Die Stunde der Nattern

Anlässlich ihres neuen Buches „Die Stunde der Nattern“ sinniert Reinhard Winkler mit der Autorin Elisabeth Vera Rathenböck über die Surrealität der Erwachsenen als Kind, über die Schwierigkeit der Kritiker mit dem „Subjektiven“ und über einen Standpunkt zwischen Rechtfertigung und Reflexion. Zu schwierig? Selber lesen.

Ich hab vor ein paar Monaten „Marathon“ von Dir gelesen, eine Novelle, die mir sehr gut gefallen hat. Du hast mir mal gesagt „Marathon“ sei Dein bestes Buch, es wurde aber in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Warum meinst Du, ist das so?
Erstens gesteht man einer oberösterreichischen Autorin nicht zu, dass sie über John Lennon schreibt. Zweitens ist das Buch zu schwierig.

Inwiefern?
Man kann das Buch nicht „optisch“ lesen, das heißt, es funktioniert nicht, die Sprache über wenige Seiten erfassen zu wollen und sich sonst nur an die Inhaltsangabe zu halten. Kritiker lesen aber vor allem optisch. Sie schau­en sich die Inhaltsangabe des Verlagstextes an und prüfen, ob der Text das hält, was auf der „Verpackung“ versprochen wird. Für so ein ökonomisches Lesen ist das Buch aber zu kompliziert.

In Deinem neuen Buch „Die Stunde der Nattern“, einer Sammlung von Ge­schichten einer Kindheit und Jugend aus den 1970er-Jahren, schreibst Du den Satz: „... die Schuhe der Alten bewegten sich klappernd und hinterließen das Echo eines hinkenden Sekundenzeigers.“ Ich, als Journalist, der zugegebenermaßen auch oft „optisch“ liest, frag mich an solchen Stellen gerne: Wie soll ich so einen Satz lesen? Mich einfach an der Ästhetik der Sprache er­freu­en? Oder ihn doch interpretieren?
Das neue Buch arbeitet viel mit Metaphern. Diese Stelle mit den klappernden Schuhen transportiert mehr, als hier buchstäblich zu lesen ist. Auch Fi­gu­ren im Buch – etwa Donald Duck, Sandokan, ein Eskimo – funktionieren als Metaphern. Das ist interpretierbar und kann auch interpretiert werden. Trotz­dem lassen sich solche Bilder auch aus der Position eines Kindes lesen. Die kindliche Auffassung ist eine wortwörtliche. In diesem Sinne könnte man alles durchaus so verstehen, wie es da steht. Und das ist unter anderem The­ma des Buches: Die Wahrnehmung. Ich wollte das Lebensgefühl, das ich als Kind hatte, über sprachliche Bilder transportieren. Die Wahr­neh­mung dieses Mädchens geht über Realität hinaus, sie wird surreal, aber – und das ist mein Anspruch an den Text gewesen – das Surreale wird nicht reflektiert.

Ist das der Unterschied zwischen der kindlichen und der erwachsenen Wahr­nehmung?
Ja, für mich ist das der entscheidende Unterschied. Im Buch ist die Re­fle­xi­ons­­ebene dieser Figur, die durch eine surreale Welt stapft, bewusst ausgespart.

Wäre es im schlechten Sinn „naiv“, als Erwachsener die Verkäuferin im Greiß­lerladen als „Frau Coke“ zu sehen?
Nein. Zumindest ich finde das nicht naiv, nicht im Sinn von „dumm“. Ich nehme mir auch noch heute heraus, die Welt surreal wahrzunehmen.

Kommt man als erwachsener Mensch nicht manchmal in die Verlegenheit, eine „naive Sicht der Dinge“ rechtfertigen zu müssen?
Vielleicht ist es gerade die Fähigkeit zur Reflexion, die rechtfertigt, die Welt als Erwachsener manchmal wie ein Kind wahrzunehmen.

Als Erwachsener unterliegt man ja ständig irgendwelchen Rechtferti­gungs­zwän­gen. Auch die Vorbemerkung von „Die Stunde der Nattern“ liest sich ja teil­weise wie eine Rechtfertigung.
Die ist auch als solche geschrieben und so gemeint.

Du schreibst, dass Du niemanden mit „autobiographischen Texten“ langweilen möchtest. Hältst du autobiographische Texte grundsätzlich für problema­tisch?
Autobiographien von Autoren sind nicht die wichtigsten Bücher der Welt. Der Autor steht am Fenster, ein Blick in den Herbst, er zündet sich eine Zi­ga­rette an und spürt hinter sich Goethes gesammelte Werke – und dann schreibt er über sich selbst mit dem Gefühl, Weltliteratur zu produzieren. Genau diese Selbstinszenierung wollte ich am Anfang meines Buches gleich Frage stellen. Was nun nicht heißt, dass alle Autobiographien uninteressant sind. Ich will damit vor allem den männlichen Geniebegriff des 19. Jahr­hun­derts relativieren, der nach wie vor im Spiel ist. Genau damit werden auch heute noch Autoren „gemacht“.

Warum muss ich jetzt an Robert Walser denken?
Klar, der Robert Walser. Der untergräbt diesen Geniebegriff und stimmt mich augenblicklich versöhnlich. Aber im Ernst: Ich wollte den Begriff der Au­to­bio­graphie einfach nicht strapazieren. Freilich sind „In die Stunde der Nat­tern“ autobiographische Elemente drinnen, aber die finden sich wohl in je­der Art von Literatur. Keine Autorin schreibt ohne die Erfahrung der Wirk­lichkeit. Nur wird die eben nicht 1:1 verarbeitet. Für Literatur braucht es je­nen Prozess, der die für das eigene Schreiben brauchbaren Erfah­run­gen se­lek­tiert. Wahrnehmung passiert auf verschiedenen Ebenen, und die­se Ebe­nen werden beim Schreiben neu komponiert. Das ist eine mehrstimmige Sa­che. Und jene Stimme, die ich als Autorin betone, bestimmt das Er­gebnis, den Text. Und jetzt, wo das Buch fertig ist, sag ich: ich finde mich in den ge­schichteten Stimmungen des Buches wieder. Zum Beispiel in den Far­ben.

Etwa in der Abneigung des Mädchens gegen das Hellblau seiner Fäustlinge?
Ja, als Kind sind solche Idiosynkrasien sehr dominant. Farben waren und sind mir wichtig. Ich hab schon immer etwa Wochentage und Buchstaben mit Farben verbunden. Ich glaube, als Kind hat man eine eigene Grammatik des Sehens.

Du hast ja nicht nur Deine eigenen Kindheitserinnerungen zur Verfügung. Du hast ja auch eine zehnjährige Tochter. Inwiefern hat sie beim Schreiben des Textes eine Rolle gespielt?
Meine Tochter hat mich ermutigt, diese bildhafte Sprache im Buch ohne Re­flexion zuzulassen. Ich merke im Zusammenleben mit ihr, wie ich älter wer­de. Durch sie erinnere ich mich wiederum an mich, an meine eigene Ver­gan­genheit. Ich denke mein Leben nicht linear, sondern zyklisch. Ich erinnere mich gerne an bestimmte Situationen meiner Kindheit. Zum Beispiel, barfuß über eine Wiese zu laufen. Das sind Bilder, die sich nicht nur konservieren, sondern in einem gewissen Sinn auch reproduzieren lassen.

Ist das Sentimentalität?
Nein, das ist Selbstfindung, die der Konsumier­bar­keit von Selbsterkenntnis eine Absage erteilt. In sol­chen Momenten brauche ich nichts, fühle mich un­sterblich und gleichzeitig sterblich, also so, dass ich alles nehmen kann, wie es eben ist.

„Die Stunde der Nattern. Bilder einer Kindheit“. Albatros-Ver­lag, Wien 2008.

„Die Stunde der Nattern“ ist ein Roman in sechs Episo­den, der die Jugend eines Mädchens vom Volksschulalter bis in die Pubertät in den 1970er Jahren erzählt. Elisabeth Vera Ra­thenböck, heute selbst Mutter einer 10-jährigen Toch­­ter, schreibt sich aus der Er­in­ne­rung zurück in die Stim­­­mungen ihrer eigenen Kindheit. Das Buch ist keine Ab­rechnung, kein Re­sümee – es ist der Versuch, die Welt von damals noch einmal wie ein Kind zu sehen. Die Spra­che in „Die Stunde der Nattern“ ist erwachsen, erzählt wird aber aus der Perspektive eines Kindes. Diese literarische Kniffligkeit speist sich aus, wenn man so will, „wertfreien“ Erfahrungen, wenn auch hin und wieder mit einem Funken Sentimentalität.
„Die Sprache lebt vom Mangel“, hat der deutsche Autor Romancier Martin Walser einmal festgestellt, „je schlimmer, desto besser.“ Die Großeltern der „Wickie, Slime & Pai­per“-Ge­ne­ration erlebten die Schrecken des Krieges, ih­re Eltern die Not der Nachkriegszeit. Die 60er-Gene­ra­tion hatte Woodstock und RAF, und möglicherweise sind die Kinder der 70er die erste Generation, der es als Ganze materiell an nichts mehr gefehlt haben mag. Und es stellt sich direkt/indirekt die Frage: Hat der oder die Wohlbe­hü­tete keine Geschichten zu erzählen? Immerhin gab es in der Kindheit dieser Generation noch keine pädagogisch durch­­dachten Spielplätze, sondern „Gstettn“, auf denen sich die kindliche Existenz auch ab­spielte. Diese Gstettn rochen wild wie richtiger Dreck, waren undefinierter Frei­raum und auf denen konnte man manchmal sogar noch Spuren des Krieges finden. Und es gab noch keine Ho­mö­o­pathie, dafür Frontalunterricht in der Schule und wenig Verständnis für die Irrationalismen der kindlichen Welt. Trotz­dem zeichnet sich in dieser Generation schon ab, was die folgenden bestimmen würde: Wenn kein äußerer Konflikt vorhanden ist, oder die Konflikte an der ideologischen Oberfläche bis zur Unsichtbarkeit geglättet werden, dann richtet sich der Blick nach innen: Nabelschau und psychologisches Ich-Denken sind nun nicht direkt Thema des Buches und doch: Wo der Text selbst nicht reflektiert, lässt es sich nach dem Lesen weiterspinnen.          

Elisabeth Vera Rathenböck (Mag.art.), lebt als freischaffende Autor­in in Steyr/Garsten und Wien. Sie schreibt wahrnehmungskritische Essays, journalistische und wissenschaftliche Beiträge, Bücher, Kin­der­bücher. Mehrere Theaterstücke u.a. für Bruckmühle Pregar­ten, Linzer Theater des Kindes, Theater Phönix.

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Reinhard Winkler

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