NomadInnen auf der Flucht

Das Buch „Crossing New Europe. Postmodern Travel and the European Road Movie“ von Ewa Mazierska und Laura Rascaroli, das im Rahmen des letztjährigen Linzer „Crossing Europe“-Filmfestivals Aufmerksamkeit erfahren hat, behandelt Erzählstrategien im zeitgenössischen europäischen Kino vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Verfasstheiten im (post)modernen Europa und seiner (postmodernen) BewohnerInnen und MigrantInnen. Philip Hautmann schreibt über das „postmodern-spätkapitalistische“ Europa im Spiegel des europäischen Road Movie.

Sollten sie von ihrem dreijährigen Kind einmal gefragt werden: „Was, sehr geehrte Frau Mama, macht eigentlich die Quintessenz und thematische Tiefenstruktur der Filmgattung ‚Road Mo­vie‘ aus?“, so können sie darauf beruhigt antworten: „Liebes Kind! Trotz aller für die meisten Film­gat­tungen natürlich generellen Varietät, liegt der the­matische Kern des Road Movie in der Dar­stel­lung der Reise. Beziehungsweise dient die Dar­stel­lung des Reisens – eines Individuums oder einer in der Regel kleinen Gruppe – als Erfah­rungs­modus innerer wie äußerer Realitäten, bzw. dient es als Modus der Selbsterfahrung und Selbst­er­forschung des reisenden Individuums. Das, innerhalb des Road Movie oftmals ziellose Reisen mit seinen Qualitäten ‚Erfahren‘, ‚Entde­cken‘ und ‚Erleben‘, gilt demgemäß als Vehikel der Ausleuchtung der eigenen Individualität wie auch des gesellschaftlich-kulturell Umfassenden. Kurz gesagt, geht es im Road Movie um das Rei­sen als Möglichkeit der Identitätsfindung des In­di­viduums.“ Und sollte ihr dreijähriges Kind fragen: „Was bedeutet eigentlich der Begriff ‚postmo­derne Identitätsbildung‘, von dem alle immer so viel reden?“, so sagen sie am besten: „Im Gegen­satz zur ‚modernen‘ Identitätsbildung (die natürlich als ein postmodernistisches Konstrukt zu ver­­ste­hen ist (oder vielleicht auch nicht)), deren Priorität der Frage gilt, eine Identität festzulegen und zu stabilisieren, ist postmoderne Identitäts­bildung mit der Anforderung verbunden, solide Identitätsbildungen zu vermeiden und sie in ih­ren Chancen und Optionen möglichst offen zu hal­ten.“ Und sollte ihr Kind dann auch noch fragen: „Wo hast du denn dies gravitätisch tönende Zeugs her?“, so triumphieren sie mit der Replik: „Aus dem Buch ‚Crossing New Europe. Postmo­dern Travel and the European Road Movie‘ von Ewa Mazierska und Laura Rascaroli, das sich speziell mit dem europäischen Road Movie befasst. Sie haben ihre Sache gut gemacht und werden da­her nicht ausgelacht.“

Mit seinen Themen wie der Suche nach der individuellen Freiheit, der individuellen Mobilität, der Möglichkeit des Individuums, sein Leben grund­legend zu verändern, der geographischen wie ideellen Grenzenlosigkeit, des endlosen High­ways und des „Great Wide Open“, sowie der un­ter­schwelligen Faszination für das Außen­sei­ter­tum gilt das Road Movie herkömmlich als US-ame­rikanisches Filmgenre, beziehungsweise scheint es mit spezifisch amerikanischen Mythen und geographisch-kulturellen Gegebenheiten eng verbunden. Es scheint deshalb auch in einem ge­wissen Kontrast zu stehen zur im Vergleich kleinteiligeren und nationalstaatsmäßigen geographisch-kulturellen Aufteilung Europas, seiner ge­ringeren inneren Durchdringlichkeit und Durch­lässigkeit, sowie seiner weniger individualistischen Selbstverständnisse. Scheinbar ironischerweise gilt der Kontrast zwischen dem „offenen“ Amerika und dem „in sich segmentierten“ Europa jedoch auch hinsichtlich der Frage nach der Prä­senz des europäischen Road Movie innerhalb des im Vergleich zum US-amerikanischen deutlich we­niger übersichtlichen europäischen Kino. Denn europäische Filme, die als Road Movie charakterisierbar sind, gibt es sehr wohl, wie das Buch deutlich macht, wenngleich auch, abgesehen von Werken europäischer „Starregisseure“ wie Wim Wenders oder Aki Kaurismäki, ihre Reich­weite selten, außer für ein eingefleischtes Fachpublikum, über nationale Kinos hinausgeht.

Postmodernismus und Road Movie
„Postmodernismus“ wird gemeinhin als heuristisches Referenzschema umfassender gesellschaftlicher, kultureller, ökonomischer und politischer Entwicklungen gefasst, die seit gut drei Jahr­zehn­ten im Gange sind: Globalisierung, die Abschwä­chung wie der Wegfall der kapitalistisch-sozialistischen Systemkonkurrenz, der Verfall des Gel­tungs­anspruchs totalitärer Ideologien bzw. so genannter „großer Erzählungen“, Transnatio­na­li­sie­rungsprozessen, kultureller Intermediation wie auch „neuer“ Nationalismen, der Betonung des Individuums gegenüber dem Kollektiv, der Eman­zipation der Geschlechter und damit zu­sam­menhängend der Komplexitäten von Sinnsuchen und Identitätsbildungen. Der „postmodernen Un­übersichtlichkeit“ der Welt und der Rasanz, mit der sich umfassende, historisch noch nicht interpretierte Entwicklungen vollziehen (daher die Häu­figkeit des etwas verlegen wirkenden Prä­fixes „post-“ bei dem Versuch der Beschreibung und Fassbarmachung von so allem Möglichen), wird ein gewisses Lust- und Erkenntnisprinzip des Beweglichen und der individuellen Bewe­gung als umfassender Transgression entgegengesetzt, die sich hermetischer und teleologischer Zu­­griffe verweigert und ihr Sinnprinzip in ihre eigene Prozesshaftigkeit hinein verlagert.

Zu den Zauberwörtern des postmodernistischen Vokabulars gehört das Konzept des „Noma­di­schen“ und des „Nomadismus“ als Verweigerung des Sesshaften und Fixierten (remember De­leuze/Guattari), was wiederum an das General­the­ma des Road Movie erinnert. Daher behaupten Mazierska und Rascaroli, dass das Road Mo­vie als Kunstform in besonderem Maße dazu herangezogen werden kann, postmoderne Welten zu durchleuchten, und zwar nicht allein im Sinn eines postmodernistischen Romantizismus und einer Begeisterung für „das Andere“, sondern auch als Betrachtung von Sachzwängen, Primor­dia­litäten und Konflikthaftigkeiten, die nüchtern betrachtet, weder hip noch spacig sind.

Nomadismus und die Begeisterung für das Frem­de und Neue kann einerseits als (selbst)oppositio­nelle Strategie und romantizistische Wunsch­pro­jek­tion selbst gewählt sein, andererseits durch un­freiwillige Ausgestoßenheit aus der Gesell­schaft aus ökonomischen, kulturellen oder sozialen Gründen erzwungen sein, oder aber eine Mi­schung aus beidem (Aki Kaurismäkis „Leningrad Cowboys Go America“ (1989), Laurent Cantets „L’Emploi du temps“ (2001), Agnés Vardas „Les Glaneurs et la glaneuse“ (2000), Nanni Morettis „Caro diario“ (1994)). Das Entfliehen vom Zu­hau­se kann etwas bringen oder nutzlos sein, entweder, weil man sich in der Fremde verirrt und verliert, oder weil man, aus ebendiesen Gründen, wie­der zuhause ankommt (Gianni Amelios „La­merica“ (1994), Michael Hannekes „Code inconnu: Récit incomplet de diverse Voyages“ (2000), Pawel Pawlikowskis „Last Resort“ (2000)). Die Aus­einandersetzung mit dem kulturell Anderen kann sich (über Umwege) als Bereicherung oder aber als Enttäuschung erweisen, entweder als in erstaunlichem Maße als dasselbe wie das kulturell Eigene, oder aber tatsächlich als Anderes, in dem man sich nicht zurechtfindet, oder das ei­nem aus gutem Grund abstößt (Peter Lichtefelds „Zugvögel … einmal nach Inari“ (1998), Wim Wen­ders „Lisbon Story“ (1994), Carlo Mazzacuratis „Il toro“ (1994)). Die Wunschvorstellung der „Offen­heit“ der Identitäten kann sich in Wirklichkeit durch die Eingelassenheit ebendieser Identitäten in ökonomische Sach­zwän­ge und soziale Zuge­hö­rig­keiten gravierend beschränkt sehen (vor al­lem bei Filmen mit weiblichen Protagonisten wie Jan Swéráks „Jízda“ („The Ride“) (1994), Michael Ro­sas „Farba“ (Paint) (1998), Atom Egoyans „Felicias Journey“ (1999)).

„So ist das mit dem europäischen Road Movie des postmodernen Zeitalters. Ergebnis der Untersu­chung ist, dass diese Kunstgattung eine erstaunliche Eignung dazu aufweist, postmoderne oder, anders gesagt, zeitgenössische Phä­nomene wie Über­schreitungen diffundierender kultureller Gren­zen, Trans­formation individueller wie kollektiver Identitäten, Verlust von Sta­bi­lität und Be­deu­tung, also diese Phänomene in sich hinsichtlich ihrer intrinsischen Qualitäten zu befragen und darüber hinaus sie an zeitgenössische Rea­li­täten rückzubinden, wobei sich oftmals herausstellt, dass das Pri­mor­diale, das heißt das „Ur­sprüng­liche“, aller Intellektualismen entgegen, nach wie vor massiv ist und dazu tendiert, über die „postmoderne Beliebigkeit“ zu triumphieren. Lass dir das gesagt sein, Kind!“. So könnten sie das ihrem drei­jährigen Kind zusammenfassend prä­sentieren, das vielleicht seinerseits antworten könnte: „Frau Mama, ich glaube, bis ich groß bin, ist das mit dem Postmodernen sowieso längst kalter, abgestandener Kaffee.“

CROSSING EUROPE: DIE ERÖFFNUNG
Crossing Europe 2007 eröffnet am Dienstag, 24. April mit zwei Österreichpremieren und einer Uraufführung: Attwen­ger Adventure von Markus Kaiser-Mühlecker porträtiert ein Ar­beitsjahr des einzigartigen Linzer Musikduos Attwenger; das epische Homemovie The End of the Neubacher Project von Marcus J. Carney verfolgt in schonungsloser Offenheit den Leidensweg der Mutter des Regisseurs zurück in die unaufgearbeitete NS-Vergangenheit der Familie. Dies d’Agost/August Days ist der dritte Eröffnungsfilm und zu­gleich Auftakt des Tributes an den katalanischen Re­gisseur Marc Recha.
Vom ersten Festivaljahr an sind bei CROSSING EUROPE GrenzgängerInnen zwischen Film und bildender Kunst als Artist in Residence gemeinsamer Gast des Festivals und des O.K Centrum für Gegenwartskunst. Dieses Jahr folgt Selja Kameric der Einladung nach Linz. Im Zentrum des aus Fotos, Videos und Aktionen im öffentlichen Raum bestehen­den Oeuvres der 1976 in Sarajevo geborenen und ebendort aufgewachsenen Künstlerin steht die Verar­bei­tung der vierjährigen Belagerung ihrer Heimatstadt. Dabei verfolgt die studierte Grafik­designerin sowohl eine utopisch-eskapistische wie auch eine zynisch-aggressive Linie und bewegt sich so buchstäblich zwischen Traum und Trauma.  In Linz präsentiert sie unter anderem ihren neuen, 15minütigen Kurz­film Staj ja znam/What Do I Know About Love?  Die Ver­nissage der Präsen­ta­tion von Sejla Kameric leitet den Eröff­nungsabend von CROS­SING EUROPE 2007 ein.

www.sejlakameric.com
Vollständiges Programm: www.crossingeurope.at

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04/07
FotoautorInnen: 
Tarik Samarah

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