„Fußball ist unser Leben ...“

Annäherungen an das Phänomen Fußball, Reflexionen und Tipps, um dem Herzinfarkt während der Fußball-EM zu entgehen.

In wenigen Tagen kann es losgehen. So mancher Son­derurlaub ist genehmigt, Gastronomie und Ho­teliers sind bereit, das Großaufgebot der Poli­zei ent­sprechend instruiert. Spieler wie Chris­tiano Ronaldo oder Frank Ribery verzaubern und ziehen mit ihren Tricks Massen in den Stadien und vor den TV-Geräten in ihren Bann. Jeder, der einmal die Atmosphäre eines besonderen Spiels er­lebt hat, weiß Bescheid um die Be­deu­tung einzelner „Sternstunden“.  

Einer der grundsätzlich an Fußball interessiert ist, stellt sich dennoch manche Fragen: Was fasziniert so an diesem Sport, dass für viele kurzzeitig das persönliche Glück scheinbar nur vom Ab­schnei­­den diverser Mannschaften abhängt?
Wie kann ein Spiel so begeistern, dass Klima­wan­del, steigender Ölpreis, Arbeitsplatz, Beziehungen und alles andere, was sonst den Alltag prägt, ru­hig bis zum Ende der Meisterschaft warten kann?
Geht es wirklich nur um „die wichtigste Ne­ben­sa­che der Welt“ um dem Alltag für einige Zeit zu ent­­fliehen oder doch um mehr?

Fußball hat wesentlich mit unseren ureigenen Träu­­men und Sehnsüchten zu tun, mit Ängsten und Überlastungen, mit „runden“ und „eckigen“ Le­bensbereichen. Es ist Projektion und Therapie zugleich. Sieg und Niederlage – scheinbar das ent­scheidende Klassifizierungskriterium unserer Zeit – werden auf der Bühne (Fußballfeld) für 90 Mi­nuten zelebriert. Fußball als eine perfekt inszenierte Show mit meist offenem Ausgang. Na­tür­lich spielt sich dieses Spannungsfeld genauso im Innersten des Betrachters ab und bietet ihm im bes­ten Fall Strategien an, die er im Alltag wieder einsetzen kann.
Die Regeln sind begrenzt und überschaubar. Fouls werden gesehen und geahndet. Bei Ungerech­tig­kei­ten tröstet man sich mit klaren Schuld­zuwei­sungen („der Schiedsrichter ist ein Blindgän­ger“/
„Schiebung“ ...). Im wirklichen Leben ist die Rechts­lage viel komplexer und Rechtssprechung meist ein langer Prozess.

Fußball ist vor allem ein Teamsport, wobei einzel­ne Ausnahmekönner dem Ganzen eine besondere Würze geben. Wenn Menschen scheinbar diese Idole und Helden brauchen, um ihrem Wunsch nach Identifikation, Verehrung und Anbetung zu erfüllen, so hat Fußball eine Art sakralen Cha­rak­ter. Die Organisatoren und Medien wissen um die Schwierigkeit politischer oder kirchlicher Institu­tionen „ihre Botschaft gut rüberzubringen“ Be­scheid und sie verstehen es gleichzeitig, deren Stärken für den eigenen Bereich zu nützen. Mo­der­ne Stadien werden schon bei der Planung als Kultorte konzipiert und drängen sich manchmal wirklich als Wahrzeichen einer Stadt auf. Wäh­rend die einen nach neuen Kultformen förmlich rufen, verstehen es andere ganz einfach daraus ein gutes Geschäft zu machen.

Fußball bietet aber auch in einer Zeit der Ver­ein­zelung und emotionalen Vereisung für eine be­grenzte Zeit einen grandiosen Gegenentwurf zu ge­sellschaftlichen Verengungen. Unverbindlich im Erscheinungsbild finden hier – quer durch alle so­zialen Schichten und sonstigen Trennlinien – „Verbrüderungen“ statt, was sowohl dem subtilen Wunsch nach Gemeinschaft entgegenkommt, als auch dem nach Abgrenzung.
Dass dieses Phänomen viel mehr Männer als Frau­­en bewegt, hat vielleicht auch etwas zu tun mit den größeren Gefährdungen der Männerwelt für emotionales Vakuum und Individuali­sie­rungs­prozesse. Die Fußballwelt öffnet hier ein wunderbares Ventil, um „nachzukommen“.

Was macht ein Nicht-Fan, der von diesem Phä­no­men ja umgekehrt betroffen ist, in dieser kommenden Zeit der sozialen Isolation? Ausgedehnte Spaziergänge im botanischen Garten, den Stapel ohnehin nicht gelesener Bücher in Angriff nehmen oder sich ganz einfach nur wundern? Wun­dern darüber, wenn das „Spiel“ zu weit geht und seine Bedeutung eine unverständliche Größe er­reicht. Wenn im Eifer des Gefechts das eigene Le­ben aufs Spiel gesetzt wird, wie unlängst, als ein herzkranker Mann von seiner Frau nicht oft ge­nug ermahnt werden konnte genügend Beru­hi­gungs­mittel und Herztabletten einzunehmen.
Aber wundern kann man sich über vieles in un­se­rer Welt.

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