Tanz die Erkenntnistheorie
Dabei ist die wissenschaftlich-tänzerische Analyse keinesfalls verkopft oder kommt sonst irgendwie unmittelbar oder wissend daher, sondern ganz im Gegenteil: Die Show ist hochdynamisch und virtuos, ganz so wie es im Programmtext zur Aufführung heißt: „Zehn hypergeschmeidige Tänzerinnen und Tänzer bewegen sich souverän durch das leidenschaftliche und viszerale choreographische Repertoire“. Tatsächlich ist das auch so, was aber in einem Bereich der zeitgenössischen Tanzsprachen an sich noch nichts Spezielles wäre: Besonders im US-amerikanischen Tanz werden Technik und Dynamik ganz selbstverständlich in ungeahnte Höhen geschraubt, bis hin zu Grenzen, die bereits zur vorletzten Jahrhundertwende die physisch-zirzensische Ausbeutung des Körpers durch den klassischen Tanzes hin zu einem neuen Tanz, dem Ausdruckstanz führte. Was aber ist das Spezielle an dem vielfach preisgekrönten Tanzschöpfer, der „körperlich herausfordernde und bahnbrechende Crossover-Kollaborationen“ auf die Bühne stellt? Wayne McGregor erweist dem klassischen Tanz eine zweite Referenz, indem er ganz darauf setzt, was den klassischen Tanz, trotz aller vorgeschobenen Romantik, ursprünglich ausmachte: Nämlich eine nach vorne ausgerichtete Geometrie der Gliedmaßen, eine Körperachse, auf der der Kopf ganz eindeutig über dem Körper thront und insgesamt ein Streben „in die Höhe“, also alles in allem eine Stellungnahme, die ganz eindeutig das Kopfwissen über die Körperwahrheit dominieren lässt – auch wenn der Choreograph diese Grundhaltungen in alle Richtungen und Achsen transformiert, dynamisiert und mit anderen zeitgenössischen Techniken vermischt, in eine einfallsreiche wie ebenso kreatürliche Tanzsprache verwandelt. Diese Referenz auf die ganz klassische Erhabenheit des Geistes, die ja bereits im Spitzentanz den Kopf symbolisch in die Höhe gehoben hat, spiegelt sich möglicherweise aber in McGregors Absicht wieder, sich nicht nur in lichte Höhen, sondern mit Wissenschaftlern direkt in die Köpfe hinein zu begeben, ins Zentrum der Erkenntnis. Um wie etwa bei diesem Stück mit „sechs international anerkannten Erkenntnistheoretikern und Technologen der Universität Cambrige, sowie anderer hochkarätiger Institutionen“ zusammenzuarbeiten. Und klar ist, dass die Auseinandersetzung mit dieser Seite der Hirnmaterie höchstens als Wissen durch die Tänzerkörper hindurchfließt, zur „Erfahrung“ wird, als dass es konkret dargestellt werden kann.
Wissenschaft und Bewegung vereinen sich aber nicht nur zu einer eigenen Tanzsprache, sie bilden auch das Thema des Stückes, das mit der historischen Bewegungsstudie eines laufenden Hundes beginnt. Es ist anzunehmen, dass es sich bei dem projizierten Hund um eine Bewegungsschleife von Eadweard Muybridge handelt, der bereits um 1870 die ersten wissenschaftlichen Fotografien über Bewegungsabläufe schuf. Darüberhinaus entwickelte Muybridge eine Aufnahmetechnik und Apparatur, die als Chronographie eine filmtechnische Revolution darstellte. Fotografien wurden in bewegte Bilder verwandelt und damit das Zeitalter des Films eingeleitet: “He is the man who split the second, as dramatic and far-reaching an action as the splitting of the atom”, so seine Biografin. Mit dieser körperlich-wissenschaftlichen Einleitung des bewegten Bildes beginnt das Stück, betreten die Tänzer die Bühne. In knappen und schlichten Kostümen entfalten sie selbst das Bild einer wissenschaftlichen Versuchsanordnung, können wie unter einem Mikroskop in einer Petrischale in ihrem Tun beobachtet werden, möglicherweise als biologische Entsprechungen von Zellen, Synapsen, Nervenübertragungen. Sie werden und vergehen zu geschlechtsneutralen bis androgynen Pas de Deuxs, bilden Gruppensequenzen, Gruppenszenen, in der menschliche Hybride gleich Molekularketten und kristallinen Konstrukten verharren, sich entwickeln und wieder in sich selbst zerfallen – um dann das eigene Ding inmitten der anderen zu machen. Schlüsselszene ist ein Pas de Trois, eine Dreierkonstellation von zwei Männern und einer Frau. Sie versucht sich äußerst vital der Kontrolle zu entziehen, wird aber doch immer in ein System der Starre und der Beobachtung zurückgedrängt: Bedrohlich, dass es um die Mechanismen des Lebens und nicht um das Leben selbst gehen soll.
Ein länglicher Bildschirm erhebt sich wie ein gigantisch wissenschaftliches Gerät vom Boden, bildhaften Assoziationen von „Wissenschaftlichkeit“ fließen ins Bühnenbild. Gezeigt werden Flüssigkeiten, Linien, Strukturen, Ornamente, Körperteile, Räume, mathematische Formeln und Zahlenreihen, die sich am Höhepunkt der Beschleunigung in einen Vogelschwarm zerstreuen. Sie kommen als geometrische Muster, als auf den Boden projizierte Spiralformen und Schwingungskurven wieder. Die Körper verharren darin, vermessen den Raum, frieren zwischendurch wieder ein, Bewegung wird in Etappen zerlegt. Das Agens, die Nährlösung, die das alles antreibt, ist die Versuchsanordnung selbst – und die Musik. Beide Teile des Abends, der erste stammt von Nico Muhly und wurde vom Navarra Quartett interpretiert, der zweite Teil von John Hopkins, unterstreichen eine Art Dialektik von Wissenschaft und Gefühl: Im ersten Teil sind die Streicher von fragmentierten Feedbacks unterlegt, im zweiten Teil der elektronische Sound von einschmeichelnden Klavierklängen begleitet. Das, was in dieser Art über weite Strecken von „Entity“ angelegt ist, scheint gegen Ende hyperaktiv und brachial zu werden. Ein Reigen der toten Materie beginnt, der den Prozess der Verwissenschaftlichung mit allen Verlusten selbst zum Thema haben könnte: Brilliant, aber tot, hochdynamisch, aber seelenlos.
Zeitgenössischer Tanz spielt sich ganz generell zwischen zwei Polen ab: Am einen Ende wird der Tanz beinahe bis zu seiner Abschaffung transformiert, Identität, Sprache und Einschreibungen sind hier die heißen Themen der Stunde. Am anderen Ende – wie hier – wird Körpertechnik bis hin zur bereits oben erwähnten „physisch-zirzensischen“ Höchstleistung zelebriert. Es scheint so, als dass der Körper als Materie mit faszinierendem High-Tech-Charakter ausgestellt wird. Genau darin scheint sich aber Kritik zu manifestieren. Am Schluss des Stückes wird das Bild des laufenden Hundes nochmals projiziert, es schließt sich der Kreis mit dem nun übergroßen Bild: Aber das was zu Beginn faszinierend dynamisch daherkam, erscheint am Ende mechanisch, wie eine Maschine ohne Seele, ohne Leben, schön, abgehetzt, ausgeforscht.
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