Steinchen für Steinchen

Ein Gespräch mit der 86-jährigen Schriftstellerin Irmgard Perfahl über Antworten und Fragen, Wahrheit, Ideale, Feminismus, Feigheit, ihr Hauptwerk „Mosaik“, einem Roman in 83 Teilstücken, und über die Möglichkeit, in 86 Jahren weise zu werden.

Mosaik ist ein Buch ohne Anfang und ohne Ende. Ein Steinchen für Stein­chen. Gibt es einen roten Fa­den?
Den Faden habe ich mir aus der Chaostheorie ge­zogen. Aus dem Chaos entsteht Ordnung und aus der Ordnung entsteht wieder Chaos. Möglicher­wei­­­se ist die Schöpfung eine Ordnung, die im Cha­os versinkt, aus der wieder eine Ordnung entsteht. Vielleicht ist die Welt also schon mehrmals ent­stan­­den, weil sie schon mehrmals untergegangen ist. Aber das ist letztlich ne­ben­sächlich, denn den Weg bis zur Vollendung gibts ohnehin nicht.

Ist das Vollendete ein Bedürfnis?
In „Mosaik“ steht die Farbe Gold für das Ideale. Kinder haben eine starke Be­ziehung zu Gold. Wo­her kommt das? Ich weiß es nicht. Die Verehrung für Gold ist etwas so Urtümliches, dass sie nicht er­klärbar ist. Wahrscheinlich ist sie angeboren. Die Sehnsucht nach dem Ideal besteht und ist ein­fach da, zeichnet das Menschsein aus.

„Mosaik“ ist ein Buch aus Fragmenten. Es wird kei­ne Geschichte erzählt, viel­mehr ist es eine Dar­stellung vom Denken in Bruchstücken. Und am Schluss des Buches gibts ein Register, das zwischen all diesen Teilen Ord­nung schafft.
Heutzutage ist das Wissen dermaßen umfangreich geworden, dass All­ge­mein­bildung, wie man sie noch vor wenigen Jahrzehnten gefordert hat, nicht mehr möglich ist. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist. Aber diesen Zustand, nur mehr fragmentarisch denken und überblicken zu können, das sollte in „Mosaik“ schon auch dargestellt werden. Wir wissen zu genau, dass die Wissen­schaft in fünf Jahren etwas ganz anderes behaupten kann als heute. Eine allgemeine Skepsis hat sich breitgemacht. Die Ord­nung, der Rahmen ist aber doch ein Bedürfnis. Sonst wird man unsicher. Aber diese Ordnung kann jeder immer nur für sich selbst herstellen.

In „Mosaik“ gibt es kaum einen Behauptungssatz, der nicht gleich wieder durch eine Frage relativiert wird. Was stimmt – stimmen könnte – bleibt im­mer dahingestellt.
Wie stellt man sich zu den Fragen? Alles ist fraglich. Antworten können im­mer falsch sein. Wie kommt man zu Antworten? Man kann nichts ge­gen Fra­gen und wenig für Antworten tun. Also fin­det man sich mit dem bruchstückhaften Wis­sen ab, oder man leidet ewig darunter. Aber darunter zu leiden ist überflüssig.

Ein Steinchen im „Mosaik“ befasst sich mit Scho­penhauers „Die Welt als Wil­le und Vorstellung“. Aber das Werk scheint sie weniger zu interessieren als dessen Überschrift, die Sie über Seiten spie­lerisch zerpflücken.
„Die Welt als Wille und Vorstellung.“ Der Titel klingt doch vielversprechend! Mich hat das Buch selbst ehrlich gesagt nicht sonderlich beeindruckt. Aber dass es diesen Titel gibt, rechtfertigt das ganze Buch. Ich muss dazu sagen: Das ist nicht unbedingt mein genereller Umgang mit Phi­lo­so­phen. Wenn ich lese, lese ich zumeist sehr dis­­zipliniert. Für mich war die Philosophie immer wichtig, schon allein deshalb, weil ich sie als Im­puls für mein eigenes Schreiben gebraucht habe.

Gibt es Sätze, die für sie Gültigkeit haben?
Ja, Wittgenstein: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ Dieser Satz ist richtig, man kann ihn nicht wi­der­le­gen. Im Grunde sagt er aber gar nichts. Viel­­leicht obwohl – oder vielleicht weil er so richtig ist.

Ist „Mosaik“ nicht ein ähnlich vielversprechendes Wort?
Ich würde es so nennen: Als Titel meines Buches ist es ein Versuch, ein Pro­blem zu lösen. Das Pro­blem nämlich, dass eine Erzählung nur im Nach­ei­nan­der funktioniert. Ein Bild, zum Beispiel, ein Gemälde, kann mehrere Din­ge zugleich darstellen. Das war für mich immer ein Problem: Man kann Gleichzeitigkeit nicht erzählen. In der Vor­stel­lung ist „Mosaik“ ein Gemälde. Et­was Zweidi­men­sionales. Das war für mich die Lö­sung des Pro­blems. Natürlich nur in meiner Vor­stellung.

Ist es möglich, „Mosaik“ in der Mitte aufzuschlagen und zu lesen?
Naja, besser wär’s schon, man liest es vom An­fang bis zum Ende.

Warum?
Es gibt zwar keine Entwicklung im Buch, es ist ja kein Bildungsroman. Es ist ein Zeitgemälde. Aber es will Beziehungen herstellen. Die Figuren im Buch haben Beziehungen.

Sind die Beziehungen der Figuren im Buch Freund­schaften?
Ja, das sind sie. Die Menschen beschäftigen sich miteinander. Wenn auch immer auf die eine oder andere Art unwirklich. Und gerade das halte ich für realistisch.

Sind solche Beziehungen als innig möglich?
Ja. Aber nicht auf Dauer.

Ist Liebe eine Augenblickserfahrung?
Ich glaube, die wahre Liebe ist doch etwas, das dau­ert. Alles andere ist vergänglich.

Sollte man sich mit dem Vergänglichen abfinden?
Das Anerkennen von Tatsachen, die man nicht än­dern kann, ist eine In­tel­li­genzfrage. Aber bitte. Ob das jetzt stimmt, ist fraglich.

Das Denken in „Mosaik“ ist wie ein Hin- und Her­lau­fen zwischen den Fi­gu­ren. Es gibt kaum Mono­lo­ge. Wie wichtig ist Ihnen das Ich? Das Du? Das Wir?
Ich bin kein ich-bezogener Mensch, mich interessiert die Welt.
Eine Frau, eine Feministin – ich bin nämlich kei­ne Feministin, das möchte ich dazusagen – hat mir gegenüber einmal behauptet, dass Frauen im­mer vom „Wir“ reden und die Männer immer vom „Ich“. Mir ist das genaue Ge­genteil aufgefallen: Die Frauen reden immer vom „Ich“ und die Män­ner vom „Wir“. Nun behaupte ich nicht, der Femi­nistin gegenüber Recht zu haben, aber es zeigt sehr gut, wie sehr die Einstellung, die man der Welt gegenüber hat, die eigene Erkenntnis von der Welt trügt, nicht?

Hatten sie nie das Gefühl, es als Frau etwa im literarischen Betrieb schwerer zu haben als Männer?
Nein, so hab ich nie gedacht. Wenn ich mich nicht durchgesetzt habe, dann we­gen meiner ei­ge­nen Un­­fähigkeit. Mit meinem Frausein hat das nichts zu tun.

Gibt es so etwas wie weibliches Schreiben?
Nein, Quatsch. Es gibt Kunst und Dinge, die keine Kunst sind. Bewusstsein für geschlechtliche Iden­ti­täten halte ich da nicht für relevant.
Ich bestreite ja nicht, dass es einen Unterschied zwi­schen dem Männlichen und dem Weiblichen gibt. Aber das ist nichts, auf das ich mich verstei­fen will. Daraus will ich kein Programm machen. Ich würde jetzt nicht sagen, dass Kunst ungeschlechtlich ist. Aber letztlich ist Kunst ein Be­griff, dem man in seinem Anspruch entspricht oder eben nicht. Doris Dörrie hat einmal in einem Interview gesagt: „Wir Frauen wollen nicht in den Olymp. Wir wollen den Menschen Freude ma­chen.“ Da hab ich mich gefragt: Wie kommt sie da­zu, mich mit diesem „Wir“ zu vereinnahmen?
Ich will in den Olymp! Gut, ich habs nicht ge­schafft, aber es war mein Ehr­geiz. (lacht).

Sind Lebensituationen der Menschen nicht unterschiedlich und oft ungerecht?
Ja, aber werden Männer nicht auch unterdrückt?

Im Mosaik gibt’s aber ein Kapitel, das sich mit dem Thema auseinandersetzt. Die Frauen, die klei­ner gewachsen sind als die Männer und darum auf die Män­ner hinaufblicken müssen.
Vielleicht klingt das feministisch, aber ich habs nicht so gemeint. Es ist eine Beobachtung, eine Fest­stellung.

… die bei mir in ihrer Einfachheit ironisch angekommen ist. Ist Ihnen Ironie wichtig?
Nein, nicht beim Schreiben und auch nicht als Le­benshaltung. Aber Ironie hilft manchmal, die Din­ge besser ausdrücken zu können. Ironie ist auch ein Behelf, um die Ungenauigkeit des Wis­sens of­fenzulegen. Aber Ironie ist kei­ne Kunst an sich.

Ist Melancholie eine Lebenseinstellung?
Nicht meine. Ich bin positiv. Mir wird immer ger­ne attestiert, ich sei wohlwollend. Das ist einer meiner positiven Wesenszüge.

Ist „wohlwollend“ nicht auch schon wieder ein ironieverdächtiges Wort? Also wenn jemand Sie für wohl­­wollend hält, empfinden Sie das als Kompli­ment?
Naja, ich kann mir schon vorstellen, dass jemand das ironisch meint. Aber ich selbst empfinde mich eher als wohlwollend, denn als übelwollend. Aber ich will hier nicht meine positiven Charak­ter­ei­gen­schaften unterstreichen. Ich hab 30.000 Feh­ler, und mein größter Fehler ist, dass ich feige bin.

Aber andererseits braucht es doch sehr viel Mut, um von sich zu behaupten: Ich bin feige.
Finden Sie?

Schwäche zu zeigen braucht doch erst Mal Stär­ke?
Ich behaupte meine Feigheit auch erst seit rund 20 Jahren. Empfunden ha­be ich das aber immer. Nur war ich früher eben zu feige, um das zuzugeben. Also insofern haben Sie schon recht. Irgend­wann bin ich mutig genug ge­wor­den, um mir mei­ne Feigheit einzugestehen. Sagen will ich: Ich hal­te mich nicht für den idealen Menschen und ich kann mir den idealen Men­schen auch nicht vorstellen. Aber das ist ja auch nichts, worüber man verzweifeln müsste.

Sie leben schon sehr lange, wenn ich das so sagen darf. Ich bin 41. Als ich auf die Welt gekommen bin, waren sie 45 Jahre alt. Haben Sie das Gefühl, viel erlebt zu haben?
Sie machen sich keine Vorstellung davon, wie viel ich erlebt habe.

Welches Jahrzehnt war das Beste?
Ich kann das jetzt gar nicht mit den geschichtliche Ereignissen in einem Zusammenhang sehen. Für mich war die Zeit zwischen meinem 50. und 60. Lebensjahr die beste. Da war ich noch kräftig, hatte schon viel Erfahrung und sehr gute Be­zie­hun­gen mit Menschen. Mit 50 nähert man sich doch einem sehr bewussten Mensch-Sein. Mit 50 hab ich begonnen, Verständnis für die Welt zu ent­wickeln.

Irmgard Perfahl, geb. 1921 in Birkfeld. Germanistik­stu­dium. Erste schriftstellerische Ar­bei­ten in den 50er Jah­ren; zwei Literaturpreise: Kulturförderungspreis der OÖ Lan­des­regie­rung; Theodor Körner Preis.
Wichtigste Veröffentlichungen:
Guten Tag Freiheit; Schwar­zes Lächeln Senegal; Mosaik; Eukalyptus, was flüsterst du.

Lesung: (voraussichtlich) 22.5.07, Buchhandlung „seitenreich“, Bürgerstr. 34
Veranstalter: Karl-Heinz Wagner, der das Geschäft seit Juni 2004 führt und mittlerweile monatlich Lesungen veranstaltet. „Leider und freilich nicht um reich zu werden“, wie er meint, sondern um zwischen Büchern, Autoren, Le­sern und ihm selbst, dem Buchhändler, stille, symbiotische Abende zu feiern.

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05/07
FotoautorInnen: 
Reinhard Winkler

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