Tanz die Erkenntnistheorie

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Im September gastierte im Rahmen des Brucknerfestes die renommierte britische Tanzkompanie „Random Dance“ mit dem Stück „Entity“ im Posthof. Das Stück behandelte auf mehreren Tanzebenen eine Kontroverse von Wissenschaft und Körper, von Beobachtung und Dynamik.

Dabei ist die wissenschaftlich-tänzerische Analyse keinesfalls verkopft oder kommt sonst irgendwie unmittelbar oder wissend daher, sondern ganz im Gegenteil: Die Show ist hochdynamisch und virtuos, ganz so wie es im Pro­gramm­text zur Aufführung heißt: „Zehn hypergeschmeidige Tänzerinnen und Tänzer bewegen sich souverän durch das leidenschaftliche und viszerale cho­reographische Repertoire“. Tatsächlich ist das auch so, was aber in einem Be­­reich der zeitgenössischen Tanzsprachen an sich noch nichts Spezielles wä­re: Besonders im US-amerikanischen Tanz werden Technik und Dynamik ganz selbstverständlich in ungeahnte Höhen geschraubt, bis hin zu Gren­zen, die bereits zur vorletzten Jahrhundertwende die physisch-zirzensische Aus­beu­tung des Körpers durch den klassischen Tanzes hin zu einem neuen Tanz, dem Ausdruckstanz führte. Was aber ist das Spezielle an dem vielfach preisgekrönten Tanzschöpfer, der „körperlich herausfordernde und bahnbre­chende Crossover-Kollaborationen“ auf die Bühne stellt? Wayne McGregor er­­­weist dem klassischen Tanz eine zweite Referenz, indem er ganz darauf setzt, was den klassischen Tanz, trotz aller vorgeschobenen Romantik, ur­sprüng­lich ausmachte: Nämlich eine nach vorne ausgerichtete Geometrie der Gliedmaßen, eine Körperachse, auf der der Kopf ganz eindeutig über dem Körper thront und insgesamt ein Streben „in die Höhe“, also alles in al­lem eine Stellungnahme, die ganz eindeutig das Kopfwissen über die Kör­perwahrheit dominieren lässt – auch wenn der Choreograph diese Grund­hal­tungen in alle Richtungen und Achsen transformiert, dynamisiert und mit anderen zeitgenössischen Techniken vermischt, in eine einfallsreiche wie ebenso kreatürliche Tanzsprache verwandelt. Diese Referenz auf die ganz klassische Erhabenheit des Geistes, die ja bereits im Spitzentanz den Kopf symbolisch in die Höhe gehoben hat, spiegelt sich möglicherweise aber in McGregors Absicht wieder, sich nicht nur in lichte Höhen, sondern mit Wissenschaftlern direkt in die Köpfe hinein zu begeben, ins Zentrum der Erkenntnis. Um wie etwa bei diesem Stück mit „sechs international an­er­kannten Erkenntnistheoretikern und Technologen der Universität Cam­brige, sowie anderer hochkarätiger Institutionen“ zusammenzuarbeiten. Und klar ist, dass die Auseinandersetzung mit dieser Seite der Hirnmaterie höchstens als Wissen durch die Tänzerkörper hindurchfließt, zur „Erfahrung“ wird, als dass es konkret dargestellt werden kann.

Wissenschaft und Bewegung vereinen sich aber nicht nur zu einer eigenen Tanzsprache, sie bilden auch das Thema des Stückes, das mit der historischen Bewegungsstudie eines laufenden Hundes beginnt. Es ist anzunehmen, dass es sich bei dem projizierten Hund um eine Bewegungsschleife von Ead­weard Muybridge handelt, der bereits um 1870 die ersten wissenschaftli­chen Fotografien über Bewegungsabläufe schuf. Darüberhinaus entwickelte Muybridge eine Aufnahmetechnik und Apparatur, die als Chro­nographie eine filmtechnische Revolution darstellte. Fotografien wurden in bewegte Bil­­der verwandelt und damit das Zeitalter des Films eingeleitet: “He is the man who split the second, as dramatic and far-reaching an action as the splitting of the atom”, so seine Biografin. Mit dieser körperlich-wissenschaft­li­chen Ein­leitung des bewegten Bildes beginnt das Stück, betreten die Tän­zer die Büh­ne. In knappen und schlichten Kostümen entfalten sie selbst das Bild einer wissenschaftlichen Versuchsanordnung, können wie un­ter einem Mikros­kop in einer Petrischale in ihrem Tun beobachtet werden, möglicher­wei­se als bio­logische Entsprechungen von Zellen, Synapsen, Nerven­über­tra­gungen. Sie werden und vergehen zu geschlechtsneutralen bis androgynen Pas de Deuxs, bilden Gruppensequenzen, Gruppenszenen, in der menschliche Hy­bri­de gleich Molekularketten und kristallinen Kons­truk­ten verharren, sich entwickeln und wieder in sich selbst zerfallen – um dann das eigene Ding inmitten der anderen zu machen. Schlüsselszene ist ein Pas de Trois, eine Dreierkonstellation von zwei Männern und einer Frau. Sie versucht sich äußerst vital der Kontrolle zu entziehen, wird aber doch immer in ein Sys­tem der Starre und der Beobachtung zurückgedrängt: Be­drohlich, dass es um die Mechanismen des Lebens und nicht um das Leben selbst gehen soll.

Ein länglicher Bildschirm erhebt sich wie ein gi­gantisch wissenschaftliches Gerät vom Boden, bild­haften Assoziationen von „Wissen­schaft­lich­keit“ flie­ßen ins Bühnenbild. Gezeigt werden Flüs­sig­kei­ten, Linien, Strukturen, Ornamente, Körper­tei­le, Räume, mathematische Formeln und Zahlen­rei­hen, die sich am Höhepunkt der Beschleunigung in einen Vogelschwarm zerstreuen. Sie kommen als geometrische Muster, als auf den Boden projizierte Spiralformen und Schwingungskurven wieder. Die Körper verharren darin, vermessen den Raum, frieren zwischendurch wieder ein, Be­we­gung wird in Etappen zerlegt. Das Agens, die Nähr­lösung, die das alles antreibt, ist die Ver­suchs­an­ordnung selbst – und die Musik. Beide Teile des Abends, der erste stammt von Nico Muhly und wur­de vom Navarra Quartett interpretiert, der zwei­te Teil von John Hopkins, unterstreichen eine Art Dialektik von Wissenschaft und Gefühl: Im ers­ten Teil sind die Streicher von fragmentierten Feedbacks unterlegt, im zweiten Teil der elektronische Sound von einschmeichelnden Klavier­klän­­gen begleitet. Das, was in dieser Art über wei­te Strecken von „Entity“ angelegt ist, scheint ge­gen Ende hyperaktiv und brachial zu werden. Ein Reigen der toten Materie beginnt, der den Prozess der Verwissenschaftlichung mit allen Verlusten selbst zum Thema haben könnte: Brilliant, aber tot, hochdynamisch, aber seelenlos.

Zeitgenössischer Tanz spielt sich ganz generell zwi­schen zwei Polen ab: Am einen Ende wird der Tanz beinahe bis zu seiner Abschaffung transformiert, Identität, Sprache und Einschreibungen sind hier die heißen Themen der Stunde. Am an­de­ren Ende – wie hier – wird Körpertechnik bis hin zur bereits oben erwähnten „physisch-zirzensischen“ Höchstleistung zelebriert. Es scheint so, als dass der Körper als Materie mit faszinierendem High-Tech-Charakter ausgestellt wird. Genau darin scheint sich aber Kritik zu manifestieren. Am Schluss des Stückes wird das Bild des laufen­den Hundes nochmals projiziert, es schließt sich der Kreis mit dem nun übergroßen Bild: Aber das was zu Beginn faszinierend dynamisch daherkam, erscheint am Ende mechanisch, wie eine Ma­schi­ne ohne Seele, ohne Leben, schön, abgehetzt, ausgeforscht.

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10/08
FotoautorInnen: 
Ravi Deepres

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