Verdichtungen an Rändern und mittendrin oder: „Bevor ich vereise muss ich verreisen“
Die beiden Protagonisten provozieren in der Vorstadt und ihren Cafés soziale Schwächlinge, verabreden sich mit Frauen, die bei den Dates mit der Handykamera fotografiert werden, unterm Tisch zwischen die Beine. Als sie auf den sturzbetrunkenen Vaganten-Dichter Kallmann stoßen, dislozieren sie ihn kurzerhand: von Parkbank zu Parkbank, vom Wiener Westbahnhof zum Bahnhof Znojmo/Znaim. Nicht nur seine Spuren verlieren sich und finden sich fortan neu.
Slumming ist ein Roadmovie, dessen Reifenspuren sich zuerst intensiv, später etwas ruhiger durch die Beziehungen seiner Protagonisten pflügen. Glawogger gelingt ein fulminanter Start in 96 überwiegend dichte Minuten, der den Zuseher förmlich in die Geschichte reißt. Die anfänglich intensiven Bilder werden in ihrer Energie später von der Figur Kallmann weiter getragen. Von Paulus Manker wird dieser Säufer und Dichter im wahrsten Sinn verkörpert, exzessiv, ohne Sparsamkeit im Ausdruck und dennoch auf Feinheiten nicht verzichtend. Seine Rhythmik in Mimik und Körperbewegung diktiert den Film über weite Strecken. Und sein verbales Rotzen, wie etwa „Foascheine in Oasch eine“, setzt die Wegmarken dazu. Glawoggers zentraler Protagonist – öfters auch Mittelpunkt von Martin Gschlachts hervorragender Kamera – hat sein gesellschaftliches Ticket nie gezogen. Am Beginn des Films entgeht er den Kontrolleuren in der U-Bahn, im Kofferraum wird er nach Znojmo verschleppt und im Gepäckraum eines Reisebusses kommt er nach Wien zurück. Sein Gegenspieler Sebastian, von August Diehl verkörpert, hat alle Tickets per Zufall und ohne zu bezahlen gelöst. Das Navigationssystem seines Autos versichert ihm, dass die Route „in der angezeigten Richtung“ liege. Sebastian ist der vermeintliche Herr seiner Wege. Von allem unabhängig kompensiert er seine gesellschaftliche Entwurzelung durch gottgleiche Überlegenheitsspielchen, die der Film mit kühlem, aber weichem Licht, elektronisch-nüchternen aber melodiösen Sounds zu differenzieren weiß. Und im Close-up paaren sich schließlich auch im Gesicht Sebastians Abgebrühtheit und Unsicherheit, Angst und Sehnsucht. Die Extrovertiertheit, das Leben an intensiven Rändern, verbinden Sebastian und Kallmann. Doch bei all der gesellschaftlichen Distanz muss der Berührungspunkt eine Dritte sein. Die Volksschullehrerin Pia (Pia Hierzegger) fordert die Gleichgültigkeit Sebastians heraus; sie wird durch ihren Eigensinn für ihn interessant. Den Ernst seines Spiels durchschaut Pia allerdings erst spät. Auf die Sprünge hilft ihr Sebastians Sekundant Alex (Michael Ostrovsky), den von Beginn an bei der Kallmann-Geschichte ein wenig das Gewissen plagt, obschon er sich den Reizen des Slumming nicht entziehen kann. Pia hingegen ist und bleibt konsequent und macht sich, ganz Telemach, schließlich in Begleitung Hertas (die rauchige Maria Bill als Dichterfreundin) auf die Suche nach Odysseus Kallmann.
Slumming ist ein Roadmovie der verschobenen Realitäten und verrückten Wahrnehmungen. Vexierbilder tauchen immer wieder auf, Bambis im Schnee, Gartenzwerge aus einem zugefrorenen Teich und rücken so zurecht, was nie recht war. Wer verreist, vereist nicht. Das erkennt und erlebt am Ende nicht nur Kallmann.
Kallmann: Michael Glawogger sagt, die Einflüsse auf diese Figur seien auf persönliche Erlebnisse, auf einen Protagonisten in seiner hochklassigen Fußball-Doku-Soap „Frankreich wir kommen“ (Eröffnungsfilm Diagonale 99) ebenso wie auf die Person des Dichteranarchisten Hermann Schürrer zurückzuführen. Und tatsächlich sind auch die Anleihen an letzteren da: Kallmann fährt mit der U-Bahn nach Ober Sankt Veit, wo der Dichter lange lebte. Er tummelt und säuft sich durch die unnoblen Cafés und er ist das perfekte Opfer, mit Lokal- und Gesellschaftsverbot, ganz wie Schürrer.
Der Tod des gebürtigen Wolfseggers Hermann Schürrer jährt sich am 29. November diesen Jahres zum 20sten Mal. Das Motto einer Memorialnacht des Wiener Aktionsradius Augarten im April „Bevor ich vereise muss ich verreisen“ könnte auch Glawoggers Film eingeschrieben sein – bei all der Dunkelheit und dem Schnee, der Kälte, den Entfremdungen. Anschauen sollte man sich Slumming auf jeden Fall, denn es gilt, bei gelungenen Schuss- Gegenschüssen im Protagonistendreieck, filmischen Spiegelungen, gelungenen Codes und authentischer Visualisierung des Plots das Spielfilmtalent eines Regisseurs zu entdecken, das sich an die Kraft des Dokumentaristen Glawogger immer mehr anzunähern scheint.
slumming: seit 24. 11. im City Kino, Linz
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