Das Irrationale im Rationalen
Kein Foto eines Förderturms der Bechers ist wie das andere. Jedes einzelne ist maßgeschneidert und dem dargestellten Objekt angepasst. Dinge, die mit den abgelichteten Fördertürmen nicht unmittelbar zu tun haben, findet man in den Fotos relativ selten.
Die Fotografien von Bernd und Hilla Becher sind den Gegenständen, die sie zeigen, so nahe, wie es das Medium Fotografie zulässt. Und kein Medium zeigt Wirklichkeit präziser als Fotografie: Ein industrieller Großbau bezieht seine Faszination aus der Präzision. Hinter dem wilden Gewirr aus Röhren und Eisenkonstruktionen verbirgt sich eine weder zeichnerisch noch malerisch authentisch darstellbare Präzision.
Und weiter: Je präziser die Präzision der Gegenstände abgebildet wird, desto stärker ist ihre magische Wirkung.
Wem das zu kompliziert ist: Es geht nur darum, den Motiven fotografisch gerecht zu werden.
Nachdem ich in der Landesgalerie lange und konzentriert die unüberschaubare Anzahl an Fotos von Fachwerkhäusern und, parallel dazu, der Zeche Concordia von Bernd und Hilla betrachtet hatte, die in begleitenden Texten als reichhaltig, immer wieder neu einnehmend an Blickwinkeln, einladend zur Reflexion ästhetischer, geschichtlicher und technischer Momente usw. rezensiert werden, und die doch letztlich, also im Grunde ihres Zeigens, nichts als und vor allem Fachwerkhäuser, und, parallel dazu, nichts als und vor allem Fördertürme, Fördermaschinenhallen, Aufbereitungsanlagen, Wasserbehälter, Kokskühltürme, Koksofenbatterien, Schwachgasgeneratoranlagen, Teleskopgasbehälter und Nebengebäude der Zeche Concordia präsentieren, sah ich durch eines der großen Fenster des Landesmuseums unten auf der Straße ein Mädchen mit Kirschen zwischen den Fingern, die sich im nächsten Moment, als das Mädchen die Beifahrertür eines alten Autos öffnete, als Autoschlüssel entpuppten. Oder habe ich dieses Bildchen in einem Buch von Peter Handke gelesen?
Wieviel Schärfe verträgt das Auge?
Es ist eine Art von Pedanterie des Blicks, die sich da in den weitläufigen Räumen der Landesgalerie auftut, in der alle Details auf allen Betrachtungsebenen verschwimmen, weil die Welt oder zumindest jener Ausschnitt von ihr, den uns die Bechers präsentieren, bis zur Durchsichtigkeit deutlich wird. Und da gibt es mehrere Ebenen des Betrachtens: die Industriearchäologie, die Architektur, die Ingenieurskunst, die Wissenschaft und schließlich den großen Bereich der Kunst. Weiters: Jedes Bild steht für sich selbst. Je drei bis sechs Bilder sind in Gruppen zusammengefasst, die wiederum als ein Bild lesbar sind. Und letztlich ist die gesamte Ausstellung ein System zusammengehörender Fragmente: Dietmar Tollerian, Architekturfotograf, mit dem ich die Ausstellung im Landesmuseum besuchen durfte, nennt diese Möglichkeit des vergleichenden Sehens: Matrix.
Zwei Zitate der Bechers aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen und zu einem hübschen Widerspruch gegenübergestellt:
Wenn man etwas frontal fotografiert, schafft man damit die größtmögliche Präsenz, und die Gefahr, dass man subjektiv ist, ist so am geringsten. Wir brauchen Klarheit, keine Sentimentalität.
Der Industriebau als Jetzt-Gegenstand. Die Bechers waren stark genug und ließen sich nicht ablenken von den Unzeit-Gegenständen, die, wie die Schlagzeilen und Reklametafeln der Wirtschaftswunderzeit, nichts tun, als ins Auge zu springen. Die Jetzt-Gegenstände, Motive abseits dessen, was allgemein als Sehenswürdigkeit gilt, stehen freilich nicht von vornherein frei da – man muss sie angehen. Am besten frontal.
Andererseits:
Wir waren all die Jahre von Verlustängsten getrieben. Es war für mich das auslösende Erlebnis, im Siegerland, wo ich aufgewachsen bin, zu sehen, dass die Anlagen, welche die Mentalität der Gegend prägten und dort die Basis für die Wirtschaft bildeten, allmählich verschwanden. Die Erzbergwerke und Hochöfen waren das Herz der Gegend. Dieses Erlebnis des Verschwindens war der Auslöser für alles weitere.
Diese beiden Aussagen beschreiben das Paradoxon der Becher’schen Arbeit. Ihre Fotografien sind so objektiv, sachlich und dokumentarisch wie sentimental: An den einstigen Orten und Stätten ihrer Kindheit, der Zeit der äußersten Langeweile, erlebten sie, erwachsen geworden, ihr tiefstes Daseinsglück: Fotografisch hielten sie Objekte fest, die das Bild ihrer ersten Lebensjahre bestimmten, und sie hielten sie in einer Zeit fest, als diese Objekte endgültig von der Bildfläche zu verschwinden begannen. „Einmal waren wir in Nordfrankreich, wo wir einen wunderbaren Förderturm gefunden hatten. Als wir dort ankamen, war das Wetter diesig und das Licht nicht perfekt, so dass wir uns entschieden, die Aufnahme um einen Tag zu verschieben. Aber als wir am nächsten Tag wiederkamen, war der Förderturm abgerissen, der Staub lag noch in der Luft.“
Vielleicht ist also das Wesen dieses fotografischen Werks ein Widerspruch. Das Beschreiben ohne Enthusiasmus. Ein Foto zeigt einen Förderturm. Na und? Aber hat Fotografie ihren Zweck nicht genau dann erfüllt, wenn ich zu dem, was am Foto zu sehen ist, sagen kann: „Na und?“ Die Schwäche der Fotografie, dass sie „nur“ Wirklichkeit ablichten kann, ist ihre Stärke.
„Über die Dinge und nicht mit den Dingen Bilder machen“, so formulierte Heinrich Riebesehl, Kollege und Zeitgenosse der Bechers, sein fotografisches Programm. Ein Leitsatz, der auch auf die Bechers übertragen werden kann. Die Bechers fotografierten in der Tradition des beginnenden 20. Jhdts. Allerdings stand der Raum, in den die Fotografen August Sander oder Eugène Atget hineinfotografieren konnten, im großen und ganzen frei; die Bechers mussten sich diesen Raum 60 Jahre später erst fotografisch schaffen, ihn sich wieder holen; in den 60er Jahren, der Blüte der subjektiven Fotografie, standen sie mit ihrer Ästhetik in Opposition zum Zeitgeist.
Die Festlegung auf das Kameraformat, die statische Arbeit vom Stativ, kontinuierliche Lichtverhältnisse, die frontale Erfassung der Objekte, der leicht erhöhte Aufnahmestandpunkt, die Übertragung architektonischer Gesetzmäßigkeiten auf den Bildaufbau und schließlich die Entscheidung für Schwarz und Weiß. „Fotografische Inszenierung“ kann auch heißen: sich den Spielraum eng stecken, der Fotograf nimmt sich zurück und lässt die Objekte für sich selbst sprechen.
Erst die endlosen Serien wurden vom allgemeinen Kunstverstand schließlich als „Konzept“ – und also Kunst rezipiert. Hilla Becher bezeichnet die Wiederholung und die Variationen der Wiederholungen als „Musik“. Die Ähnlichkeiten der Objekte sind groß. Erst wenn sie eng beieinander stehen, sieht man die feinen Unterschiede, Eigenheiten. Noch einmal ein kleiner poetischer Einschub von P. Handke: Von der öden Wiederholung zur seligmachenden Wiederholung: die Freude des Wiederholens wird erst möglich, wenn ich, ins Ungewisse aufgebrochen, ratlos bin.
Um das Paradoxon weiterzuspinnen: die Konsequenz, mit der die Bechers ihre Objekte ablichten, ist Manie und Disziplin, unendliches Fernsehen und Nahsehen in einem. Jede Gruppe von Bildern bringt Ordnung und Chaos zum Ausdruck, die Stringenz der Verschiedenartigkeit genau so wie die Unübersichtlichkeit der Vielfalt.
Von naturwissenschaftlichen Analogien über den kulturhistorischen Wert ihrer Arbeit wurde den Bechers mittlerweile alles zugesprochen. Und auch dass die Bilder über sich hinausweisen, behauptet ein ansonsten hervorragender Bild- und Interviewband von Susanne Lange mit drei melodramatischen Pünktchen im Titel: „Was wir tun, ist letztlich Geschichten erzählen …“
Sind die Motive der Bechers also Objekte einer Handlung oder nur Passanten der Geschichte? Ist das die der Wirklichkeit entsprechende Fotografie? Vielleicht so: Die Bilder erzählen keine schöngeistigen Geschichten, sie beschreiben eine Vielzahl von Passanten im Lauf der Welt, und diese Beschreibungen stehen für sich und leuchten. Dazu die Bechers: „Es geht uns darum zu zeigen, dass es in der Welt der Industrie Aspekte gibt, die nicht rational sind. Dass etwas, das rational oder funktional beginnt, irrational enden kann.“
Literaturnachweis:
Peter Handke: Phantasien der Wiederholung/Vlg.Suhrkamp
Ulf Erdmann Ziegler: Magische Allianzen/Vlg.Lindinger+Schmid
Susanne Lange: Was wir tun, ist letztlich Geschichten erzählen .../Vlg. Schirmer/Mosel
B.+H. Becher: Zeche Concordia/Kataloge der OÖ Landesmuseen
B.+H. Becher: Fördertürme/Vlg. Schirmer/Mosel
Ausstellung: Bernd und Hilla Becher in der Landesgalerie 01.03.-01.05.2007
Kurzbiographie
Hilla Becher
1934 als Hilla Wobeser geboren in Potsdam
Ausbildung zur Photographin, anschließend Arbeit als kommerzielle Photographin in Hamburg und Düsseldorf
1968-1961 Studium und Einrichtung einer Photoabteilung an der Kunstakademie in Düsseldorf
Bernd Becher
1931 geboren in Siegen
1947-1950 Lehre als Dekorationsmaler
1953-1956 Studium an der Akademie der Künste in Stuttgart
1957-1961 Studium der Typographie an der Kunstakademie in Düsseldorf
1959 Beginn der Zusammenarbeit von Bernd und Hilla Becher
1961 Heirat von Hilla Wobeser und Bernd Becher
Beide Künstler leben und arbeiten in Düsseldorf.
Foto: Idee und Inszenierung: Dietmar Tollerian. Geknipst von Reinhard Winkler, olé.
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