Kein Schreibtisch, kein Sofa, … vielleicht ein Schlüssel
Linz arbeitet seine NS-Vergangenheit auf, Leonding ebenso. In die vom Größenwahn geprägte Geschichte der Täter und Mitläufer mischt sich schüchtern eine Geschichte der Opfer, der jüdischen Opfer. Bei meinen Ausstellungsbesuchen im Schlossmuseum Linz und Stadtmuseum Leonding hätte ich sie fast übersehen oder überhört. Aber umso mehr Wert bekamen sie beim Entdecken – Familie Wilensky, Dr. Otto Gerstl, Erich Fried und Familie Pick, Leo Weiss. Und dann mischt sich da genauso schüchtern noch eine Geschichte ein, derer, die sich in den grausamen Rassismus nicht hineinziehen ließen, wie Herta Huemer, Hedda Wagner, Anna Spitz. Was ergäbe eine Ausstellung, wenn Linz seine jüdische Geschichte zeigen wollte? Wo wäre ein geeigneter Raum dafür? Was wäre zu sehen? Schriftstücke aus der Zeit vor 1938, Fotos zum Großteil aus Privatbesitz, zu viele Dokumente aus der NS-Verfolgungs- und Vernichtungsbürokratie. Wie viel aus der Nachkriegszeit? Die Vitrinen blieben größtenteils leer … und in einer wäre vielleicht doch etwas zu sehen: Ein verwaister Schlüssel.
Ohne Schlüssel, mit Hacken bahnten sich vor siebzig Jahren nationalsozialistische Verbrecher ihren Weg in ein Haus. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 schlugen SA-Männer die Türen der Linzer Synagoge ein, zerbrachen Fensterscheiben, zertrümmerten im Inneren das Gestühl, warfen Bänke von der Frauenempore. Mit einigen Kannen Benzin ließen sie den Tempel in Brand aufgehen. Ritualgegenstände aus Gold und Silber, ausgewählte Archivalien und Sparkassenbücher „stellte man sicher“. SA-Führer Oirer sperrte zu Beginn der „Aktion“ eine Familie, die ihr Notquartier in der Rabbinatskanzlei im Tempel aufgeschlagen hatte, ein. Sie wurde im letzten Moment aus dem bereits vom Rauch erfüllten Raum befreit. In weiterer Folge durchforstete die SA Wohnungen der letzten noch in Linz lebenden jüdischen Familien. Da man kurz zuvor einen Großteil der jüdischen Männer gefangen genommen hatte, waren Frauen und Kinder in dieser Nacht den brutalen Übergriffen der Nationalsozialisten alleine ausgesetzt. In weiterer Folge verliefen die Zerstörung der israelitischen Kultusgemeinden, die Vertreibung und Ermordung ihrer Mitglieder überall von so skrupulöser Skrupellosigkeit, dass wir heute auf Linz bezogen feststellen müssen: Von den 1938 etwas mehr als 600 JüdInnen lebt niemand mehr hier. Von dem 1938 in der Bethlehemstraße stehenden Tempel existiert nur noch ein Schlüssel. Seit 40 Jahren gibt es wieder eine neue Synagoge an derselben Stelle, es leben wieder etwas mehr als vierzig JüdInnen in Oberösterreich. – Und wer sich auf die Suche danach macht, wer und was hier gelebt hat, wird weit fahren und jahrelang in Archiven sitzen müssen – aber fündig werden: Mit der Zeit ersteht eine jüdische Gemeinde mit 150-jähriger Geschichte auf, die aus Linz nicht mehr wegzudenken ist. Und falls man sie als eine kleine Gemeinde ansieht, mag das in Prozenten und Zahlen so sein. Dem Beitrag aber, den diese so genannte religiöse Minderheit in Linz einbrachte – und einbringt – wird es nicht gerecht.
Mit der von Kaiser Franz Joseph unterzeichneten Reichsverfassung 1849 erhielten JüdInnen nach einer langen Zeit des Verbotes die Erlaubnis sich auf Dauer in Linz niederzulassen. Schon zuvor pflegten sie vor allem von Südböhmen aus Handelsbeziehungen zu Linz. Sie verkauften ihre Ware auf Linzer Märkten, später als Hausierer von Dorf zu Dorf wandernd. Eine Betstube hatte man bereits eingerichtet – aber es fehlte eine Gaststätte mit koscherer Küche. Damals hielt man sich noch an die strengen rituellen Gesetze.
Selbst nach 1849 musste sich Marcus Sonnenschein seine „rituelle Ausspeiserei“ erkämpfen, denn die christliche wirtschaftstreibende Umgebung sah in den jetzt vermehrt zuwandernden jüdischen Familien eine Konkurrenz. Als man 1854 um Erlaubnis bat, einen Friedhof anzulegen, warnte ein dazu befragter katholischer Pfarrer: „Linz, meine liebe Vaterstadt, möge sich so fern als möglich von diesem Volke halten, das Gott gerichtet hat“. Die Jahre bis zur endgültigen Gleichberechtigung 1867 zeugen von einem instabilen Boden, auf dem Jüdinnen und Juden sich in Linz niederließen.
Teils in unterwürfiger, teils in selbstbehauptender Haltung gelang ihnen trotzdem ein rascher Aufstieg – die Anstellung eines Kantors, Lehrers, Beschneiders und Schächters in einer Person 1857; die Anstellung des ersten Rabbiners 1862; die Gründung der israelitischen Kultusgemeinde 1870 – sie umfasste ca. 400 Personen; der Kauf eines ersten gemeinschaftlichen Besitzes 1872 und die Grundsteinlegung für den Synagogenbau 1876.
Der Tempel sollte ein „Bethaus für alle Völker“ sein, so stand es in hebräischer Schrift über dem Haupteingang. Adolf Kurrein, ein moderner, in Wien wissenschaftlich-theologisch ausgebildeter Linzer Rabbiner, griff in seiner Einweihungsrede die Gerüchte und Unwahrheiten auf, die man der jüdischen Religion immer noch andichtete. Ab jetzt könne sich jeder selbst vergewissern, die Synagoge stehe allen offen. Ihr Inneres zeige Juden wie Nichtjuden einzig die Thora, die 10 Gebote und sonst nichts. Jedes religiöse Ritual beruhe ausschließlich darauf.
Die Blütezeit der israelitischen Kultusgemeinde steht und fällt mit der Blütezeit des Liberalismus. Viele Hausierer wurden über den Weg des Rohproduktenhandels zu Betreibern von Kleidermagazinen, Leder- oder Zuckerwarenhandlungen. Der Wohlstand wuchs, die Kinder lernten bereits ein Handwerk oder besuchten eine höhere Schule. Mit dem Niedergang des Liberalismus verschärfte sich allerdings der Nationalitätenkonflikt innerhalb der Monarchie. In Linz griff eine antisemitische, deutsch-nationale chauvinistische Stimmung um sich. Jetzt wurde sichtbar, dass die Bemühungen der jüdischen Bevölkerung, sich in Arbeit wie Freizeit, Politik wie Kultur an die nichtjüdische Umgebung anzupassen, scheiterten. Ab der Jahrhundertwende war man nicht nur von kirchlichen, sondern auch von deutsch-nationalen gesellschaftlichen Ereignissen ausgeschlossen. Das Aufkommen jüdisch-nationaler Ideen war eine Antwort darauf. Viele jüdische Vereine zeugen von dem Auf-sich-selbst-geworfen-Sein. Zugleich verweisen nicht nur sie, sondern das ganze Gefüge der Kultusgemeinde auf den hohen Anspruch, den man in politischer, künstlerischer, sozialer und kultureller Hinsicht an sich stellte. Und der Wille war immer da, auch andere daran Teil haben zu lassen.
Nach dem Ersten Weltkrieg kam die Innenpolitik der Linzer Kultusgemeinde in Bewegung und sollte sich bis 1938 nicht mehr beruhigen. 1919 hatte eine Gruppe junger Männer und Frauen ein einziges Ziel: Das Selbstbewusstsein stärken, eine eigene jüdische Identität finden. Das setzte Reformen in der Jugenderziehung und in der Kultusgemeindepolitik in Gang. Aus der Erfahrung, dass devote Haltung und größtmögliche Anpassung keine Gewähr für ein friedliches Miteinander sind, sah man den Zionismus als Erfolg versprechenden Ausweg. Ein Großteil der Jugendarbeit bestand im Vorbereiten und Sehnsucht-Wecken auf eine Auswanderung nach Erez Israel, ins „gelobte Land“. Viele ließen sich begeistern, aber nur wenige in Linz wagten den Schritt und erkannten die Gefahr, die in den Dreißigerjahren an Konkretion zunahm.
Welchen Verlust hat das heutige Linz mit der Vertreibung seiner jüdischen Bevölkerung zu beklagen und mitzutragen – wovon würden leere Vitrinen zeugen? Dass in Urfahr Friederike Spitz und ihre beiden Söhne am 19. März 1938 Selbstmord begingen. Dass Linz in Leo Weiss einen ungewöhnlich fähigen Kaufmann verlor. Dass die Körnerschule auf ihre begabte Schülerin Agathe Kronberger verzichtete. Dass die Polizei mit der Flucht Rudolfine Menzels ihre Bezugsquelle hoch qualifizierter Hunde verlor. Dass die Papierhändler Adolf und Charlotte Pick in Konzentrationslagern umkamen. Dass die Tänzerin Edith Wilensky nicht mehr zurück nach Linz kam und österreichische Kinder unterrichten wollte. Dass Dr. Otto Gerstl die Freude genommen wurde Künstler zu unterstützen. Dass am Alten Markt das Töpferhaus rechtswidrig abgerissen wurde. Dass zu den hohen Feiertagen keine Synagogenorgel mehr zu hören ist. Dass im Wiener Jüdischen Museum aus Linz nur mehr ein blasser Thoramantel zu finden ist. Dass für LinzerInnen zu wenig Bäume im „Garten der Gerechten“ stehen. Dass am jüdischen Friedhof Totenstille herrscht … – und wie schnell eine Hacke den Schlüssel ersetzt.
Novemberpogrom 1938: Auch in Linz hat die Synagoge gebrannt.
Nach dem Tempelbrand
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