Es geht um einen Sichtwechsel

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Ein Gespräch mit Ingrid Gruber, Leiterin der vor sieben Jahren gegründeten Theater­gruppe „Die schrägen Vögel“.

Was ist das Andere in der Arbeitsweise eurer Theatergruppe?
Wichtig ist die Inanspruchnahme von Zeit. Die Handlungs­wei­se sollte von vornherein nicht die sein, zu helfen, sondern zu fragen, was ist der Bedarf. Es geht um Learning by doing.
Ich gehöre selber zu den Menschen mit Handicaps. Ob je­mand eine psychische Beeinträchtigung oder eine körperliche hat, es geht mir nicht ums Mitleid­er­re­gen oder Entset­zen hervorrufen, sondern um die Selbst­ver­ständlichkeit des künstlerischen Ausdrucks, der eben etwas anders ist, mit Respekt und dosierter Für­sorg­lichkeit zueinander. Daher ist mir der umgekehrte An­satz wichtig, wir wollen auch Nicht­be­­hinderte integrieren in un­sere Arbeitsweise, in un­ser Ver­ständ­nis von Kunst. In­­teres­sant ist, dass diese weniger Durch­­haltevermögen be­weisen, es scheint für Men­schen ohne Handicaps schwie­rig zu sein, sich in unserer Grup­pe zu be­haupten. Von uns wird das aber eigentlich stän­dig verlangt.

Woran liegt das? Kann es sein, dass ihr besser gelernt habt, eure Bedürfnisse auch zu artikulieren, als jemand, der es ge­wöhnt ist, dem stetig wachsenden Druck, den wir ja alle spü­ren, den Vorrang einzuräumen?
Ja. Wir haben auch besser gelernt, Eindrücke zu verarbeiten, die uns in Streß versetzen. In unserer Grup­pe zwin­gen wir den sogenannten „Gesunden“ unsere Er­leb­niswelt auf, in dem wir mehr Geduld fordern. Wir fordern sie aber auch selbst heraus, möchten ihre Beobach­tungs­gabe für sich selber schärfen und handeln nicht nach vorgegebenen Mustern und Regeln.

Wie entsteht euer Programm?
Vorwiegend durch ein spielerisches Handeln. Wichtig ist es, die eigene Persönlichkeit einzubringen, zu improvisieren, wo es nötig ist und wie es sich ergibt. Es wird ge­probt, es gibt einen gewissen Rahmen für die Darstellung, aber es bleibt genügend Freiraum, für das, was sich ak­tuell an Spra­che, Mimik, Gestik und Authentizität ergibt.

Was ist eure aktuelle Produktion?
Das Stück Tartuffe von Moliere, das wir im Zusammen­hang mit sicht:wechsel einzustudieren begonnen haben, ist unsere 4. Produktion. Es handelt sich nach 3 freien, von uns selbst entwickelten Produktionen zum ersten Mal um ein Stück von einem Autor, das wir gestalten. Die Her­aus­for­de­rung ist, dass wir einen fremden Text lernen müssen, den wir mit eigenen Interpretationen ergänzen und im Dialog dar­­stellen. Menschen mit einer psychischen Be­ein­träch­ti­gung wollen sich nicht als Gebrauchsdarsteller fühlen, sie wollen etwas spielen, das innerlich für sie stimmt.
Auch für mich ist etwas anders, allerdings leichter. Bisher war meine Rolle in Regie und Produktionsleitung vereint, die­sesmal kann ich mich dank der großartigen Arbeit von Prof. Georgine Lansky und Susanne Gödhart, die das Stück auf eine halbe Stunde gerafft haben und die künstlerische Dar­stel­lung und das Einstudieren der Rollen leiten, ganz auf die Produktionsleitung konzentrieren.
Im Stück selbst geht es um die Entlarvung von Schein­hei­ligkeit. Wir stellen Tartuffe als jemanden dar, der nach au­ßen hin integer sein will, jegliche Süchte verurteilt, in Wirk­lichkeit aber intrigiert. Das Aufdecken der Scheinmoral pas­­siert durch eine Fotoleinwandprojektion.  

Was ist das Wesentliche für dich bei sicht:wechsel?
Es geht darum, unter Beweis zu stellen, dass alles normal ist, dass die Klassifizierung wegfällt, was gut und was schlecht ist. Es geht ums Umdrehen in der Betrach­tungs­weise, eben um einen Sichtwechsel. Wir wollen nicht er­reichen, dass unsere Stücke berührend sind, sondern, dass es ganz selbstverständlich ist, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung Theater spielen und damit in der Öffentlichkeit präsent sind, vielleicht sogar ihr Handicap stolz vor sich her tragen und ebenso wie ihr Talent zeigen.

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06/07
FotoautorInnen: 
Reinhard Winkler

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