Das Irrationale im Rationalen

„Kein Förderturm gleicht dem anderen. Jeder Einzelne ist maßgeschneidert und den speziellen geologischen, funktionalen und ökonomischen Vorgaben angepasst. Ornamente und stilistische Verkleidungen sind relativ selten.“ (Vorwort zum Bildband: „Fördertürme“, von Bernd und Hilla Becher). Reinhard Winkler besuchte mit Dietmar Tollerian „Bernd und Hilla Becher“ in der Landesgalerie. Die Ausstellung zeigt Fotos aus der Serie „Fachwerkhäuser“ und der „Zeche Concordia“, einem Steinkohle-Bergwerk im deutschen Oberhausen.

Kein Foto eines Förderturms der Bechers ist wie das andere. Jedes einzelne ist maßgeschneidert und dem dargestellten Objekt angepasst. Dinge, die mit den abgelichteten Fördertürmen nicht un­mittelbar zu tun haben, findet man in den Fotos relativ selten.

Die Fotografien von Bernd und Hilla Becher sind den Gegenständen, die sie zeigen, so nahe, wie es das Medium Fotografie zulässt. Und kein Medium zeigt Wirklichkeit präziser als Fotografie: Ein in­dus­trieller Großbau bezieht seine Faszination aus der Präzision. Hinter dem wilden Gewirr aus Röh­ren und Eisenkonstruktionen verbirgt sich eine we­der zeichnerisch noch malerisch authentisch dar­stellbare Präzision.
Und weiter: Je präziser die Präzision der Gegen­stän­de abgebildet wird, desto stärker ist ihre ma­gische Wirkung.

Wem das zu kompliziert ist: Es geht nur darum, den Motiven fotografisch ge­recht zu werden.

Nachdem ich in der Landesgalerie lange und konzentriert die unüberschaubare Anzahl an Fotos von Fachwerkhäusern und, parallel dazu, der Ze­che Concordia von Bernd und Hilla betrachtet hat­te, die in begleitenden Texten als reichhaltig, im­mer wieder neu einnehmend an Blickwinkeln, einladend zur Reflexion ästhetischer, geschichtli­cher und technischer Momente usw. rezensiert wer­­den, und die doch letztlich, also im Grunde ih­res Zei­gens, nichts als und vor allem Fach­werk­häu­ser, und, parallel dazu, nichts als und vor al­lem Fördertürme, Fördermaschinenhallen, Aufbe­rei­tungs­an­la­gen, Wasserbehälter, Kokskühl­tür­me, Koksofenbatterien, Schwachgas­gene­ra­tor­an­la­gen, Teleskopgasbehälter und Nebengebäude der Ze­che Concordia präsentieren, sah ich durch eines der großen Fenster des Landesmuseums unten auf der Straße ein Mädchen mit Kirschen zwischen den Fingern, die sich im nächsten Moment, als das Mädchen die Beifahrertür eines alten Au­tos öffnete, als Autoschlüssel entpuppten. Oder ha­be ich dieses Bildchen in einem Buch von Peter Handke gelesen?

Wieviel Schärfe verträgt das Auge?

Es ist eine Art von Pedanterie des Blicks, die sich da in den weitläufigen Räu­men der Landes­gale­rie auftut, in der alle Details auf allen Betrach­tungs­­ebenen verschwimmen, weil die Welt oder zumindest jener Ausschnitt von ihr, den uns die Bechers präsentieren, bis zur Durchsichtigkeit deut­lich wird. Und da gibt es mehrere Ebenen des Betrachtens: die Industrie­archä­o­logie, die Ar­chi­tektur, die Ingenieurskunst, die Wissenschaft und schließlich den großen Bereich der Kunst. Weiters: Jedes Bild steht für sich selbst. Je drei bis sechs Bilder sind in Gruppen zusammengefasst, die wiederum als ein Bild lesbar sind. Und letztlich ist die gesamte Ausstellung ein System zu­sammengehörender Fragmente: Dietmar Tolle­rian, Architekturfotograf, mit dem ich die Aus­stel­lung im Landesmuseum besuchen durfte, nennt diese Möglichkeit des vergleichenden Se­hens: Matrix.

Zwei Zitate der Bechers aus ihrem ursprüngli­chen Zusammenhang gerissen und zu einem hübschen Widerspruch gegenübergestellt:

Wenn man etwas frontal fotografiert, schafft man damit die größtmögliche Präsenz, und die Gefahr, dass man subjektiv ist, ist so am geringsten. Wir brau­chen Klarheit, keine Sentimentalität.
Der Industriebau als Jetzt-Gegenstand. Die Be­chers waren stark genug und ließen sich nicht ab­lenken von den Unzeit-Gegenständen, die, wie die Schlag­zeilen und Reklametafeln der Wirt­schafts­wunderzeit, nichts tun, als ins Auge zu sprin­gen. Die Jetzt-Gegenstände, Motive abseits des­sen, was allgemein als Sehenswürdigkeit gilt, stehen freilich nicht von vornherein frei da – man muss sie angehen. Am besten frontal.

Andererseits:
Wir waren all die Jahre von Verlustängsten getrieben. Es war für mich das auslösende Erlebnis, im Siegerland, wo ich aufgewachsen bin, zu sehen, dass die Anlagen, welche die Mentalität der Ge­gend prägten und dort die Basis für die Wirtschaft bildeten, allmählich verschwanden. Die Erzberg­werke und Hoch­öfen waren das Herz der Gegend. Dieses Erlebnis des Verschwindens war der Aus­löser für alles weitere.

Diese beiden Aussagen beschreiben das Para­do­xon der Becher’schen Ar­beit. Ihre Fotografien sind so objektiv, sachlich und dokumentarisch wie sentimental: An den einstigen Orten und Stät­ten ihrer Kindheit, der Zeit der äußersten Lan­geweile, erlebten sie, erwachsen geworden, ihr tiefstes Da­seins­glück: Fotografisch hielten sie Objekte fest, die das Bild ihrer ersten Lebens­jah­re bestimmten, und sie hielten sie in einer Zeit fest, als diese Ob­jekte endgültig von der Bild­flä­che zu verschwinden begannen. „Einmal wa­ren wir in Nordfrankreich, wo wir einen wunderbaren Förderturm gefunden hatten. Als wir dort ankamen, war das Wetter diesig und das Licht nicht per­fekt, so dass wir uns entschieden, die Auf­nah­me um einen Tag zu verschieben. Aber als wir am nächsten Tag wiederkamen, war der Förderturm ab­ge­rissen, der Staub lag noch in der Luft.“

Vielleicht ist also das Wesen dieses fotografischen Werks ein Widerspruch. Das Beschreiben ohne Enthusiasmus. Ein Foto zeigt einen Förder­turm. Na und? Aber hat Fotografie ihren Zweck nicht genau dann erfüllt, wenn ich zu dem, was am Foto zu sehen ist, sagen kann: „Na und?“ Die Schwäche der Fotografie, dass sie „nur“ Wirk­lich­keit ablichten kann, ist ihre Stärke.

„Über die Dinge und nicht mit den Dingen Bilder machen“, so formulierte Heinrich Riebesehl, Kol­lege und Zeitgenosse der Bechers, sein fotografisches Programm. Ein Leitsatz, der auch auf die Bechers übertragen werden kann. Die Bechers fotografierten in der Tradition des beginnenden 20. Jhdts. Allerdings stand der Raum, in den die Fotografen August Sander oder Eugène Atget hineinfotografieren konnten, im großen und ganzen frei; die Bechers mussten sich diesen Raum 60 Jahre später erst fotografisch schaffen, ihn sich wieder holen; in den 60er Jahren, der Blüte der subjektiven Fotografie, standen sie mit ihrer Äs­the­tik in Opposition zum Zeitgeist.

Die Festlegung auf das Kameraformat, die statische Arbeit vom Stativ, kontinuierliche Lichtver­hältnisse, die frontale Erfassung der Objekte, der leicht erhöhte Aufnahmestandpunkt, die Übertra­gung architektonischer Gesetz­mä­ßig­keiten auf den Bildaufbau und schließlich die Entscheidung für Schwarz und Weiß. „Fotografische Insze­nie­rung“ kann auch heißen: sich den Spielraum eng stecken, der Fotograf nimmt sich zurück und lässt die Ob­jekte für sich selbst sprechen.

Erst die endlosen Serien wurden vom allgemeinen Kunstverstand schließlich als „Konzept“ – und also Kunst rezipiert. Hilla Becher bezeichnet die Wiederholung und die Variationen der Wie­der­­ho­lungen als „Musik“. Die Ähn­lichkeiten der Objek­te sind groß. Erst wenn sie eng beieinander stehen, sieht man die feinen Unterschiede, Ei­gen­heiten. Noch einmal ein kleiner poetischer Ein­schub von P. Handke: Von der öden Wiederholung zur seligmachenden Wiederholung: die Freude des Wiederholens wird erst möglich, wenn ich, ins Un­gewisse aufgebrochen, ratlos bin.

Um das Paradoxon weiterzuspinnen: die Konse­quenz, mit der die Bechers ihre Objekte ablichten, ist Manie und Disziplin, unendliches Fern­se­hen und Nahsehen in einem. Jede Gruppe von Bil­dern bringt Ordnung und Chaos zum Aus­druck, die Stringenz der Verschiedenartigkeit ge­nau so wie die Un­übersichtlichkeit der Vielfalt.

Von naturwissenschaftlichen Analogien über den kulturhistorischen Wert ih­rer Arbeit wurde den Bechers mittlerweile alles zugesprochen. Und auch dass die Bilder über sich hinausweisen, be­hauptet ein ansonsten hervorragender Bild- und Interviewband von Susanne Lange mit drei melodramatischen Pünktchen im Titel: „Was wir tun, ist letztlich Geschichten erzählen …“

Sind die Motive der Bechers also Objekte einer Handlung oder nur Pas­san­ten der Geschichte? Ist das die der Wirklichkeit entsprechende Foto­gra­fie? Vielleicht so: Die Bilder erzählen keine schön­geistigen Geschichten, sie be­schreiben eine Vielzahl von Passanten im Lauf der Welt, und die­se Be­schrei­bungen stehen für sich und leuchten. Dazu die Bechers: „Es geht uns darum zu zeigen, dass es in der Welt der Industrie Aspekte gibt, die nicht rational sind. Dass etwas, das rational oder funktional beginnt, irrational enden kann.“

Literaturnachweis:
Peter Handke: Phantasien der Wiederholung/Vlg.Suhrkamp
Ulf Erdmann Ziegler: Magische Allianzen/Vlg.Lindinger+Schmid
Susanne Lange: Was wir tun, ist letztlich Geschichten erzählen .../Vlg. Schirmer/Mosel
B.+H. Becher: Zeche Concordia/Kataloge der OÖ Landesmuseen
B.+H. Becher: Fördertürme/Vlg. Schirmer/Mosel

Ausstellung: Bernd und Hilla Becher in der Landesgalerie 01.03.-01.05.2007

Kurzbiographie
Hilla Becher

1934 als Hilla Wobeser geboren in Potsdam
Ausbildung zur Photographin, anschließend Arbeit als kommerzielle Photographin in Hamburg und Düsseldorf
1968-1961 Studium und Einrichtung einer Photoabteilung an der Kunstakademie in Düsseldorf

Bernd Becher
1931 geboren in Siegen
1947-1950 Lehre als Dekorationsmaler
1953-1956 Studium an der Akademie der Künste in Stuttgart
1957-1961 Studium der Typographie an der Kunstakademie in Düsseldorf

1959 Beginn der Zusammenarbeit von Bernd und Hilla Becher
1961 Heirat von Hilla Wobeser und Bernd Becher
Beide Künstler leben und arbeiten in Düsseldorf.

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04/07
FotoautorInnen: 
Reinhard Winkler

Foto: Idee und Inszenierung: Dietmar Tollerian. Geknipst von Reinhard Winkler, olé.

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