Klumpfuß Schwellfuß oder das Blut der Wassermelone

„Monsieur Ibrahim und die Blumen des Korans“ in diesem Herbst im Theater Phönix und „Ödipus“ in den Kammerspielen – Martin K. Menzinger ließ sich zu einer Erinnerung inspirieren. Ein Essay über das Theater.

„Es zieht mir zwischen de Auge wie ein Messer.“
Woyzeck; Georg Büchner

Ja und dann bin ich ihr gefolgt … Damals in diesem Sommer vor vielen Jahren. Ich saß als Zu­schauer im Theater und war ob dem Spiel dieser Schauspielerin so sehr beglückt, daß ich mich in diesem Theaterstück so ganz und gar vergaß … Woyzeck. Georg Büchner. Das Fragment. Eine Zer­stückelung. Die Schauspieler spielten auf Säge­spä­nen und Woyzecks Mord an seiner Marie war ein Kunststück der Regie. Denn in dieser In­szenierung stach Woyzeck wie von Sinnen mit einem Messer auf Maries Körper ein, der im Fleisch der Frucht einer Wassermelone sein Blut­bad fand. Ich ging immer wieder in dieses Stück, um Maries Schnörkellosigkeit ihres Schauspiels im Wandel ihrer Figur zu sehen. Und das Ge­mäl­de dieses Mordes in der Zerberstung dieser Was­sermelone im Sand der Bühne im Mond der Ma­nege. Es war eine Abschlachtung. Was für eine Er­schütterung. Ich hatte mich in diese Schau­spie­lerin verliebt. Und so bin ich ihr gefolgt … Da­mals. In diesem Sommer vor vielen Jahren. Wo­chen später traf sich im Zauber eines Augen­blicks unser Blick. So manches Mal gibt’s dies nun doch tatsächlich … Das Gefühl Rührung. Im Leben so wie im Theater.

Der Schauspielkünstler Günther Treptow ist ein Mimenkünstler von dieser Gestalt. Er ist ein Be­schwörer von Sprache und seine Dramatisierung von Eric-Emmanuel Schmitts Erzählung „Mon­sieur Ibrahim und die Blumen des Korans“ im Thea­ter Phönix in diesem Herbst war ein Traum­spiel vielerlei Figuren. Das Kind Momo findet im Alten Monsieur Ibrahim seinen Freund und im Laufe der Handlung einen Vater. Günther Trep­tow erzählte uns diese Geschichte über das Ge­heim­nis des Lächelns mit Tränen in den Augen … Günther Treptows Schauspiel in der Verwand­lung vom Greis zum Kind und vom Kind zum Greis war eine Sternstunde der Mimenkunst. Am Ende einer langen gemeinsamen Reise in das Land „Geburtsmeer“ spricht Monsieur Ibrahim im Angesicht des Todes auf dem Sterbebett zu seinem Momo … „Momo, du weinst um dich, nicht um mich. Ich habe ein gutes Leben gehabt. Ich habe ein schönes Alter erreicht. Ich habe eine Frau ge­habt, die vor vielen Jahren gestorben ist, die ich aber noch immer liebe. Ich habe meinen Freund Abdullah gehabt, den du mir grüßen mußt. Mein kleiner Laden ist gut gelaufen. Die Rue Bleue ist eine hübsche Straße, auch wenn sie nicht blau ist. Und außerdem hatte ich dich.“

Ich saß im Theater und hab geweint. Ganz leis. Ganz still.

Dann zog ich durch die Stadt und fiel in einem Zufall sonderbarer Vorsehung in eine Luke. Eine Bar … Tristesse. Einsamkeit. Männer. Frauen. In einer Ecke saß ein Kind mit Zitronenlimonade. Das Kind trug einen Klumpfuß. Und auf einer Lein­wand gab’s Sex. Hard Core Sex. Das Kind mit der Zitronenlimonade lallte so ganz und gar irr und wirr und griff sich in der feuchtfröhlichen Be­lustigung der Trunkenen immer wieder in den Schritt. Dann jagte man dieses Kind mit dem Klump­fuß in die Finsternis der Nacht.

Ödipus’ Tragödie in der Verkrüppelung seines Schwellfußes ist so eine ganz und gar schicksals­trächtige. … Auf einem Fest macht diesem Un­glück­seigen ein Betrunkener Andeutungen, daß er nicht der leibliche Sohn seiner Eltern sei. In der Beunruhigung ob dieser Aussage befragt Ödipus das Orakel in Delphi und der Orakelspruch läßt Ödipus wissen, daß er der Mörder seines Va­ters und der Mann seiner Mutter sein werde. In der Verstörung ob dieser Prophezeiung zieht Ödipus in die Weite der Ferne und gerät im Laufe die­­ser Wanderschaft in einen Raufhandel. Im Zu­ge dieser Auseinandersetzung tötet Ödipus einen Mann … König Laios. Ödipus’ Vater. Auf der Flucht vor dem eigenen Schicksal befreit Ödipus Theben vor der Sphinx und wird zur Belohnung als Gemahl von Iokaste zum König Thebens er­nannt.
Dieses Schauspiel läuft zur Zeit in einer sehr starken Inszenierung der Regisseurin Bernarda Hor­res in den Linzer Kammerspielen und wir sind als Zuschauer Zeuge von Ödipus’ Werdegang über den Gestein des Kithärons bis zur Auslö­schung im Licht der Blendung. Bernarda Horres Regie ist in der Verdichtung ihrer Bilder so ganz und gar Komposition im Sinne von Abstraktion. So sitzt Ödipus im Weiß der Bühne in der Um­armung eines Kindes, ja, um nicht zu sagen, seines Kindes in der Abgeschiedenheit des Gebirgs. Wir hören das kläglich verzweifelt anmutende Wei­­nen dieses Kindes, das dann in der Ver­wand­lung der Figur zum Priester Teiresias Ödipus die Wahr­heit offenbart. Ödipus verfällt der Hybris und er­kennt dann in diesem Drang zu Wahrheit die Lö­sung seines eigenen Rätsel Mensch … Kö­nig Ödipus ist der Mörder seines Vaters Laios und der Ge­mahl seiner Mutter Iokaste und der Bruder seiner Kinder. „O Fluch! Das Ganze ist nun klar heraus. / Du Licht, zum letzten Mal blick ich dich an: / Gezeugt von denen, die es nicht gedurft, / Mit denen lebend, die ich fliehen mußte, / Und tötend, die ich niemals töten durfte!“

Der Schauspieler Konstantin Bühler spielt seinen Ödipus mit viel Zärtlichkeit und geht in der Ent­blößung seines Schauspiels an die Grenze … Und so manches Mal gar drüber hinaus. Was für eine Ohnmacht. Was für eine Erschütterung. Groß­ar­tig! So wie damals im Theater bei Georg Büchners Woyzeck, der den Körper seiner Marie im Blut einer Wassermelone in Tausend Stücke schnitt. Woyzecks Schmerz. Ödipus’ Verzweiflung. Und der Grund all dieser Zerstörung immerzu ungestillte Liebe. Momo findet dieses Glück in der Rue Bleue. Und Günther Treptows Tränen in den Au­gen als Kind und Greis sind Zeugnis dieser Glück­seligkeit. So manches Mal gibt’s dies nun doch tatsächlich … Das Gefühl Rührung. Im Theater so wie im Leben. Ja und dann bin ich ihr gefolgt … Meiner Schauspielerin mit der Wassermelone und der Regenpelerine. Meiner Marie. Wochen spä­­ter traf sich unser Blick im Zauber eines Au­gen­blicks und wir küßten uns. Damals. In diesem Sommer vor vielen Jahren.

Ödipus; Kammerspiele Landestheater Linz: 12. Dez., 19.30 h

Quellen:
Woyzeck; Georg Büchner. Kombinierte Textfassung von Henri Poschmann. Insel Verlag Anton Kippenberg. Leipzig 1984.
König Ödipus; Sophokles. Übertragung von Karl Arno Pfeiff. Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen 1969.
Griechische Mythologie; Robert von Ranke-Graves. Rowohlt Taschenbuch Verlag. Reinbek 1984.
Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran; Eric-Emmanuel Schmitt. Amman Verlag & Co. Zürich 2003

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12/06
FotoautorInnen: 
Norbert Artner

„Ödipus“: Bettina Buchholz (Teiresias), Konstantin Bühler (Ödipus), Sprechchor (Chor, Priester)

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