Jenseits von allem?

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Linz wird sich 2009 mit einigen Projekten mit der NS-Vergangenheit der Stadt beschäftigen. Das von Linz09 ins Leben gerufene 1-tägige Symposium „Jenseits von Geschichte“ setzte sich Anfang Mai mit Praxen auseinander, die sich auch außerhalb der Geschichtswissenschaften mit dem schweren Erbe auseinandersetzen mochten.

Das Bedürfnis, jenseits der Grenzen von Geschichtswissenschaften zu agieren, kommt aus dem Umstand, dass Linz seine NS-Vergangenheit von wis­sen­­schaftlich-historischer Seite gut aufgearbeitet hat, allerdings diese Fak­ten nicht wirklich ins Bewusstsein der Stadt und seiner BewohnerInnen durch­gedrungen scheint. Andererseits wahrscheinlich auch daraus, um den Eröff­nungs­redner Cohn-Bendit zu zitieren, der das „Projekt Europa“ als prak­tizierte Kooperation und Antwort auf die totalitären Systeme des Nati­o­nal­sozia­lis­mus, Faschismus und Stalinismus erläuterte, dieses „Projekt Eu­ropa“ sehr ge­eignet ist, um den Gedanken des geeinten wirtschaftlich-kulturellen Europas auch auf Kulturhauptstadtebene zu unterstreichen. Ge­rade im Umgang mit einem Thema, das laut Cohn-Bendit „ein Problem der Menschheit“ sei. Frei und kulturhauptstadtkompatibel übersetzt bedeutet dies wahrscheinlich „Kul­tur und Problem für alle“. Die Veranstaltung „Jen­seits von Geschichte“ wurde in vier Symposiumsschwerpunkten „Gedenk­stät­ten“, „Wissenschaften“, „Kunst“ und „Geschichte“ abgehandelt, mit vier Ex­pertInnen und jeweils zwei, exkurshistorischen Gästen zum jeweiligen Thema. Am Abend gab’s eine Podiumsdiskussion, die die ExpertInnen wieder in den Geschichtswissenschaften vereinte.

Jenseits von Geschich­te:
Umgang mit dem NS-Erbe zwischen Schuld und Touris­mus

Am Ende des Tages wurden die wichtigsten Punkte der 4 Panels noch einmal zusammenge­fasst: Michael John, Birgit Kirchmayr, beide vom Institut für Zeitgeschichte der Uni­ver­sität Linz, Bertrand Perz, Institut für Zeitgeschichte an der Uni Wien und Hazel Rosen­strauch, Berliner Autorin und Wissenschafterin legten dabei auch offen gebliebene Fragen dar:
Ist es vertretbar, wenn Gedenkstätten wie Mauthausen als Eventstätten kurzfristige Auf­merk­samkeit erlangen? Führt dies letztendlich zu einer Banalisierung? Wie kann die Fülle an vorhandenem Bild- und Filmmaterial so aufbereitet werden, dass es einen Bezug zur Ge­genwart gibt? Was tun angesichts der Tatsache, dass es kaum mehr ZeitzeugInnen gibt? Warum hat man sich eigentlich nie bemüht, emigrierte ZeitzeugInnen zurückzuführen?
Hat dies möglicherweise mit der sich hartnäckig in den Köpfen haltenden Opferthese zu tun?

Leider blieben diese Fragen weitgehendst undiskutiert im Raum stehen.

Festgestellt wurde ein genereller Aufholbedarf in der Schuldfrage in Österreich und auch speziell in Linz. Einigkeit herrschte auch in der Kritik an den Medien, die ihren Auf­klä­rungs­auf­trag ungenügend wahrnehmen.
Offen blieb auch die eigentliche Frage der Podiumsdiskussion, nämlich welche Aspekte jenseits der Geschichtswissenschaft diese Aufarbeitung möglich machen können.

Von einigen persönlichen Wortmeldungen zum Thema abgesehen, wurde die Gelegenheit von den Anwesenden auch für Wünsche an und Kritik am Linz09 Team genützt, was der stellvertretende Intendant Ulrich Fuchs letztendlich mit einer Einladung beantwortete:
Die Ausstellung „Kulturhauptstadt des Führers“ wird ab September im Schlossmuseum Ein­blick geben in die Kulturpolitik des Nationalsozialismus und deren Spuren und erneut die Frage nach dem Umgang mit dem Erbe stellen.
 

SpotsZ widmet sich hier dem Panel Wissenschaften: Hazel Rosenstrauch hatte die Gast­red­ner­In­nen Werner Vogt, Medizingeschichtler und Arzt, und Ute Woltron, Archi­tek­tur­kri­ti­ker­in, am Tisch. Fragestellung war, wie mit dem „Wissen“, bzw. den „Plänen“ um­ge­gangen wird, die auf den Na­tionalsozialismus zurückgehen.

Im Pogrammtext plakativ gestellte Frage war, wie mit dem unter grausamsten Bedingungen „erforschten“ Medizinwissen umgegangen wird: „Können Ergebnisse dieser Forschung heu­te zum Wohle der PatientInnen verwendet werden?“. Eine derartig ungustiöse Frage, dass in diesem Zusammenhang das Wort „können“ und auch das politisch korrekt gesetzte Bin­nen-I zum Hohn werden. Werner Vogt beantwortete zu einem späteren Zeitpunkt seines Vor­trages, dass ihm keine einzige medizinische Forschung aus der Zeit des National­sozi­a­lis­mus bekannt ist, die relevante Auswirkungen auf die Wissenschaft gehabt hätte, das sei „alles nutzlos gewesen, weil diletantisch“ gemacht. Es gebe nur eine relevante Forschung, die von einem inhaftierten Mediziner gemacht wurde. Er sollte im Auftrag der Nazis einen Typ­husimpfstoff entwickeln (er gab lediglich ein Plazebo an die Nazis heraus). Es bleibt die un­beschreibliche Selbst­verständ­lich­keit, mit der unter wissen­schaftlichem Deck­mäntel­chen gemordet wurde. Vogt berichtete von den Schwierigkeiten der Aufarbeitung, den zeitgeschichtlichen Lücken und von erschrec­kenden Kontinuitäten: Nach 45 kam es zur Fort­führung aller wichtigen Personen und Insti­tu­ti­onen, in entsetzlicher und exemplarischer Uni­on in Gestalt des „Kinderpsychiaters“ Grosz, der den Spiegelgrund bis zu sei­ner juristi­schen Nichtverhandlungsfähigkeit als unbescholtener Mann lei­tete. Ihm konnten seine Ver­brechen, „Tötungsdelikte an Geisteskranken“, nicht zu­letzt deshalb juristisch nachgewiesen werden, weil ein Überlebender von Grosz gefunden wur­de, der aufgrund eines von Grosz weiterzitierten NS-Gutachtens noch immer, seit 28 Jahren, im Gefängnis Stein saß. Dass es „zu viele Kontinuitäten, zu wenig Brüche“ gebe, was die wissenschaftliche Wei­terführung eines kollektiven Denkstils anbelangt, mit dem Denkstil der NS-Zeit und auch mit der Zeit davor, erläuterte Vogt in weiteren Ausführungen – mit der Infragestellung eines wirklichen Paradig­men­wechsel in der Medizin, was etwa sozialmedizinische Projekte anbelangt, mit den Faktoren Ökonomie und Bevormundung, die immer noch wesentliche Be­stand­teile der medizinischen Behandlung sind.

Ute Woltron war mit der Fragestellung konfrontiert, ob die Stadtplanung „mit dem NS-Erbe umgehen muss“ und beantwortete dies mit „Ja, selbstver­ständlich“. Die Architektur sei eine „Res Publica“, der Umgang, bzw. Nicht-Umgang mit Gebäuden wie dem Flagturm in Wien be­zeich­nend. Gerade die Architektur gebe ein markantes und sichtbares Bild ab, bietet auch in ihrer Erhaltung die „meiste Information“, was auch einen denkmalpflegerischen Um­gang mit den vielen Bauspuren nahe legt. Dass konkrete Stadtplanung (auch in Linz etwa die Standorte Schloss, Musiktheater) ursprünglich mit Na­ziplänen zu tun hat, relativiert Woltron. Überschätzt und unoriginär ha­ben die Nazis auf schon Bestehendes zurückgegriffen und dies für ihre Zwec­ke ideologisiert fortgesetzt, was polarisiert gesprochen einerseits den Wohn­bau als Fort­set­zung der Gartenbauidylle entstehen hat lassen, andererseits eine riesen- und zitathafte Ein­schüch­terungsarchitektur produzierte. Man müsse über die Geschichte Bescheid wissen und im Einzelfall prüfen, wie mit dem Erbe umgegangen wird. Kontinuitäten sind insofern auch festzustellen, als dass sich Architektur „immer schon im Büttel der Macht“ abspiele. Gegenwärtig sind die Großprojekte in Asien zu verorten – menschenunwürdige Arbeitsumstände werden ganz allein von der Ideologie des globalen Kapitals und des maßlosen Strebens in die Höhe zustande gebracht. Das Schreck­liche spielt sich nie jenseits von allem ab, sondern immer im Zuge einer alles infiltrierenden Ideologie – von Kontinuitäten, die zuallererst immer von Übermacht getragen sind.

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