuen flexiblen Kapitalismus. Die Zeitdimension dieses neuen Kapitalismus begünstigt eine Dominanz kurzfristiger, relativ schwacher Bindungen und erzeugt die Leitsätze: In Bewegung bleiben, keine Bindungen eingehen, keine Opfer bringen. Die Zeit driftet von Ort zu Ort, von Tätigkeit zu Tätigkeit, Stellen werden durch Projekte und Arbeitsfelder ersetzt. Durch Flexibilisierung und Fragmentierung werden ethische Wertvorstellungen wie Loyalität, Verantwortungsbewusstsein oder Arbeitsethos ausgehöhlt. Folge ist ein polarer Gegensatz des Driftens und des Verlustes von erfahrbaren, festen Charaktereigenschaften – Orientierungslosigkeit und ein neuer Kulturkonservativismus entstehen aus dem Verlust von erlebten Bindungen und jedweder langfristigen Orientierung. Die Angst, die innere Sicherheit für das eigene Leben zu verlieren, ist somit in die eigene Arbeitsgeschichte und in den eigenen Lebensstil eingebaut. Darüber hinaus sind Arbeitsplatz, Sozialstaat und Gemeinschaftsleben als Bezugsrahmen einem immer rascheren Wandel unterworfen, Ursachen lassen sich kaum noch Wirkungen zuordnen, Absichten und Vorhaben verlieren sich in einem Netz von unwägbarem Risiko und Zufälligkeiten, über die Einzelne und Gruppen immer weniger Kontrolle haben. Insgesamt vermag das institutionelle Leben keine Sicherheiten mehr zu leisten, es vermag auch nicht mehr als Erzählrahmen dienen, als eine Geschichte, in der Menschen eine signifikante, aktive Rolle spielen: Die flexible Welt taugt nicht mehr für eine identitäts- und sinnstiftende Narration über das eigene Leben, ein dramatischer Verlust, der in einem kollektiven Unbehagen mündet, an der eigenen Lebensgeschichte gescheitert zu sein.
Ein Dilemma ist, dass das flexible System langfristig große soziale Ungleichheiten produziert und einen Charakter hervorbringt, der sich ständig in Erholung befindet, praktisch der Wirtschaft passiv ausgeliefert. Das produziert auf lange Sicht nicht Zorn, sondern Lethargie. Das besondere Dilemma ist auch, dass sich im Falle des Scheiterns Menschen allzu leicht in eine Opferrolle eines übermächtigen Regimes gedrängt sehen. So berechtigt das auch innerhalb eines flüssig dahindriftenden Systems ist, entwertet die Opferrolle jedoch die eigenen Fähigkeiten und macht passiv. Auch jenseits von materieller Notversorgung (soziale Abfederung) können sich diverse „Trost-Institutionen“ der Betroffenen leicht annehmen. Das Problem des systemimmanenten Drifts bleibt jedoch trotz Trost bestehen: Sennett stellt in einem anderen Buch, in „Respekt im Zeitalter der Ungleichheit“ (2002) die Frage, ob eine derartig große soziale Ungleichheit, ja Ungerechtigkeit, Respekt überhaupt noch zulässt – und auch die Achtung vor dem Anderen, vor allem vor den Gescheiterten.“ Er selbst sieht in einer Gesellschaft, die die langfristigen Bedürfnisse ihrer Mitglieder derartig unterminiert, keine Zukunft. Das Scheitern hat jedenfalls viele Gesichter bekommen. Wir sind gespannt, welche Positionen die Kunst vorzustellen vermag, ob sie imstande ist, Positionen zu vertreten, die das Tabu des Scheiterns auf eine tiefer greifende Weise zu thematisieren imstande ist und die Resignation, die auch diversen Show-Formaten innewohnt, auf eine aktive Weise zu durchbrechen vermag.
Ausstellung „Scheitern“, Landesgalerie ab 21. Juni
Erfolgsorientierung und die optimale Nutzung von Lebenschancen prägten lange Zeit das Bild der Leistungsgesellschaft. Scheitern war darin nicht vorgesehen. Die Ausstellung wird 10 bis 15 Positionen zeitgenössischer Kunst zusammenführen, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem Thema „Scheitern“ auseinandersetzen. Das inhaltliche Spektrum wird von psychologischen Aspekten wie dem Umgang mit individuellem Scheitern und Versagensängsten über gesellschaftspolitische Problemstellungen bis hin zu (selbst)ironischen Interpretationen des Scheiterns reichen. Außerdem wird es am 27. Juni eine „Show des Scheiterns“ geben.
Informationen unter www.landesgalerie.at.
Gegen das Dahintreiben braucht es heutzutage vermehrt starke Kontrolle, weil es kaum noch um starke Charaktere gehen kann. Gescheitert? Futuredummies landen in Seichtzonen. Eine mögliche Interpretation des (Video-)Bildes „go…go…go…“ von Anna Jermolaewa, einer Teilnehmerin der Ausstellung „Scheitern“ im Juni in der Landesgalerie.
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