Kalte Gestalten
Figuren in frostiger Umgebung. Fahrig. Oder sind sie, ganz im Gegenteil, ganz bei sich? Manche Gliedmaßen sind in einem Pinselstrich hingeworfen. Vergänglich, diese Wesen sind Teil der Landschaft. Und doch sind da immer noch warme Körper, die Schutz vor der Kälte suchen.
Ich mag diese kalten Gestalten, fühle mich zu ihnen hingezogen. Was haben sie bloß in dieser frostigen Landschaft zu suchen? Ein paradoxer Gedanke huscht durch den Kopf: Sie suchen nach Wärme! Und dies eben nicht, wie’s die Medienmaschinerie rund um Weihnachten suggeriert. Kein prasselndes Kaminfeuer, kein „Licht ins Dunkel“, keine leuchtenden Kinderaugen. Kein „Ho-ho!“-Vollidiot mit weißem Rauschebart. Nein, diese Gestalten sind Ausgesetzte, mit der Kälte Konfrontierte. Aber ja, denke ich, nur in der Kälte lässt sich nach Wärme suchen. Ho-ho, gute alte Dialektik!
Begegnung mit Astrid Esslinger, Anlass war die Ausstellungseröffnung im Linzer Hofkabinett Mitte November. „Eisheilige“ hat sie diese Bilder-Serie genannt. Dabei, erklärt Astrid, habe sie früher einige Zeit ihre Bilder namenlos belassen. Der/die BetrachterIn solle so frei sein, sich seinen/ihren eigenen Reim auf die Bilder zu machen.
Meine erste Annäherung an Astrid fand via Internet statt. Ein Kennenlernen auf intellektueller Ebene, im Begleittext zum Projekt „Time to build oder leben“ (2005) heißt es unter anderem:
Der moderne Kapitalismus ist dabei, nationalstaatliche Grenzen und kulturelle Besonderheiten einzuebnen und sie auf das Niveau einer gigantischen, vom „Western sound“ gespeisten Benutzeroberfläche zu heben. Dieser entfesselte Weltkapitalismus, der alle Lebensäußerungen der Menschen ergreift, soziale Bindungen flexibilisiert und Charaktere zerstört, ist dabei, zu einem Selbstläufer zu werden. Seine Begründung und Rechtfertigung findet er einzig in seinem Vollzug, nämlich in der Anhäufung von Kapital und der grenzenlosen Maximierung von Gewinn. Gewinnstreben und Profitgier werden zu Kulthandlungen, die ohne Nach- und Eingedenken die ganze Woche über zelebriert werden. Gegenstand dieses Kultes ist das Geld. Der komplexe Apparat, der über Investitionen entscheidet und finanzielle bzw. monetäre Manöver lenkt, bestimmt die neue Geografie des Weltmarkts oder vielmehr die neue biopolitische Struktur der Welt.
Das ist nicht bloß abstrakte Kritik. Ganz konkret hat Astrid am Beginn ihrer Künstlerlaufbahn erlebt, wie sich die Herrschaft des weißen Mannes auf „andere“ auswirkt. In den Jahren 1981 und ’83 reiste sie für ihre Doktorarbeit (Kommunikationswissenschaften) nach Nordamerika. Thema: Kommunikation bei den Indianern in Nordamerika. Sie besuchte mehrere Reservate, lebte auch bei den Lakota in den Black Hills. Was sie sah, war Krieg. Krieg der USA gegen die Ureinwohner, Belagerungen durch das Militär, Repressionen, Armut und der Versuch, den Ureinwohnern eine ihnen fremde Lebensweise aufzuzwingen. Esslinger: „Die indianischen Sprachen kennen weder Vergangenheit noch Zukunft. Diese Sprachen und ihre Kultur wurden ihnen systematisch ausgetrieben, Sprache und Kultur sind das erste, was Kolonisatoren vehement bekämpfen.“ Zurück in Salzburg, erzählte Esslinger dem zuständigen Professor von ihren Erfahrungen. Der meinte, das sei alles sehr spannend, aber es müsse sich auch beweisen lassen, und das sei eine Lebensaufgabe. Astrid kehrte daraufhin der Wissenschaft den Rücken: „Da habe ich mich endgültig für die Kunst entschieden.“
„Fakten, Fakten, Fakten“, posaunte und plärrte einst das deutsche Populär-Magazin „Focus“ in die Welt. Die Faktengläubigkeit, Ja-Hörigkeit der westlichen Kultur. Welcher Beweise bedarf es noch dafür, dass der weiße Mann auf der ganzen Welt Mist baut? Seine Ursünde, denke ich anknüpfend an Astrids Erzählung, ist die Zerstückelung der Zeit. (Deren Beginn übrigens den Christen zu verdanken ist: Die ersten Kirchturmuhren wurden angebracht, damit das Volk rechtzeitig zur Messe erscheint.) Vordergründig, denke ich weiter, propagiert die westliche Kultur den lustvoll genossenen Augenblick – carpe diem! Zugleich, und darin liegt der wahre Skandal, wird Gegenwart nur noch als Investition in die Zukunft gesehen (unentgeltliche Werbeeinschaltung an dieser Stelle: Denken Sie an ihre Pensionsvorsorge!).
Astrids Bilder lassen mich innehalten. Ihre Spannkraft zwischen Intellekt und Intuition fasziniert mich. Den Prozess des Schaffens beschreibt sie so:
Generell denk ich, es geht es in den Bildern um Begegnung. Um Nähe und Distanz, zu sich selbst, den anderen, zur Situation. Es geht um Erlebniswelten außerhalb der Konsumation. Es gibt keine lineare Botschaft. Ich beginne abstrakt mit automatisierter, gestischer Malerei bis sich irgendetwas formiert, das mich neugierig macht, in Spannung versetzt. Ich verfolge allerdings keine Idee, sondern arbeite daran, Vorstellungen loszulassen und mich von der Gestik entführen zu lassen.
Astrid Esslinger, ein paar Daten zur Person müssen dann doch sein: 1958 in Linz geboren. 1982 bis 1986 in der Linzer Stadtwerkstatt: Kunst+Kollektiv, Kunst+Krawall. Bis 1994 „Isolation Tank Studio“ in einem Örtchen namens Uring (irgendwo nach Aschach, mitten in der Landschaft), seit 1995 Atelier in Linz. Längere Aufenthalte in New York, South Dakota, Mexiko, England und Brasilien. Astrids Arbeiten sind im Besitz öffentlicher und privater Sammlungen, in Österreich und international verstreut. Die Vielfalt ihres Werks ist kaum überschaubar, bis November war etwa in Sao Paulo Neues aus ihrer Serie „Artista Gringa Mix“ über den westlichen Blick auf die
„3. Welt“ zu sehen.
Befragt nach den aktuell gezeigten Arbeiten, erklärt Astrid ihre Faszination für Eis:
Eis ist Naturgewalt. Die Natur als „romantische“ Projektionsfläche für Sehnsüchte steht in der Werbung gern für echtes Erleben. Sie kann schnell vom Zauber zum Schrecken werden und berührt mich in ihrer archaischen Macht. Nun ist Eis Wasser und soll verkauft werden. Es drängt sich die Frage auf, wer glaubt noch wirklich daran, dass dieses globale, „weiße“ Superunternehmen auf einem vielversprechenden Weg ist. Mit einer Alles-ist-machbar-Haltung wird unter aberwitzigem Aufwand in ökologische Systeme eingegriffen, demgegenüber werden gesellschaftliche Rahmenbedingungen ohnmächtig akzeptiert, als seien sie ungestaltbares Naturgesetz. Ich hab aber auch nichts dagegen, die Eisheiligen als Hoffnungspunkt für ein Ende des sozialen Frostes zu sehen, denn Bilder sind vielschichtig und lassen nicht nur eine Interpretationsmöglichkeit zu.
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