Verdichtungen an Rändern und mittendrin oder: „Bevor ich vereise muss ich verreisen“

Michael Glawoggers neuer Spielfilm heftet sich an die Fersen eines neureichen Twenty something, der mit seinem Freund ein Sozialporno-Spiel namens Slumming betreibt.

Die beiden Protagonisten provozieren in der Vor­stadt und ihren Cafés soziale Schwächlinge, verabreden sich mit Frauen, die bei den Dates mit der Handykamera fotografiert werden, unterm Tisch zwischen die Beine. Als sie auf den sturzbe­trunkenen Vaganten-Dichter Kallmann stoßen, dis­lozieren sie ihn kurzerhand: von Parkbank zu Park­bank, vom Wiener Westbahnhof zum Bahn­hof Znojmo/Znaim. Nicht nur seine Spuren verlieren sich und finden sich fortan neu.
Slumming ist ein Roadmovie, dessen Reifenspu­ren sich zuerst intensiv, später etwas ruhiger durch die Beziehungen seiner Protagonisten pflügen. Glawogger gelingt ein fulminanter Start in 96 überwiegend dichte Minuten, der den Zuseher förmlich in die Geschichte reißt. Die anfänglich intensiven Bilder werden in ihrer Energie später von der Figur Kallmann weiter getragen. Von Pau­lus Manker wird dieser Säufer und Dichter im wahrsten Sinn verkörpert, exzessiv, ohne Spar­sam­keit im Ausdruck und dennoch auf Fein­hei­ten nicht verzichtend. Seine Rhythmik in Mimik und Körperbewegung diktiert den Film über wei­te Strecken. Und sein verbales Rotzen, wie etwa „Foascheine in Oasch eine“, setzt die Wegmarken dazu. Glawoggers zentraler Protagonist – öfters auch Mittelpunkt von Martin Gschlachts hervorragender Kamera – hat sein gesellschaftliches Ticket nie gezogen. Am Beginn des Films entgeht er den Kontrolleuren in der U-Bahn, im Kof­fer­raum wird er nach Znojmo verschleppt und im Ge­päckraum eines Reisebusses kommt er nach Wien zurück. Sein Gegenspieler Sebastian, von Au­gust Diehl verkörpert, hat alle Tickets per Zu­fall und ohne zu bezahlen gelöst. Das Navi­ga­ti­ons­system seines Autos versichert ihm, dass die Rou­te „in der angezeigten Richtung“ liege. Sebas­tian ist der vermeintliche Herr seiner Wege. Von al­lem unabhängig kompensiert er seine gesellschaftliche Entwurzelung durch gottgleiche Über­legen­heits­spielchen, die der Film mit kühlem, aber wei­chem Licht, elektronisch-nüchternen aber me­lo­diösen Sounds zu differenzieren weiß. Und im Close-up paaren sich schließlich auch im Ge­sicht Sebastians Abgebrühtheit und Unsicher­heit, Angst und Sehnsucht. Die Extrovertiertheit, das Leben an intensiven Rändern, verbinden Se­bas­tian und Kallmann. Doch bei all der gesellschaftlichen Distanz muss der Berührungspunkt eine Dritte sein. Die Volksschullehrerin Pia (Pia Hierz­egger) fordert die Gleich­­gül­tigkeit Sebastians her­aus; sie wird durch ihren Eigensinn für ihn interessant. Den Ernst seines Spiels durchschaut Pia allerdings erst spät. Auf die Sprünge hilft ihr Se­bas­tians Sekundant Alex (Michael Ostrovsky), den von Beginn an bei der Kallmann-Geschichte ein we­nig das Gewissen plagt, obschon er sich den Reizen des Slumming nicht entziehen kann. Pia hingegen ist und bleibt konsequent und macht sich, ganz Telemach, schließ­lich in Begleitung Hertas (die rauchige Maria Bill als Dichter­freun­din) auf die Suche nach Odysseus Kallmann.
Slumming ist ein Roadmovie der verschobenen Re­­a­litäten und verrückten Wahrnehmungen. Ve­xierbilder tauchen immer wieder auf, Bambis im Schnee, Gartenzwerge aus einem zugefrorenen Teich und rücken so zurecht, was nie recht war. Wer verreist, vereist nicht. Das erkennt und er­lebt am Ende nicht nur Kallmann.
Kallmann: Michael Glawogger sagt, die Einflüsse auf diese Figur seien auf persönliche Erlebnisse, auf einen Protagonisten in seiner hochklassigen Fußball-Doku-Soap „Frankreich wir kommen“ (Er­öffnungsfilm Diagonale 99) ebenso wie auf die Person des Dichteranarchisten Hermann Schür­rer zurückzuführen. Und tatsächlich sind auch die An­­leihen an letzteren da: Kallmann fährt mit der U-Bahn nach Ober Sankt Veit, wo der Dichter lan­ge lebte. Er tummelt und säuft sich durch die un­noblen Cafés und er ist das perfekte Opfer, mit Lo­kal- und Gesellschaftsverbot, ganz wie Schürrer.
Der Tod des gebürtigen Wolfseggers Hermann Schür­rer jährt sich am 29. November diesen Jah­res zum 20sten Mal. Das Motto einer Memorial­nacht des Wiener Aktionsradius Augarten im April „Bevor ich vereise muss ich verreisen“ könnte auch Glawoggers Film eingeschrieben sein – bei all der Dunkelheit und dem Schnee, der Kälte, den Entfremdungen. Anschauen sollte man sich Slumming auf jeden Fall, denn es gilt, bei gelungenen Schuss- Gegenschüssen im Pro­ta­gonisten­drei­eck, filmischen Spiegelungen, gelungenen Codes und authentischer Visualisierung des Plots das Spielfilmtalent eines Regisseurs zu entdecken, das sich an die Kraft des Doku­men­taristen Glawogger immer mehr anzunähern scheint.

slumming:  seit 24. 11. im City Kino, Linz

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