Hässliche Entlein – Architektur der 60er und 70er in Linz

Der folgende 1. Teil einer kleinen Serie mit Fotos von Gregor Graf ist als provokantes, aus dem Bauch heraus geschriebenes Plädoyer auf die Schönheit von Linzer Bauwerken der 60er und 70er Jahre zu verstehen. Exemplarisch werden in den nächsten Folgen fünf oder sechs Bauwerke zu einer kurzen Besprechung kommen. Den Anfang macht das Bürogebäude der Oberösterreichischen Versicherung in der Gruberstraße.

Seit nun drei Jahren beruflich annähernd jede Wo­­che in der oö. Hauptstadt, bin ich seit meinem ers­­ten Besuch – nein, in Wirk­­lich­­keit seit den jähr­lichen Besuchen während mei­­ner Kindheit – be­geistert von den Ge­bäu­den der 60er und 70er Jah­re in Linz. Diese „Ge­mein­heiten“ haben eine Di­rekt­heit und Radi­kalität im Entwurf, die heute sonst nur mehr bei Zweck­bau­ten wie Park­häu­sern oder im Tiefbau anzutreffen ist. Linz besitzt somit in bestimmten Momenten und an bestimmten Orten den herben Charme, den ich sonst aus beispielsweise Lon­don, Genua oder Rotterdam ken­ne.

Blütezeit in Linz
Die Baukunst der 60er und 70er Jahre bildet in Linz eine deutlich unterscheidbare Phase. Sie ist im besonderen Maße von einer ausgesprochen vi­talen Industrie und Wirt­schaft geprägt. Energie­man­gel ist noch nicht wirklich ein The­ma und Bom­­bardements der Alliierten schufen viel zu be­bauende freie Fläche in zentraler La­ge. Zu­sätz­lich ist Linz Arbeiterstadt und nicht so bürgerlich-ge­schichtsbewusst-konservativ wie Wien oder Salz­burg (der dazugehörige Balast einer weltbekannten Geschichte entfällt) und noch weit entfernt von so etwas wie Massen­tou­rismus und den da­mit zu­sam­menhängenden Me­chan­is­men (der meist re­ak­­tionäre Umgang mit tou­ris­tischen Kli­schees und Bildern fällt größtenteils weg). All das und eine jahr­zehntelange Ori­en­tie­rung nach Deutsch­land stellt eine gute Grund­lage für „zeitgemäßes“ Bau­en dar und drückt sich un­mit­­tel­bar in der Linzer Architektur aus. Die­se Pha­se etwas pauschal charakterisiert, zeigt sie sehr handfeste funk­tio­na­lis­ti­sche Zü­ge, einen ho­hen Standard der Her­­stel­lung und ein sehr pragmatisches Selbst­ver­­ständ­nis. Beim Wirt­­schafts­för­derungsinstitut et­wa führte dies zu einer fast symbolisch-technoiden Äs­the­tik, die für eine Indus­trie­stadt wie Linz nur konsequent erscheint. So konnte sich die Stadt ungestört neu erfinden und Experimente wagen, die in anderen Städten haupt­sächlich an der Peri­phe­rie (z.B. Philips-Hoch­­haus, Wien) stattfanden und nun die Grund­lage für eine Kultur­hauptstadt darstellen.

Jean Prouve lässt grüssen
Das 1974 vollendete Bürogebäude der Oberöster­rei­chischen Versicherung in der Gruberstraße 32 könnte genauso gut in Paris stehen, die vorgehängte Fassade aus Chromnickelstahl (Nirosta) von Jean Prouve erfunden sein. Allerdings stammt der Entwurf von der damals so aktiven „Werk­grup­pe Linz“ (Frohnwieser, Prammer, Telesko, Werth­­gartner) gemeinsam mit Plötzl, Kretz, Ort­ner und Zegermacher (offensichtlich sind große Gruppen kein neues Phänomen!), der Friedrich Ach­leitner in „Architektur des 20. Jahrhunderts in Österreich“, Residenz Verlag 1986, sogar die Ent­wicklung einer eigenen Typologie des Ver­wal­tungsbaus in Oberösterreich bescheinigt. Ebenda bezieht Achleitner jedoch nicht wirklich Position, wenn er sich auf die „Natur eines Verwal­tungs­hochhauses“ und auf „eine städtebaulich solitäre Form“ bezieht: „Die Architekten haben hier versucht, den Bau als differenzierte Plastik mit Aus­sa­gen über Funktion und Konstruktion zu gestalten.“ Kein Wort über die erfrischende Erscheinung eines glitzernden Mo­­nolithen oder das geschickte Aufständern des Bau­­werks, das ebenfalls zum be­sonderen Cha­rak­ter beiträgt. Ähnlich einem riesigen Möbel schwebt dieses über dem Boden und erlaubt so den Durch­blick in den dahinter liegenden Garten oder um­ge­kehrt auf die Straße. Autos parken drunter; das Unangenehme einer Tief­gara­ge mit entsprechenden Erschließungsflächen und künstlicher Be­leuch­tung bleibt so erspart. Im Bautenkatalog aus dem Jahr 1973 („Ober­öster­reichische Bauten 1900 bis heute“, Siegfried Her­mann, 1973) wird noch zusätzlich auf die Kons­truk­­tionsart bzw. die Vorhangfassade (diese wirkt auch nach 35 Jahren „wie neu“ ohne klinisch ab­weisend zu sein!) mit Isolierverglasung hingewiesen. Die damals fix verglasten Fenster mit entsprechender Vollklimatisierung haben sich offensichtlich nicht als sinnvoll erwiesen. Das beweisen die nachträglich eingebauten und zu öffnenden, weißen (!) Kunststofffenster. Diese Feststel­lung will nicht kleinlich sein, sondern deutet nur auf die Wertschätzung der Bauwerke dieser Zeit hin. Ohne Zweifel würden denkmalpflegerische Überlegungen so etwas bei einem „sehr“ alten Haus verbieten. Zusätzlich hätten stilgerechte Fens­­­ter die Finanzkraft der Oberösterreichischen Versicherung wohl kaum überstiegen.

Merkmale der Geschichte
Abgesehen von einer Faszination für die Archi­tek­tur dieser Zeit möchte ich auf Besonderheit, Cha­rak­teristikum und den einzigartigen Wert die­­ser Bauwerke hinweisen. Dieses und verwand­te Häu­ser sind genauso wertvoll wie Altes aus vergangenen Jahrhunderten, sind symptomatisch für die Ge­schichte von Linz, Zeugen ihrer Zeit und brauchen Bewusstsein und Pflege. Ich bin überzeugt, dass die Bauwerke dieser Epo­che zum Besten ge­hören, was Linz architektonisch vorzuweisen hat. Falls sich Mitstreiter fänden, will ich gerne einen Verein zum Schutz dieser nicht sehr alten Bauwerke gründen ...

Aktuell findet in der Landesgalerie eine große Schau der Fotografien von Bernd & Hilla Becher statt. Die zwei Künst­ler fotografieren Industriekultur in Europa und den USA und erzeugen so genau das, was so vielen Bau­wer­ken, die noch nicht sehr alt aber auch nicht sehr jung sind widerfahren sollte: Aufmerksamkeit. Die konsequent me­tho­dische Vorgehensweise erlaubt den Vergleich und das Erfassen von Typologien – in Wirklichkeit aber die Les­bar­keit von großteils anonymen Objekten. Hier ist eine Pa­rallele zu den besprochenen Bauwerken in Linz zu erkennen: Nur wenige Personen kennen die Urheber und den kulturellen Wert, die große Mehrheit empfindet diese Häu­ser einfach als hässlich. Eine Dokumentation und The­ma­tisierung könnte diese Hässlichkeit zu Schönheit wandeln, die veränderte Wahrnehmung kann so ein unbemerktes Verschwinden verhindern, zumindest aber ein anderes Ver­ständnis von Stadt und Geschichte schaffen.

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04/07
FotoautorInnen: 
Gregor Graf

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