Sensible Ausserirdische
Im Katalog zur Ausstellung wird eine relativ offene Rahmensetzung zwischen Kunst und Therapie vorgeschlagen: Vier Künstlerinnen stehen einmal mehr der Kunst, einmal mehr der Therapie nahe. Wie sind die Künstlerinnen diesbezüglich zu verorten und welche Vorteile bringt eine solche relativ offen gehaltene Rahmensetzungen – für Kunst und für Therapie?
Wir haben uns bei der Auswahl der Frauen bewusst für vier Künstlerinnen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung und nicht für vier Borderlinerinnen, die kreativ tätig sind, entschieden. Insofern ist für uns klar, dass Tamar Whyte, Anita Kaiser-Petzenka, Karin Birner und Irene Apfalter im Kunstbereich zu verorten sind. Der Vollständigkeit halber sollte hinzugefügt werden, dass Irene Apfalter zwar mit einigen Bildern in der Ausstellung vertreten ist, dass ihr künstlerischer Ausdruck jedoch vor allem durch die Literatur passiert. Das spannende an allen vier Frauen ist aber gleichzeitig, dass sich bei ihnen Kunst und Therapie eben nicht ausschließen. Wer sich ihre bisherigen Lebensgeschichten ansieht, wird schnell merken, welche existenzielle Rolle die Kunst im Leben von jeder von ihnen gespielt hat bzw. nach wie vor spielt – sie ist ebenso als therapeutisches Element zu sehen. Ich glaube, dass unsere Rahmensetzung in dem Sinn nur die logische Konsequenz dessen ist, was wir vorfinden. Würden wir sagen, wir präsentieren „nur“ Kunst, würden wir möglicherweise einem Trend im aktuellen Kunstbetrieb folgen, dabei jedoch der Lebensrealität der Künstlerinnen nicht gerecht werden. Würden wir sagen, es ist „nur“ Therapie, würden wir die ästhetischen Qualitäten der Werke nicht anerkennen und ihnen ebenso wenig gerecht werden. Der Vorteil ist also das Transparentmachen einer ohnehin vorhandenen Komplexität und der Verzicht auf die Anpassung an populäre Strömungen, Trends oder eine simplifizierende Marktlogik.
Borderline steht als Begriff für so etwas wie einen „Grenzgang“. Es gibt wohl eine Reihe von Merkmalen, die die Krankheit definieren, ich nenne den Aspekt der Sprachlosigkeit. Sie schreiben, dass Borderline natürlich nicht ursächlich für eine künstlerische Begabung ist, andererseits aber sozusagen zu Ausdruck zwingt, der mehr als Ästhetik ist. Um welche Prozesse der Ich-Veräußerung geht es hier?
Sie haben völlig Recht damit, dass Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung oft große Schwierigkeiten haben, sich anderen mit ihren Emotionen mitzuteilen. Wie sollen sie das auch tun, wenn sie selbst nicht wissen, woher das Chaos in ihrem Inneren kommt, wenn sie nicht spüren, ob sie wütend oder traurig sind und wenn sie aus einer permanenten inneren Anspannung heraus unter enormem Handlungsdruck stehen. Hinzu kommt, dass viele BorderlinerInnen lange kein Gefühl dafür entwickeln können, wer sie „eigentlich“ sind. Das, was die Fachwelt als Identitätsdiffusion bezeichnet, heißt eigentlich nichts anderes, als dass sich Betroffene einmal als die größten Stars erleben, nur um sich im nächsten Moment bereits für überhaupt nicht mehr lebensfähig oder auch nur lebenswert zu halten. Bei vielen BorderlinerInnen herrscht der Eindruck vor, immer nur durch eine Art Maske zu kommunizieren bzw. Teil eines permanenten Theaterstücks zu sein. Darin liegt, denke ich, auch die Antwort auf ihre Frage, denn genau diese Maske braucht es vielleicht nicht, wenn zu Pinsel und Farbe gegriffen wird.
Ich denke aber auch, dass Traumata in diesem Zusammenhang eine große Rolle spielen. Die Mehrzahl der Borderline-betroffenen Personen ist polytraumatisiert, und jedes Trauma hinterlässt eine Art Sprachlosigkeit. Es schiebt sich wie eine trennende Wand zwischen mich und den/die andere/n, was zu einem Gefühl von großer Einsamkeit bzw. „Andersartigkeit“ führen kann. Borderline-Betroffene bezeichnen sich nicht zufällig oft als Außerirdische oder Menschen von einem anderen Stern. Ich würde den kreativen Ausdruck deshalb von einem traumatherapeutischen Standpunkt aus auch als einen möglichen Zugang zu Erlebnissen sehen, die im Gehirn nur fragmentarisch und zum Großteil nonverbal abgespeichert wurden.
Ich nehme das Bild „Normsuppe löffeln“ von Karin Birner (am Cover). Sie schreiben, dass es für einen Prozess der Gesundung nicht so sehr wichtig ist, einer wie auch immer zu definierenden Norm zu entsprechen, sondern sich auf eigene Zielsetzungen und vorhandene Ressourcen zu beziehen. Nun ist es ja fast schon offensichtlich, dass zwar jeder ein Gefühl für „Normalität“ hat, andererseits die Gesellschaft keine fixen Normen mehr zu kennen scheint …
Was Sie ansprechen, ist die Frage nach der „Heilbarkeit“ von Borderline, die ich – im Sinne vieler Fachleute – mit dem Verweis auf „Recovery“ beantworten würde, ein Begriff, der sich wohl am ehesten mit „Wiedergesundung“ übersetzen ließe. Recovery-AnhängerInnen gehen nicht mehr von einer „Heilung“ im eigentlichen Sinne aus, sondern vom Erreichen individueller Ziele durch die Nutzung eigener Ressourcen. Statt Diagnosen geht es ihnen um persönliche Sinnfindung. Genau darauf, glaube ich, dürfen Borderline-Betroffene völlig zurecht hoffen … auch wenn sie vielleicht immer noch recht sensibel und krisenanfällig bleiben werden. Die bisherigen Lebensgeschichten von Irene Apfalter, Anita Kaiser-Petzenka, Karin Birner und Tamar Whyte zeigen, dass man lernen kann konstruktiv mit seinen „Eigenheiten“ umzugehen.
Ich nehme ein anderes Bild „… vor die Hunde gehen“ von Anita Kaiser-Petzenka. Auch sie wirft eine soziale Frage auf. Borderline-Merkmale wie existenzielle Realangst und Entfremdung sind hier auf einer Ebene verdeutlicht, die ganz allgemein zu spüren sind. Können sie über die Künstlerin etwas sagen – welche Ausdrucksweisen, welche Motivation stehen hinter ihren Werken?
Das Bild bringt in der Tat eine Lebensrealität der Künstlerin – nämlich die des finanziellen „Über-die-Runden-Kommens“ recht gut zum Ausdruck. Wie Sie richtig sagen, geht Anita hier auf eine Realität ein, die viele psychisch kranke Menschen, aber auch andere Gruppen der Gesellschaft – wie prekär lebende Personen – heute kennen, nicht zuletzt Menschen, die im Kunst- und Kulturbetrieb tätig sind. Viele müssen auf das Privileg (denn das ist es ja schon lange geworden) einer fixen Anstellung verzichten. Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung haben es in meinen Augen besonders schwer, in unserer leistungsorientierten Gesellschaft Fuß zu fassen, da sie nun einmal in der Regel weniger belastbar als der Durchschnitt sind. Im positiven Sinne gesehen, sind sie dafür oft sehr sensible Individuen, die wie Seismographen, die Gefühle ihrer Umgebung erfassen. Wenn sie am „richtigen“ Ort sind und weder Über- noch Unterforderung eintritt, können sie absolut Erstaunliches leisten.
Was Anitas „Geschichte“ betrifft kann ich Ihnen sagen, dass Sie den Kampf um eine „druckfreie Nische“ am Arbeitsmarkt gottseidank hinter sich hat; sie bezieht eine Fixpension, von der sie leben kann – wenn ich sehr kritisch bin, sage ich „überleben“ kann, denn die Höhe einer derartigen Pension ist natürlich ein weiterer Diskussionspunkt (den Anita immer wieder auch in ihrer Kunst thematisiert). Trotz allem sagt Anita heute, dass ihr dieses „fixe Grundeinkommen“ viel Druck genommen und wesentlich zu ihrer Stabilisierung beigetragen hat. Karin und Tamar haben diese Art der Pension nicht, und ich musste leider schon oft erleben, wie sehr sie Leistungsdruck und finanzielle Sorgen an ihre Grenzen gebracht haben; für beide ist es leider nach wie vor oft ein (Überlebens-)Kampf, den sie jedoch in meinen Augen ganz beachtlich (oft auch noch mit viel Humor) meistern.
Sie zitieren an anderer Stelle die englische Dramatikerin Sarah Kane, die in den späten 90er Jahren ein Shooting Star der Theaterszene war und die, was ich weiß, mit 28 Jahren Selbstmord begangen hat. Sie schrieb zum Beispiel von „Schnee und schwarzer Verzweiflung“. Dies bedeutet genauso ein gewisses Bekenntnis zu Kitsch und Archaik wie das positive Selbstbild, das Anita Kaiser-Petzenka von sich entworfen hat. Wann ist Kitsch heilsam oder welche Archetypen tauchen in den Bildern auf?
Finden Sie die Bilder von Anita kitschig? Ich glaube, dass ich diese Kategorie hier nicht anwenden würde. Bei der Archaik bin ich jedoch ganz bei Ihnen und selbstverständlich auch bei den Archetypen. Es ist schwierig dieses komplexe Thema hier in wenigen Worten abzuhandeln. Ich kann Ihnen in dem Sinn auch nicht mehr als Schlagworte bieten. Ein Beispiel für archetypische Symbolik wären die Schlangen in den Bildern. Sowohl in dem Werk „Die Schlangengrube“ von Karin Birner als auch in „Böse Fesseln – gefangen“ von Anita Kaiser-Petzenka wirken die dargestellten Frauen extrem bedroht durch die dargestellten Tiere. Bei anderen Künstlerinnen tauchen Quallen oder Kraken in einem grundsätzlich ähnlichen Zusammenhang auf – im Endeffekt handelt es sich also immer um auf irgendeine Art und Weise „verschlingende“ Tiere, die für etwas stehen. Es gibt aber auch sehr positiv besetzte Archetypen wie das innere Kind, das häufig in den Bildern vorkommt. Hier sind wir glaube ich an einer Schnittstelle, an der es sehr spannend, aber auch sehr schwierig wird, wissenschaftlich „sauber“ zu arbeiten, denn häufig stellt sich die Frage, was kam zuerst: Das innere Bild oder der/die TherapeutIn, der/die sich gemeinsam mit der Künstlerin auf die „Suche“ nach dem inneren Kind gemacht hat?
Sie haben eine Dissertation zum Thema „Kunst von Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung“ geschrieben. Was hat Sie persönlich motiviert und wie sind Sie zu diesem Thema gekommen?
Das Thema hat sich aus meiner beruflichen Laufbahn heraus ergeben. Ich habe Kunstgeschichte studiert und gegen Ende meine Ausbildung immer stärker gespürt, dass mir der Kontakt zu den KünstlerInnen fehlt. Ich wollte also weg von der rein stilistischen Betrachtung hin zu einer Auffassung von Kunst als einer Form der menschlichen Kommunikation, womit ich mich gleichzeitig einer biographischen Methodik angenähert habe. Durch einige Praktika im Sozialbereich habe ich die Psychotherapieausbildung als für mich spannende Möglichkeit der Weiterbildung entdeckt. Ich bin noch im Rückblick sehr froh darüber, dass ich in meinem Doktorat, mein Interesse an Kunst und an Menschen zusammenbringen konnte. Es war im Endeffekt auch keine Arbeit, die ich alleine geschrieben habe – im Gegenteil, die vier Künstlerinnen, deren Werke Sie heute in Hartheim sehen, und ich haben schon damals intensiv zusammen gearbeitet. Dass das ganze nun zu einem Ausstellungsprojekt geworden ist, das dank der tatkräftigen Unterstützung von Kristiane Petersmann, der Koordinatorin der KulturFormenHartheim, realisiert werden konnten, ist mehr als ich jemals erwartet hätte. Am Anfang stand nur der Wunsch gewisse Menschen zu verstehen – die Kunst hat mir persönlich Antworten auf viele Fragen gegeben.
„tales of a borderline“ bis 31. Jänner 2010
KULTURFORMENHARTHEIM, Schloss Hartheim, 3. Stock
Mo, Di, Do 09.00–14.00 h oder nach persönlicher Vereinbarung: Mag. Kristiane Petersmann, Tel.: 0699 12576685,
E-Mail: k.petersmann@institut-hartheim.at
Führungen nach Vereinbarung möglich
www.talesofaborderline.com, www.institut-hartheim.at
„ … vor die Hunde gehen“ von Anita Kaiser-Petzenka
„Bodypainting Bild“ von Anita Kaiser-Petzenka
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