Kein Schreibtisch, kein Sofa, … vielleicht ein Schlüssel

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Linz arbeitet seine NS-Vergangenheit auf. In Fortsetzung zu den Ausstellungsbesprechungen von „Kulturhauptstadt des Führers“ und „Politische Skulptur“ und anlässlich des Novemberpogroms vor 70 Jahren antwortet Verena Wagner auf die Frage: Was ergäbe eine Ausstellung, wenn Linz seine jüdische Geschichte zeigen wollte?

Linz arbeitet seine NS-Vergangenheit auf, Leon­ding ebenso. In die vom Grö­ßenwahn geprägte Ge­­schichte der Täter und Mitläufer mischt sich schüch­tern eine Geschichte der Opfer, der jüdischen Opfer. Bei meinen Aus­stel­lungs­besuchen im Schlossmuseum Linz und Stadtmuseum Leon­ding hätte ich sie fast übersehen oder überhört. Aber umso mehr Wert bekamen sie beim Ent­dec­ken – Familie Wilensky, Dr. Otto Gerstl, Erich Fried und Familie Pick, Leo Weiss. Und dann mischt sich da genauso schüchtern noch eine Ge­schich­te ein, derer, die sich in den grausamen Ras­sismus nicht hineinziehen ließen, wie Herta Huemer, Hed­da Wagner, Anna Spitz. Was ergäbe eine Aus­stel­­lung, wenn Linz seine jüdische Geschichte zeigen wollte? Wo wäre ein ge­eig­neter Raum dafür? Was wäre zu sehen? Schriftstücke aus der Zeit vor 1938, Fotos zum Großteil aus Privatbesitz, zu vie­le Dokumente aus der NS-Verfolgungs- und Ver­nichtungsbürokratie. Wie viel aus der Nach­kriegs­zeit? Die Vitrinen blieben größtenteils leer … und in einer wäre vielleicht doch et­was zu sehen: Ein verwaister Schlüssel.

Ohne Schlüssel, mit Hacken bahnten sich vor sieb­zig Jahren nationalsozialistische Verbrecher ihren Weg in ein Haus. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 schlugen SA-Männer die Türen der Linzer Synagoge ein, zer­brachen Fens­ter­scheiben, zertrümmerten im Inneren das Ge­stühl, warfen Bänke von der Frauenempore. Mit einigen Kannen Benzin ließen sie den Tem­pel in Brand aufgehen. Ritualgegenstände aus Gold und Silber, ausgewählte Archivalien und Spar­kas­sen­bücher „stellte man sicher“. SA-Führer Oirer sperr­te zu Beginn der „Aktion“ eine Familie, die ihr Not­quartier in der Rab­binatskanzlei im Tempel auf­ge­schlagen hatte, ein. Sie wurde im letzten Mo­ment aus dem bereits vom Rauch erfüllten Raum befreit. In weiterer Folge durchforstete die SA Woh­nungen der letzten noch in Linz lebenden jü­di­schen Familien. Da man kurz zuvor einen Groß­teil der jüdischen Männer ge­fangen genommen hat­te, waren Frauen und Kinder in dieser Nacht den brutalen Übergriffen der Nationalsozialisten alleine ausgesetzt. In weiterer Fol­ge verliefen die Zerstörung der israelitischen Kultusgemeinden, die Ver­trei­bung und Ermordung ihrer Mitglieder überall von so skrupulöser Skru­pel­lo­sigkeit, dass wir heute auf Linz bezogen feststellen müssen: Von den 1938 etwas mehr als 600 JüdInnen lebt niemand mehr hier. Von dem 1938 in der Bethlehemstraße stehenden Tempel existiert nur noch ein Schlüssel. Seit 40 Jahren gibt es wieder eine neue Synagoge an derselben Stelle, es le­ben wieder etwas mehr als vierzig Jüd­Innen in Oberösterreich. – Und wer sich auf die Su­che danach macht, wer und was hier gelebt hat, wird weit fahren und jahrelang in Archiven sitzen müssen – aber fündig werden: Mit der Zeit er­steht eine jüdische Gemeinde mit 150-jähriger Geschichte auf, die aus Linz nicht mehr wegzudenken ist. Und falls man sie als eine kleine Ge­meinde an­sieht, mag das in Prozenten und Zah­len so sein. Dem Beitrag aber, den die­se so ge­nann­te religiöse Minderheit in Linz einbrachte – und einbringt – wird es nicht gerecht.

Mit der von Kaiser Franz Joseph unterzeichneten Reichs­verfassung 1849 er­hielten JüdInnen nach einer langen Zeit des Verbotes die Er­laub­nis sich auf Dauer in Linz niederzulassen. Schon zuvor pflegten sie vor allem von Süd­böh­­men aus Handelsbeziehungen zu Linz. Sie verkauften ihre Ware auf Lin­zer Märkten, später als Hausierer von Dorf zu Dorf wandernd. Eine Bet­stu­be hatte man bereits eingerichtet – aber es fehl­te eine Gaststätte mit ko­sche­rer Küche. Da­mals hielt man sich noch an die strengen rituellen Ge­set­ze.
Selbst nach 1849 musste sich Marcus Son­nen­schein seine „rituelle Aus­spei­se­rei“ erkämpfen, denn die christliche wirtschaftstreibende Umge­bung sah in den jetzt vermehrt zuwandernden jü­dischen Familien eine Konkurrenz. Als man 1854 um Erlaubnis bat, einen Friedhof anzulegen, warn­te ein dazu befragter katholischer Pfarrer: „Linz, meine liebe Vaterstadt, möge sich so fern als möglich von diesem Volke halten, das Gott gerichtet hat“. Die Jahre bis zur endgültigen Gleich­berech­ti­gung 1867 zeugen von einem instabilen Bo­den, auf dem Jüdinnen und Juden sich in Linz niederließen.
Teils in unterwürfiger, teils in selbstbehauptender Haltung gelang ihnen trotzdem ein rascher Aufstieg – die Anstellung eines Kantors, Lehrers, Be­schneiders und Schächters in einer Person 1857; die Anstellung des ersten Rab­biners 1862; die Grün­dung der israelitischen Kultusgemeinde 1870 – sie umfasste ca. 400 Per­sonen; der Kauf eines ersten gemeinschaftlichen Be­sitzes 1872 und die Grundsteinlegung für den Synagogenbau 1876.
Der Tempel sollte ein „Bethaus für alle Völker“ sein, so stand es in hebräischer Schrift über dem Haupteingang. Adolf Kurrein, ein moderner, in Wien wissenschaftlich-theologisch ausgebildeter Linzer Rabbiner, griff in seiner Einweihungsrede die Gerüchte und Unwahrheiten auf, die man der jüdischen Religion immer noch andichtete. Ab jetzt könne sich jeder selbst vergewissern, die Synagoge stehe allen offen. Ihr Inneres zeige Juden wie Nicht­­juden einzig die Thora, die 10 Gebote und sonst nichts. Jedes religiöse Ritu­al beruhe ausschließlich darauf.

Die Blütezeit der israelitischen Kultusgemeinde steht und fällt mit der Blü­te­zeit des Liberalismus. Viele Hausierer wurden über den Weg des Rohpro­duk­tenhandels zu Betreibern von Kleidermagazinen, Leder- oder Zucker­wa­renhandlungen. Der Wohlstand wuchs, die Kinder lernten bereits ein Hand­werk oder besuchten eine höhere Schule. Mit dem Niedergang des Libe­ra­lis­mus verschärfte sich allerdings der Nationalitätenkonflikt innerhalb der Monarchie. In Linz griff eine antisemitische, deutsch-nationale chauvinistische Stimmung um sich. Jetzt wurde sichtbar, dass die Bemühungen der jü­dischen Bevölkerung, sich in Arbeit wie Freizeit, Politik wie Kultur an die nicht­jüdische Umgebung anzupassen, scheiterten. Ab der Jahrhundert­wen­de war man nicht nur von kirchlichen, sondern auch von deutsch-nationalen gesellschaftlichen Ereignissen ausgeschlossen. Das Aufkommen jü­disch-nationaler Ideen war eine Antwort darauf. Viele jüdische Vereine zeugen von dem Auf-sich-selbst-geworfen-Sein. Zugleich verweisen nicht nur sie, son­­dern das ganze Gefüge der Kultusgemeinde auf den hohen Anspruch, den man in politischer, künstlerischer, sozialer und kultureller Hinsicht an sich stellte. Und der Wille war immer da, auch andere daran Teil haben zu las­sen.

Nach dem Ersten Weltkrieg kam die Innenpolitik der Linzer Kultus­gemein­de in Bewegung und sollte sich bis 1938 nicht mehr beruhigen. 1919 hatte eine Gruppe junger Männer und Frauen ein einziges Ziel: Das Selbst­be­wusst­­sein stärken, eine eigene jüdische Identität finden. Das setzte Refor­men in der Jugenderziehung und in der Kultusgemeindepolitik in Gang. Aus der Erfahrung, dass devote Haltung und größtmögliche Anpassung keine Ge­währ für ein friedliches Miteinander sind, sah man den Zionismus als Erfolg versprechenden Ausweg. Ein Großteil der Jugendarbeit bestand im Vor­­bereiten und Sehnsucht-Wecken auf eine Auswanderung nach Erez Is­ra­el, ins „gelobte Land“. Viele ließen sich begeistern, aber nur wenige in Linz wagten den Schritt und erkannten die Gefahr, die in den Dreißigerjahren an Konkretion zunahm.

Welchen Verlust hat das heutige Linz mit der Vertreibung seiner jüdischen Bevölkerung zu beklagen und mitzutragen – wovon würden leere Vitrinen zeugen? Dass in Urfahr Friederike Spitz und ihre beiden Söhne am 19. März 1938 Selbstmord begingen. Dass Linz in Leo Weiss einen ungewöhnlich fähigen Kaufmann verlor. Dass die Körnerschule auf ihre begabte Schülerin Aga­the Kronberger verzichtete. Dass die Polizei mit der Flucht Rudolfine Men­zels ihre Bezugsquelle hoch qualifizierter Hunde verlor. Dass die Pa­pier­­händler Adolf und Charlotte Pick in Konzentrationslagern umkamen. Dass die Tänzerin Edith Wilensky nicht mehr zurück nach Linz kam und österreichische Kinder unterrichten wollte. Dass Dr. Otto Gerstl die Freude genommen wurde Künstler zu unterstützen. Dass am Alten Markt das Töp­fer­haus rechtswidrig abgerissen wurde. Dass zu den hohen Feiertagen kei­ne Synagogenorgel mehr zu hören ist. Dass im Wiener Jüdischen Museum aus Linz nur mehr ein blasser Thoramantel zu finden ist. Dass für Lin­zer­Innen zu wenig Bäume im „Garten der Gerechten“ stehen. Dass am jüdischen Friedhof Totenstille herrscht … – und wie schnell eine Hacke den Schlüs­sel ersetzt.

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11/08
FotoautorInnen: 
Diözesanarchiv Linz, Archiv der Stadt Linz, Verena Wagner

Novemberpogrom 1938: Auch in Linz hat die Synagoge gebrannt.

Nach dem Tempelbrand

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