NomadInnen auf der Flucht
Sollten sie von ihrem dreijährigen Kind einmal gefragt werden: „Was, sehr geehrte Frau Mama, macht eigentlich die Quintessenz und thematische Tiefenstruktur der Filmgattung ‚Road Movie‘ aus?“, so können sie darauf beruhigt antworten: „Liebes Kind! Trotz aller für die meisten Filmgattungen natürlich generellen Varietät, liegt der thematische Kern des Road Movie in der Darstellung der Reise. Beziehungsweise dient die Darstellung des Reisens – eines Individuums oder einer in der Regel kleinen Gruppe – als Erfahrungsmodus innerer wie äußerer Realitäten, bzw. dient es als Modus der Selbsterfahrung und Selbsterforschung des reisenden Individuums. Das, innerhalb des Road Movie oftmals ziellose Reisen mit seinen Qualitäten ‚Erfahren‘, ‚Entdecken‘ und ‚Erleben‘, gilt demgemäß als Vehikel der Ausleuchtung der eigenen Individualität wie auch des gesellschaftlich-kulturell Umfassenden. Kurz gesagt, geht es im Road Movie um das Reisen als Möglichkeit der Identitätsfindung des Individuums.“ Und sollte ihr dreijähriges Kind fragen: „Was bedeutet eigentlich der Begriff ‚postmoderne Identitätsbildung‘, von dem alle immer so viel reden?“, so sagen sie am besten: „Im Gegensatz zur ‚modernen‘ Identitätsbildung (die natürlich als ein postmodernistisches Konstrukt zu verstehen ist (oder vielleicht auch nicht)), deren Priorität der Frage gilt, eine Identität festzulegen und zu stabilisieren, ist postmoderne Identitätsbildung mit der Anforderung verbunden, solide Identitätsbildungen zu vermeiden und sie in ihren Chancen und Optionen möglichst offen zu halten.“ Und sollte ihr Kind dann auch noch fragen: „Wo hast du denn dies gravitätisch tönende Zeugs her?“, so triumphieren sie mit der Replik: „Aus dem Buch ‚Crossing New Europe. Postmodern Travel and the European Road Movie‘ von Ewa Mazierska und Laura Rascaroli, das sich speziell mit dem europäischen Road Movie befasst. Sie haben ihre Sache gut gemacht und werden daher nicht ausgelacht.“
Mit seinen Themen wie der Suche nach der individuellen Freiheit, der individuellen Mobilität, der Möglichkeit des Individuums, sein Leben grundlegend zu verändern, der geographischen wie ideellen Grenzenlosigkeit, des endlosen Highways und des „Great Wide Open“, sowie der unterschwelligen Faszination für das Außenseitertum gilt das Road Movie herkömmlich als US-amerikanisches Filmgenre, beziehungsweise scheint es mit spezifisch amerikanischen Mythen und geographisch-kulturellen Gegebenheiten eng verbunden. Es scheint deshalb auch in einem gewissen Kontrast zu stehen zur im Vergleich kleinteiligeren und nationalstaatsmäßigen geographisch-kulturellen Aufteilung Europas, seiner geringeren inneren Durchdringlichkeit und Durchlässigkeit, sowie seiner weniger individualistischen Selbstverständnisse. Scheinbar ironischerweise gilt der Kontrast zwischen dem „offenen“ Amerika und dem „in sich segmentierten“ Europa jedoch auch hinsichtlich der Frage nach der Präsenz des europäischen Road Movie innerhalb des im Vergleich zum US-amerikanischen deutlich weniger übersichtlichen europäischen Kino. Denn europäische Filme, die als Road Movie charakterisierbar sind, gibt es sehr wohl, wie das Buch deutlich macht, wenngleich auch, abgesehen von Werken europäischer „Starregisseure“ wie Wim Wenders oder Aki Kaurismäki, ihre Reichweite selten, außer für ein eingefleischtes Fachpublikum, über nationale Kinos hinausgeht.
Postmodernismus und Road Movie
„Postmodernismus“ wird gemeinhin als heuristisches Referenzschema umfassender gesellschaftlicher, kultureller, ökonomischer und politischer Entwicklungen gefasst, die seit gut drei Jahrzehnten im Gange sind: Globalisierung, die Abschwächung wie der Wegfall der kapitalistisch-sozialistischen Systemkonkurrenz, der Verfall des Geltungsanspruchs totalitärer Ideologien bzw. so genannter „großer Erzählungen“, Transnationalisierungsprozessen, kultureller Intermediation wie auch „neuer“ Nationalismen, der Betonung des Individuums gegenüber dem Kollektiv, der Emanzipation der Geschlechter und damit zusammenhängend der Komplexitäten von Sinnsuchen und Identitätsbildungen. Der „postmodernen Unübersichtlichkeit“ der Welt und der Rasanz, mit der sich umfassende, historisch noch nicht interpretierte Entwicklungen vollziehen (daher die Häufigkeit des etwas verlegen wirkenden Präfixes „post-“ bei dem Versuch der Beschreibung und Fassbarmachung von so allem Möglichen), wird ein gewisses Lust- und Erkenntnisprinzip des Beweglichen und der individuellen Bewegung als umfassender Transgression entgegengesetzt, die sich hermetischer und teleologischer Zugriffe verweigert und ihr Sinnprinzip in ihre eigene Prozesshaftigkeit hinein verlagert.
Zu den Zauberwörtern des postmodernistischen Vokabulars gehört das Konzept des „Nomadischen“ und des „Nomadismus“ als Verweigerung des Sesshaften und Fixierten (remember Deleuze/Guattari), was wiederum an das Generalthema des Road Movie erinnert. Daher behaupten Mazierska und Rascaroli, dass das Road Movie als Kunstform in besonderem Maße dazu herangezogen werden kann, postmoderne Welten zu durchleuchten, und zwar nicht allein im Sinn eines postmodernistischen Romantizismus und einer Begeisterung für „das Andere“, sondern auch als Betrachtung von Sachzwängen, Primordialitäten und Konflikthaftigkeiten, die nüchtern betrachtet, weder hip noch spacig sind.
Nomadismus und die Begeisterung für das Fremde und Neue kann einerseits als (selbst)oppositionelle Strategie und romantizistische Wunschprojektion selbst gewählt sein, andererseits durch unfreiwillige Ausgestoßenheit aus der Gesellschaft aus ökonomischen, kulturellen oder sozialen Gründen erzwungen sein, oder aber eine Mischung aus beidem (Aki Kaurismäkis „Leningrad Cowboys Go America“ (1989), Laurent Cantets „L’Emploi du temps“ (2001), Agnés Vardas „Les Glaneurs et la glaneuse“ (2000), Nanni Morettis „Caro diario“ (1994)). Das Entfliehen vom Zuhause kann etwas bringen oder nutzlos sein, entweder, weil man sich in der Fremde verirrt und verliert, oder weil man, aus ebendiesen Gründen, wieder zuhause ankommt (Gianni Amelios „Lamerica“ (1994), Michael Hannekes „Code inconnu: Récit incomplet de diverse Voyages“ (2000), Pawel Pawlikowskis „Last Resort“ (2000)). Die Auseinandersetzung mit dem kulturell Anderen kann sich (über Umwege) als Bereicherung oder aber als Enttäuschung erweisen, entweder als in erstaunlichem Maße als dasselbe wie das kulturell Eigene, oder aber tatsächlich als Anderes, in dem man sich nicht zurechtfindet, oder das einem aus gutem Grund abstößt (Peter Lichtefelds „Zugvögel … einmal nach Inari“ (1998), Wim Wenders „Lisbon Story“ (1994), Carlo Mazzacuratis „Il toro“ (1994)). Die Wunschvorstellung der „Offenheit“ der Identitäten kann sich in Wirklichkeit durch die Eingelassenheit ebendieser Identitäten in ökonomische Sachzwänge und soziale Zugehörigkeiten gravierend beschränkt sehen (vor allem bei Filmen mit weiblichen Protagonisten wie Jan Swéráks „Jízda“ („The Ride“) (1994), Michael Rosas „Farba“ (Paint) (1998), Atom Egoyans „Felicias Journey“ (1999)).
„So ist das mit dem europäischen Road Movie des postmodernen Zeitalters. Ergebnis der Untersuchung ist, dass diese Kunstgattung eine erstaunliche Eignung dazu aufweist, postmoderne oder, anders gesagt, zeitgenössische Phänomene wie Überschreitungen diffundierender kultureller Grenzen, Transformation individueller wie kollektiver Identitäten, Verlust von Stabilität und Bedeutung, also diese Phänomene in sich hinsichtlich ihrer intrinsischen Qualitäten zu befragen und darüber hinaus sie an zeitgenössische Realitäten rückzubinden, wobei sich oftmals herausstellt, dass das Primordiale, das heißt das „Ursprüngliche“, aller Intellektualismen entgegen, nach wie vor massiv ist und dazu tendiert, über die „postmoderne Beliebigkeit“ zu triumphieren. Lass dir das gesagt sein, Kind!“. So könnten sie das ihrem dreijährigen Kind zusammenfassend präsentieren, das vielleicht seinerseits antworten könnte: „Frau Mama, ich glaube, bis ich groß bin, ist das mit dem Postmodernen sowieso längst kalter, abgestandener Kaffee.“
CROSSING EUROPE: DIE ERÖFFNUNG
Crossing Europe 2007 eröffnet am Dienstag, 24. April mit zwei Österreichpremieren und einer Uraufführung: Attwenger Adventure von Markus Kaiser-Mühlecker porträtiert ein Arbeitsjahr des einzigartigen Linzer Musikduos Attwenger; das epische Homemovie The End of the Neubacher Project von Marcus J. Carney verfolgt in schonungsloser Offenheit den Leidensweg der Mutter des Regisseurs zurück in die unaufgearbeitete NS-Vergangenheit der Familie. Dies d’Agost/August Days ist der dritte Eröffnungsfilm und zugleich Auftakt des Tributes an den katalanischen Regisseur Marc Recha.
Vom ersten Festivaljahr an sind bei CROSSING EUROPE GrenzgängerInnen zwischen Film und bildender Kunst als Artist in Residence gemeinsamer Gast des Festivals und des O.K Centrum für Gegenwartskunst. Dieses Jahr folgt Selja Kameric der Einladung nach Linz. Im Zentrum des aus Fotos, Videos und Aktionen im öffentlichen Raum bestehenden Oeuvres der 1976 in Sarajevo geborenen und ebendort aufgewachsenen Künstlerin steht die Verarbeitung der vierjährigen Belagerung ihrer Heimatstadt. Dabei verfolgt die studierte Grafikdesignerin sowohl eine utopisch-eskapistische wie auch eine zynisch-aggressive Linie und bewegt sich so buchstäblich zwischen Traum und Trauma. In Linz präsentiert sie unter anderem ihren neuen, 15minütigen Kurzfilm Staj ja znam/What Do I Know About Love? Die Vernissage der Präsentation von Sejla Kameric leitet den Eröffnungsabend von CROSSING EUROPE 2007 ein.
www.sejlakameric.com
Vollständiges Programm: www.crossingeurope.at
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