Das Recht zu leben, aber wie

Das Linzer Landestheater bringt Michel Houellebecqs „Elementarteilchen“ auf die Bühne. Philip Hautmann kennt Buch und Film und hat sich nun die Linzer Bühnenfassung angesehen.

„Ich bin völlig versichert, ich habe eine Seele; und alle Bücher, womit die Materialisten die Welt ge­quält haben, können mich nicht vom Gegentheile überführen.“
Laurence Sterne

Seit tausenden von Jahren existiert der moderne Mensch, arbeitet sich an der Zivilisation ab, dann kommt einer und erklärt das Offensichtliche und immer schon Dagewesene: Der Mensch ist ein Wesen, das den Großteil seiner Zeit an Sex denkt, außer, es wird durch irgendeinen äußeren Einfluss darin unterbrochen. Gleichzeitig, beziehungsweise aufgrund seiner niedrigen vegetativen Existenz, für welche es sich geniert, versucht jedoch jener Mensch, seinem Dasein einen Sinn zu geben, beziehungsweise inmitten einer von Verlassenheit, Krankheit, Leiden, Tod, kurz, durch den guten wie auch den schlechten Zufall bedrohten bzw. beherrschten, fragilen Existenz dieser eine Begründung abzuringen. Um tiefe Einsichten handelt es sich bei solcherlei Feststellungen freilich nicht, allein, es kommt eben darauf an, in welcher Konsequenz und in welcher Radikalität sie lanciert und zu Ende gedacht werden. Houellebecq war in den Neunzigern avantgardistisch in der Hinsicht, 40jährige sexuelle Versager (mit deutlich autobiographischen Zü­gen) als Leitfiguren der Charakterisierung des Seelenzustandes der modernen Industriegesellschaften zu wählen – vor ihm hätte man sich für Ein­ge­ständnisse dieser Art geschämt, heute hingegen scheint man eher von einer (ebenso artifiziellen) Sucht nach Authentizität und authentischer Selbst­dar­stellung und -entblößung getrieben zu sein.

Als Schlüsselwerk, in dem Houellebecq seine zynische, aber komplexe Welt­sicht entrollt, gilt gemeinhin der Ende der Neunziger Jahre veröffentlichte (Skandal)Roman „Elementarteilchen“. In den Erzählrahmen der Lebens­ge­schich­ten der beiden Halbbrüder Michel und Bruno steckt der Autor eine Man­nigfaltigkeit an philosophischen und (pseudo)wissenschaftlichen Be­trach­tun­gen, Kultur- und Zivilisationskritik, Spekulationen über die Zukunft der Menschheit und eine Menge Traurigkeit die durch nichts angreifbar er­scheint als durch einen (natürlich zynischen) Humor, dessen Einsatz freilich gegen Schluss in Rahmen der Rede einer Nebenfigur auch wieder nur als Täuschung und Selbsttäuschung entlarvt wird – „am Ende bricht einem doch das Leben das Herz.“ Glück und Erfüllung im bloßen Leben gibt es bei Houellebecq nicht, wie ja auch schon der Buddha, Schopenhauer und viele andere sagten. Wo jene aber ein bestimmtes Ethos der Lebensführung entwerfen, erklärt Houellebecq den Menschen überhaupt zur verunglückten Fehl­konstruktion, und setzt seine Hoffnung auf die Überwindung des Menschen durch die Mittel der Gentechnik. Und, ja, seine Argumentationen sind zu­min­dest auf einer höheren Ebene durchaus robust – schön also, dass die meisten von uns ohne extremen, alles andere übermannenden sexuellen und eschatologischen Druck wie Quallen durch das Leben treiben und aus diesem schließlich abtreten.

So wie allerdings eben nicht Bruno und Michel. Beide Sprösslinge einer egoistischen, sich allein ihrer Selbstverwirklichung widmenden Hippiemutter, wachsen die Halbbrüder, ohne als Kleinkinder die wärmende und schützen­de mütterliche Nähe erfahren zu haben, bei ihren jeweiligen Großeltern auf. Bruno, physisch unattraktiv und schwach, gehemmt und entsprechend er­folg­los beim anderen Geschlecht, entwickelt sich zum Sexmaniac und zum um das Leiden seiner Einsamkeit und Verlassenheit kreisenden Ego­zen­tri­ker, der später ebenso unfähig ist, emotional für seinen Sohn zu sorgen. Michel hingegen wird zum emotionslosen Autisten, der allein durch seinen monströsen naturwissenschaftlich orientierten Intellekt fähig ist, sich durch die Beobachtung seiner Umgebung einen schwachen Eindruck dessen, was Lie­be und emotionale Bindungen zwischen den Menschen sind, zu verschaffen. Als erlösende Frauengestalten gesellen sich die in den Wechseljahren steckende Christiane (bei Bruno) hinzu, als auch die engelsgleiche Jugend­freun­din Michels, Annabelle (dem im Übrigen einzigen Lichtblick in dem vor­wie­gend von unsympathischen Charakteren bevölkerten Erzählkosmos des Au­tors). Gemäß einer motivmäßigen Konstante bei Houellebecq sterben sie je­doch, wie alle seine weiblichen Figuren, bzw. begehen Selbstmord. Bruno zieht die Konsequenz, sich lebenslänglich in ein Sanatorium einweisen zu las­sen und seinen Sexualtrieb durch Medikamente still zu legen, Michel legt die wissenschaftlichen Grundlagen für die Erschaffung eines den Menschen nicht allein biologisch, sondern eben auch in seinen existenziellen Aporien transzendierenden unsterblichen Klonwesens, das Mitte des 21. Jahr­hun­derts seinen evolutionären Siegeszug antritt, und angesichts dessen, dass es die Verwirrungen und Verirrungen seines Vorgängers hinter sich lässt, den Men­schen aus Scham über sich selbst dazu bringt, sich nicht mehr fortzupflanzen und schleichend auszusterben. Im Sinne dieser Utopie versteht sich „Elementarteilchen“ als Rückblick wie auch als eine gewisse Liebes­er­klärung an den Menschen im Gesamten.

„Elementarteilchen“ wurde in 25 Sprachen übersetzt, verfilmt und in mehreren Theaterfassungen auf die Bühne gebracht. Nun, beinahe zeitgleich mit der Inbetriebnahme des LHC-Teilchenbeschleunigers in Genf (könnte man hier reichlich flach kalauern), lässt sich auch das Linzer Landestheater nicht lumpen und zieht mit einer eigenen Bühnenfassung nach. Angesichts eines solchen Unterfangens, Houellebecqs Schlüsselroman in die Form eines Büh­nenstückes zu gießen, mit der er insgesamt wenig gemein zu haben scheint, schießen zwei Fragen in den Kopf: 1. Lässt sich in einer Bühnenfassung die Romanvorlage in all ihrer ausufernden Komplexität einigermaßen adäquat wiedergeben? 2. Kann eine Bühnenfassung einen über die Romanvorlage hin­aus gehenden eigenständigen Mehrwert generieren?

Was Frage 1 betrifft, so vermag die Linzer Aufführung unter der Regie von André Turnheim positiv zu überraschen. Zwar in die Elementarteilchen seiner Textbausteine zerlegt und vom Handlungsverlauf verändert wiedergegeben, fügt sich das Ganze doch zu einer durchaus molekularen, sinnvollen Struktur wieder zusammen, wobei keiner der Dimensionen der übermächti­gen Vorlage – der Handlungsverlauf, die Biographie und die Charakterzüge der Figuren, die verzweifelte Suche nach dem Sinn, die noch viel verzweifeltere Suche nach der sexuellen Erfüllung, das Übermenschliche, das All­zu­menschliche, die physikalischen und metaphysischen Kontemplationen – vergessen wird, Referenz zu erweisen. Das Experiment, den Houelle­becq­schen Erzählkosmos in seiner (freilich eher) Breite (als Tiefe) zu durchmessen, kann als geglückt angesehen werden. Solide auch die Leistungen der DarstellerInnen, allen voran Daniel Doujenis und Georg Bonn in den freilich auch dankbarsten der fünf Rollen als Michel bzw. Bruno, daher soll auch auf einen diesbezüglichen Hinweis auf jene von Silvia Glogner als Jane Ceccaldi (der Mutter), Gunda Schanders (Annabelle) und Isabelle Szend­zielorz (Christiane) nicht vergessen werden. Die ebenfalls geglückte musikalische Untermalung präsentiert sich als Potpurri zwischen Schlager, 68er-Zitaten, esoterischen Klängen und natürlich auch Houellebecq höchst­selbst, der, was weniger bekannt ist (und das auch zurecht), mit einer französischen Band auch ein paar Platten aufgenommen hat. Bemerkenswert auch das Bühnenbild von Stefan Heyne, in dem man eine Assoziation zu erkennen vermeint zu Houellebecqs (seiner Figur Michel Djerzinski in den Mund gelegten) Kontemplationen über den Raum, „den sich der unwissende Mensch allein als gähnende, ihn mit panischem Entsetzen erfüllender Leere vorstellt“, der dem unsterblichen Menschen-Nachfolger der Zukunft aber al­lein als „herrliche, riesige gegenseitige Vernetzung“ erscheint. Die sich drehende, eine Zentrifuge symbolisierende Schnecke auf der Bühne wirbelt Ele­men­tarteilchen wie Menschen auseinander und lässt sie durch milchige Wän­de getrennt unzureichend einander begegnen, sie öffnet und schließt sich, verfügt jedoch auch zwei Ausgänge hin in einen Raum einer echten, in­timen Begegnung und Zusammenkunft. Schön! (Und weil gerade Platz ist, soll auch unabhängig von seiner tatsächlichen, schwer wahrnehmbaren Leis­tung eine Huldigung an den sonst selten gewürdigten Einsatz des Souff­leurs hier ausgesprochen werden.)

Die Beantwortung der zweiten Frage soll an dieser Stelle aber dem Be­su­cher/der Besucherin selbst überlassen bleiben. Die Landestheatinger haben ihre Sache auf jeden Fall sehr gut gemacht.

Weitere Termine: 03., 24. Oktober, 14., 21. November 2008, Kammerspiele

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10/08
FotoautorInnen: 
Christian Brachwitz

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