Was machen Denkmale, und wer macht sie?
In einem Dorf in Oberösterreich steht mein Name auf einem Kriegerdenkmal. Es ist eine grobe Steinplatte, in den verwitternden Granit sind zwei lange Reihen von Namen eingemeißelt, neben jedem stehen Geburtsjahr, Todesjahr und der Ort des Ablebens. Über den Namenslisten steht, in annähernd doppelt so großen Lettern: Sie starben für unsere Freiheit. Darüber ein Helm aus Stein, gebettet in ein Büschel welkes Laub, wahrscheinlich Eiche. Als Kind kam ich auf dem Weg zur Schule fast jeden Tag an dem Denkmal vorbei. Dass mein Name hier steht, hat mich irritiert. Dass man mir sagte, dass dieser Mann ein Onkel von mir wäre, wenn er noch lebte, hat die Irritation nicht gemindert. Einmal, als zu Allerheiligen viele meiner Verwandten auf den Friedhof gekommen waren, habe ich sie gefragt, warum der Mann, der meinen Namen trägt, an einem Ort für unsere Freiheit gestorben ist, der so weit weg ist, dass mir keiner auf einer Landkarte zeigen konnte, wo dieser Ort ist. Niemand hat mir geantwortet.
Vor kurzem war ich Gast eines Symposions zum Thema Gedenk-Kultur in Potsdam. In zwei Sitzungssälen gingen die Diskussionen hin und her: Was bedeutet Gedenken? Wer macht Denkmale? Was können/sollen sie bewirken? Wie soll man der Vergangenheit gedenken? Und, in Potsdam besonders wichtig: Welcher Vergangenheit soll man gedenken? Beim Symposion selbst und in den Medien war die Bandbreite der Antworten sehr breit. Verwirrend breit. Von Ratschlägen, Ausmaß des Forschens und Registrierens doch einmal zu überdenken, bis zur Forderung nach umfassender Dokumentierung der Vergangenheit reichte die Palette. Die Potsdamer, die in Sachen Gedenken nicht nur die Nazizeit und die DDR abzuarbeiten haben, sondern sich auch noch herumschlagen müssen mit (meist kapitalstarken, aus dem Westen kommenden) Preussen-Nostalgikern wie Günter Jauch, die am liebsten jedes weggebombte oder von der DDR gesprengte Schloss nachbauen möchten, sind möglicherweise nicht die kompetentesten Auskunftspersonen zu diesen Fragen.
Aber wer ist kompetent? Wer legt fest, wie Gedenk-Kultur auszusehen hat? Wer macht die Denkmale? Und wer verschafft sich auf diesem Weg die Deutungshoheit, die Kompetenz zu entscheiden, was und wie über die Vergangenheit berichtet wird? Die Granitplatte mit meinem Namen drauf, welcher der Name meines toten Onkels ist, hat meine Vorstellung von Denkmälern nachhaltig geprägt. Irgendwie verband sich mir damit stets ein vager Beigeschmack von Pathos und Belehrung. Herkömmliches Erinnern via Denkmälern besteht – oder: bestand – ja zu einem Gutteil daraus.
Doch die Gedenk-Kultur hat begonnen, sich zu verändern. Das Pathetische und das Pädagogische verflüchtigen sich. Dies hängt damit zusammen, dass die Arbeit der Erinnerung an den einschneidendsten Bruch in unserer Kultur allmählich von den Kindern der WK-II-Generation auf die Enkel übergeht. Und es hat zu tun mit einer deprimierenden Erfahrung: Die Tatsache, dass immer mehr Jugendliche anlässlich schulischem Geschichtsunterrichts Holocaust-Gedenkorte zu Gesicht bekommen, hat die Verbreitung neonazistischen, rassistischen und xenophoben Gedankenguts unter jungen Menschen nicht verhindert. Ein weiterer gewichtiger Grund: Diejenigen, die Verfolgung noch am eigenen Leib erlebt haben, werden immer weniger. Damit gelangt über kurz oder lang jene Art des Sich-Erinnerns, die mit dem Begriff Zeitzeugenschaft verbunden ist, an ihr Ende.
Um mit dem Grazer Historiker Helmut Konrad zu sprechen: Das Pathos der Aufklärung ist in der Krise, und die Gegenwart, welche ja darüber bestimmt, welche Vergangenheit sichtbar gemacht wird, ist eine andere geworden. Die Gedenkkultur meiner Generation, jener der Töchter und Söhne, war bestimmt von kritischer Auseinandersetzung mit der Generation der Väter und Respekt vor der Generation der Opfer. Die nächste Generation geht anders an die Sache heran, offener, komplexer. In Oberösterreich gibt es aktuelle Beispiele dazu:
Den „Audioweg Gusen“ etwa, eine begehbare Skulptur des Künstlers christoph mayer chm. Besucher des Geländes, auf dem vor Jahrzehnten die Mauthausener Außenlager Gusen I und Gusen II standen, bekommen Kopfhörer und ein Abspielgerät. Während sie das einstige Lagerareal abschreiten, hören sie Stimmen; Stimmen von Überlebenden und von Zeitzeugen, und auch Berichte von Tätern und vom ehemaligen Angehörigen der Wachmannschaften. Die Idee dahinter: Es ist unmöglich, mittels Sehen einen Eindruck vom Grauen des Ortes zu bekommen. Denn an der Stelle der KZ-Baracken stehen heute Einfamilienhäuser. Was dem Sehen nicht gelingt, soll das Hören schaffen. Die Berichte und Erzählungen aus den Kopfhörern machen den Bruch deutlich, der zwischen der heutigen „Normalität“ der Landschaft und ihrer historischen Bürde besteht. Der Audioweg Gusen soll am ersten Mai-Wochenende eröffnet werden. Die „unstimmige Erfahrung“, die er vermittelt, schafft meines Erachtens etwas Wesentliches: Sie vergegenwärtigt nicht nur die Unfassbarkeit des Grauens. Sie thematisiert auch ein anderes Grauen: Jenes, das einen beschleicht, wenn einem klar wird, mit welcher Macht an Orten wie Gusen das Vergessen versucht wurde.
Ein weiteres Projekt mit einem neuen, anderen Zugang zum Gedenken hat in jüngster Vergangenheit die Gemüter in Oberösterreich erregt: „Gefallene Helden“ der Linzer Kunst- und Kulturinitiative qujOchÖ. Die Plettenberg’
schen Reiterstandbilder aus der Nazizeit, die Nibelungenhelden Siegfried, Kriemhild, Gunther, Brunhild darstellend, sollen im Kulturhauptstadtjahr wieder an den Brückenköpfen der Nibelungenbrücke stehen. Allerdings nicht aus Granit oder Marmor gefertigt, sondern in einer Ausführung, welche die Beispiele der NS-Ästhetik innerhalb weniger Monate zerbröseln und damit verschwinden lässt. Vorab-Kritiker haben sich zu Wort gemeldet: Was, wenn die Betrachter die Nazistatuen nicht als kritische Auseinandersetzung sehen, wie von den Initiatoren gedacht, sondern als bloße Bebilderung? Was, wenn Fotos davon um die Welt gehen und Linz eingeholt wird von seinem Kains-Mal, „des Führers Lieblingsstadt“ gewesen zu sein? Ich denke eher, dass Gerhart Marckhgott recht hat, der Leiter des OÖ. Landesarchivs, wenn er sagt: „Die Leute werden aufmerksam, dass es hier etwas zu diskutieren gibt. Das wird wohl niemandem erspart bleiben. Das ist vielleicht die Chance, dass die Historikerstatements wesentlich mehr Gewicht bekommen, wenn sie in eine aktuelle Diskussion eingebettet sind.“
Die Schwierigkeit der Erinnerungsarbeit einer nach dem Holocaust aufgewachsenen Generation ist das dezidierte Thema der Ausstellung „329 km Erinnerung/Absenz“, die seit Jänner im Besucherzentrum der KZ-Gedenkstätte Mauthausen zu sehen ist. Das Projekt der Künstler Alexander Joechl, Hermann Lohninger und Chris Müller macht etwas eigentlich Unvorstellbares, Unfassbares plastisch und fassbar: Eine Menschenkette von 200.000 Personen (das ist die Zahl der im KZ Mauthausen gequälten Menschen) wäre mehr als 300 Kilometer lang, wenn sich die Menschen die Hände reichen. Exakt 329 Kilometer lang ist die Entfernung zwischen dem KZ Mauthausen und dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, wo die Nazis nicht nur ihre Groß-Inszenierungen der Macht veranstalteten, sondern auch mit den Nürnberger Rassegesetzen den Grundstein legten zur Vernichtung anderer.
Noch ein Beispiel für eine Gedenkstätte mit unpathetischem, offenen Zugang, geschaffen von einer jungen Künstler-Generation: Die hörbare Textskulptur „Nachklang-Widerhall“ der Gruppe kult-ex, die am 11. Mai in Leonding eröffnet wird. Vor dem Friedhofseingang steht da eine Bank, flankiert von Stelen, aus einer dieser Stelen ertönen die Stimmen zahlloser österreichischer Autorinnen und Autoren, die sich in ihren Werken mit Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung durch die Nazis und dem Widerstand dagegen befasst haben. Die Gewichtigkeit dieses schlichten Mahnmals geht weit über seine offensichtliche Bedeutung hinaus. Denn es hebt die Bedeutung und Strahlkraft eines anderen Denkmals auf, das sich gleich in der Nähe befindet. Dieses andere Denkmal ist nie formell oder offiziell enthüllt oder eingeweiht worden, es gibt keine Bilder von Gedenkenden, die mit gesenkten Köpfen davor stehen – zumindest keine veröffentlichten Bilder.
Ich spreche vom Grab der Eltern Adolf Hitlers auf dem Leondinger Friedhof. Hier sind anonyme Denkmal-Macher am Werk, seit Jahrzehnten. Sie sorgen dafür, dass sehr regelmäßig frische Blumen auf dem Grabmal liegen. Auf diese Art machen sie aus einer Begräbnisstätte ein Denkmal. Für jene Person der Zeitgeschichte, die an oberster Stelle der Liste jener steht, bei denen sich ein ehrendes Andenken verbietet. Da drängt es sich geradezu auf, dem ein Zeichen entgegen zu setzen. Indem mit der Installation von kult-ex der Opfer gedacht wird, stellt hier jemand den Blumen auf dem Grab der Hitler-Eltern ein Nein entgegen.
Ich persönlich wünsche mir von Denkmalen, dass sie Präsenz bewirken. Die Geschehnisse, die Taten, die Untaten, die Verbrechen sollen präsent bleiben. Und vor allem diejenigen, die es betroffen hat. Die Menschen. Die Opfer. Ich halte beispielsweise die Gestaltung des Raumes vor der Gaskammer in Schloss Hartheim für exemplarisch richtig und wichtig und notwendig. Dort stehen die Namen von zigtausenden Opfern auf Plexiglastafeln. Damit werden die Opfer der NS-Euthanasie, über die man so lange geschwiegen hat, präsent. Wenn man Menschen benennt, wenn man sie namhaft macht, dann bewahrt sie das vor dem Verschwinden.
NACHKLANG – WIDERHALL: Eröffnung: 11. Mai, 14.30 h, Leonding. Viele der beteiligten SchriftstellerInnen werden ihre Textbeiträge zur Klangsäule lesen. Zeitgleich mit der Eröffnung wird eine Doppel-CD mit den Beiträgen der AutorInnen erscheinen, auf der Projektwebsite www.nachklang-widerhall.at werden die Texte hör- und lesbar sein.
AUDIOWEG GUSEN: Eröffnung: 5. Mai ab 14.00 h, Besucherzentrum/Memorial Gusen.
Informationen unter www.audioweg.gusen.org
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