Es geht um einen Sichtwechsel
Was ist das Andere in der Arbeitsweise eurer Theatergruppe?
Wichtig ist die Inanspruchnahme von Zeit. Die Handlungsweise sollte von vornherein nicht die sein, zu helfen, sondern zu fragen, was ist der Bedarf. Es geht um Learning by doing.
Ich gehöre selber zu den Menschen mit Handicaps. Ob jemand eine psychische Beeinträchtigung oder eine körperliche hat, es geht mir nicht ums Mitleiderregen oder Entsetzen hervorrufen, sondern um die Selbstverständlichkeit des künstlerischen Ausdrucks, der eben etwas anders ist, mit Respekt und dosierter Fürsorglichkeit zueinander. Daher ist mir der umgekehrte Ansatz wichtig, wir wollen auch Nichtbehinderte integrieren in unsere Arbeitsweise, in unser Verständnis von Kunst. Interessant ist, dass diese weniger Durchhaltevermögen beweisen, es scheint für Menschen ohne Handicaps schwierig zu sein, sich in unserer Gruppe zu behaupten. Von uns wird das aber eigentlich ständig verlangt.
Woran liegt das? Kann es sein, dass ihr besser gelernt habt, eure Bedürfnisse auch zu artikulieren, als jemand, der es gewöhnt ist, dem stetig wachsenden Druck, den wir ja alle spüren, den Vorrang einzuräumen?
Ja. Wir haben auch besser gelernt, Eindrücke zu verarbeiten, die uns in Streß versetzen. In unserer Gruppe zwingen wir den sogenannten „Gesunden“ unsere Erlebniswelt auf, in dem wir mehr Geduld fordern. Wir fordern sie aber auch selbst heraus, möchten ihre Beobachtungsgabe für sich selber schärfen und handeln nicht nach vorgegebenen Mustern und Regeln.
Wie entsteht euer Programm?
Vorwiegend durch ein spielerisches Handeln. Wichtig ist es, die eigene Persönlichkeit einzubringen, zu improvisieren, wo es nötig ist und wie es sich ergibt. Es wird geprobt, es gibt einen gewissen Rahmen für die Darstellung, aber es bleibt genügend Freiraum, für das, was sich aktuell an Sprache, Mimik, Gestik und Authentizität ergibt.
Was ist eure aktuelle Produktion?
Das Stück Tartuffe von Moliere, das wir im Zusammenhang mit sicht:wechsel einzustudieren begonnen haben, ist unsere 4. Produktion. Es handelt sich nach 3 freien, von uns selbst entwickelten Produktionen zum ersten Mal um ein Stück von einem Autor, das wir gestalten. Die Herausforderung ist, dass wir einen fremden Text lernen müssen, den wir mit eigenen Interpretationen ergänzen und im Dialog darstellen. Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung wollen sich nicht als Gebrauchsdarsteller fühlen, sie wollen etwas spielen, das innerlich für sie stimmt.
Auch für mich ist etwas anders, allerdings leichter. Bisher war meine Rolle in Regie und Produktionsleitung vereint, diesesmal kann ich mich dank der großartigen Arbeit von Prof. Georgine Lansky und Susanne Gödhart, die das Stück auf eine halbe Stunde gerafft haben und die künstlerische Darstellung und das Einstudieren der Rollen leiten, ganz auf die Produktionsleitung konzentrieren.
Im Stück selbst geht es um die Entlarvung von Scheinheiligkeit. Wir stellen Tartuffe als jemanden dar, der nach außen hin integer sein will, jegliche Süchte verurteilt, in Wirklichkeit aber intrigiert. Das Aufdecken der Scheinmoral passiert durch eine Fotoleinwandprojektion.
Was ist das Wesentliche für dich bei sicht:wechsel?
Es geht darum, unter Beweis zu stellen, dass alles normal ist, dass die Klassifizierung wegfällt, was gut und was schlecht ist. Es geht ums Umdrehen in der Betrachtungsweise, eben um einen Sichtwechsel. Wir wollen nicht erreichen, dass unsere Stücke berührend sind, sondern, dass es ganz selbstverständlich ist, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung Theater spielen und damit in der Öffentlichkeit präsent sind, vielleicht sogar ihr Handicap stolz vor sich her tragen und ebenso wie ihr Talent zeigen.
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