Berliner Lesebühnenphänomene
Berliner Lesebühnen verbinden Literatur, Performance und Auflegerei zur Party, bekannte Lesebühnen sind zum Beispiel die Surfpoeten oder LSD (Liebe statt Drogen). Sind Lesebühnen demnach nur ein Phänomen? Für literarische Qualität ist ein Phänomen allein nicht interessant, andererseits werden mitunter die Rahmen von Textproduktion und Qualitätskriterien verschoben und somit eigene Standards geprägt: Wenn für Leseshows wöchentlich neue Texte und Party produziert werden, dann sieht das Ergebnis nun einmal anders aus, als wenn im herkömmlichen Sinn an einem Romanentwurf gebastelt wird.
Tatsache ist, dass es im November in Linz zwei Veranstaltungen gab, die mit Lesebühnen zu tun hatten: Indirekt mit dem ehemaligen Berliner Lesebühnenautor Wladimir Kaminer auf der Uni Linz (Kaminer ist mit Wiglaf Droste wahrscheinlich der bekannteste Autor mit diesem Ursprung), außerdem direkter und zum zweiten Mal als „Berliner Lesebühne 02“ im Gasthaus Alte Welt als Veranstaltung von HC Stöger und der GAV. Eingeladen waren Martina Brandl und Andreas Krenzke (alias „Spider“), dazu im Sinne der Begegnung zur lokalen Literatur Günther Lainer und Harald Gebhartl. Krenzke etwa schreibt für beide oben genannten Lesebühnen und ist mittlerweile im deutschsprachigen Raum mit seinem soeben erschienenen Buch „Im Arbeitslosenpark“ unterwegs (Siehe Buchtipps). Mit ihm gingen bei der Lesung erfolgreich ins Gehirn geprügelte Slogans wie „Lassen sie ihr Geld für sich arbeiten“ eigene Wege und entwickelten auch ohne Party unheimliche Pointen und eine Geschwindigkeit, „die Texten erst ihre Qualität gibt, sie ein anderes Mal aber in Schwachsinn kippen lassen“. In Linz dominierte er mit seiner Berliner Kollegin Martina Brandl die Lesung – nutzte sozusagen den Berliner Heimvorteil in Linz. Auch wenn Günther Lainer unbeeindruckt und durchaus nicht witzlos mit abgründiger Behäbigkeit konterte, ist dies eventuell ein Hinweis, atmosphärische Modifikationen in der (hoffentlichen) Zukunft der Veranstaltung vielleicht zu überdenken und die Idee der Lesebühnen etwas spezifischer zu adaptieren, nicht unbedingt nur auf ein Phänomen von woanders zu bauen.
Berliner Lesebühnen sind unter anderem Reaktion auf das Scheitern von Integration im herkömmlichen Kunstumfeld – angeblich antiintellektuell und zu leicht in die Spaßgesellschaft integrierbar. Dabei sind das Hauptpublikum der Lesebühnen Künstler, (Jung-)Akademiker, Arbeitslose und andere „Prekarier“. Das betrifft oder zumindest betraf ebenso auch Phänomene wie Kaminers Russendisko und den „Club der polnischen Versager“ (siehe Interview auf Seite 8), die sich in Berlin übrigens in unmittelbarer Nähe zueinander befinden.
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