Aus der Ferne – Kulturhauptstadt Istanbul

AutorIn: 

Ein Versuch, in acht Tagen einen Eindruck einer Millionenstadt (je nachdem wen man fragt, hat Istanbul 13, 15 oder gar 19 Millionen) zu gewinnen, kann nur scheitern. Trotzdem prägen sich Bilder, Situationen und Wörter ein, die hier wie­dergegeben werden sollen. Mehr nicht.
Schnell. „In this city, you have to be schnell“, ruft mir Deniz zu, nachdem er meine Hand ge­schnappt hat und mich zwischen den gerade mal stehenden Autos auf die andere Straßen­sei­te zieht, „if you’re not schnell, you’re schnell dead“. Schnell sagt er deshalb, weil es eines der wenigen deutschen Wörter ist, die er kennt, was an­ge­sichts des rasenden Tempos seiner Stadt und der Langsamkeit meiner Stadt zu einem Para­do­xon wird. Ich bleibe trotz der Schnelligkeit meiner Beine, zu der sie sich binnen kürzester Zeit als absolute Überlebensnotwendigkeit entschlos­sen haben und der Beweglichkeit meines Kör­pers angesichts der Massen an Menschen, an und zwischen denen er sich vorbeischlängeln muss, staunende Beobachterin, die wie ein Schwamm alles aufsaugt, was sich an visuellen Ein­drü­cken bietet. Istanbul bemüht sich gerade intensiv zu einem der wenigen Orte zu werden, in die ich mich auf Anhieb verliebe, weil sie mich aufsaugen. Gegensätzlicher geht wohl kaum. Wäh­rend in der Istiklal Massen an westlichen Ge­schäf­ten vorbeiziehen, bietet sich nur um die Ecke ein ruhiges und trotzdem lebendiges Bild, bleibt der Autobusfahrer, der einen vor einer Se­kunde fast noch über den Haufen gefahren hätte, stehen, öffnet die Tür und ruft einem zu, wohin er fährt und ob man nicht mitfahren wol­le. Männer um die 60 versammeln sich auf der Fähre an der Reling, um die Möwen mit Bro­cken von Brot derart zu füttern, dass sie, die Männer, den größten Spaß dabei haben, weil die Möwen Kunststückflüge vollführen müssen, um die ih­nen zugeworfenen Brotstücke zu fangen. Man muss Jetons kaufen, um mit öffentlichen Ver­kehrs­mitteln zu fahren, an dem einen Automa­ten wechselt man die Scheine, am anderen kauft man die Jetons, an einem anderen wirft man sie ein, man durchquert ein Drehkreuz und steht schließlich auf einem Straßenbahnsteig, der von allen Seiten zugänglich ist, auch ohne Jetons – schwarz fährt trotzdem niemand. Und rote Ver­kehrsampeln sind nicht mehr als Beiwerk, das die Stadt in ihrem ohnehin von der Farbe Rot – aufgrund der überall weithin sichtbaren, riesigen, stets und unabhängig von Windrichtung per­fekt wehenden türkischen Flaggen – geprägten Antlitz noch bereichert – das gilt für Autofahrer wie für Fußgänger. Befinden sich also ausreichend Fußgänger auf dem Zebrastreifen, müssen Autofahrer halten, egal ob sie nun Grün ha­ben oder nicht (was war die andere Farbe nochmal?)
Gürütülü. Das Wort, das sich anhört wie Vo­gel­gezwitscher, steht für „lärmig, krachend, laut“. Gü­rütülü ist es hier Tag und Nacht. Bauma­schi­nen und die Wagen der Müllabfuhr werden nur nachts angeworfen, da sie tagsüber kaum Platz in den Straßen fänden. Gürütülü ist es in den Clubs, den Bars, den Mehanes und so freundlich wie das Wort selbst sind jene, die es erzeugen. Istanbul ist – zumindest in den acht Tagen meines Verwei­lens – eine der freundlichsten Städte überhaupt. Sie bleibt auch freundlich, wenn man sich die un­verzeihliche Dummheit erlaubt und auf die Frage nach dem besten Istanbuler Fußballverein ant­wor­tet. „Fenerbahce – phhh“ ruft der Taxifahrer aus, nimmt die Hände, während er fährt, vom Lenk­rad und zupft an seinem T-Shirt, als wolle er Dreck abschütteln. Galatasaray, was sonst. Ein Glück, dass er uns trotzdem weitertransportiert. Nie­mand wird in Istanbul lange mit einem Stadtplan auf der Straße stehen, ohne dass nicht mindestens fünf völlig ortsunkundige aber sehr freundliche Men­schen herbeieilen und ihm hilfreich zur Seite stehen. Dass sie sich dabei anschreien und miteinan­der wild diskutieren, was für ein Depp doch der eine sei, weil er meint, das gesuchte Ziel sei dort, darf man keinesfalls persönlich nehmen, in Istan­bul will offenbar jeder mit irgendetwas be­schäf­tigt sein, und sei es nur ein Tourist, den man voller Über­zeugung und ohne böse Absicht in die völlig falsche Richtung schicken kann. Spätes­tens nach zehn Minuten steht der Fremde wieder an der gleichen Ecke und bietet sich als willkommene Abwechslung an.
Füniküler. Die Stadt hat ein eigentümliches Sys­tem, sich selbst, ihre BewohnerInnen und vor al­lem den öffentlichen Verkehr zu organisieren. Hat man das Gefühl, man habe einen Teil verstanden, ändert sie das System, um die Menschen flexibel zu halten, nehme ich an. Die An- und Ablegestel­len der Fähren etwa werden mehrmals im Jahr ver­legt. Dass Reiseführer und Stadtplangestalter­Innen da nicht mithalten können, ist klar. Meine liebste Bahn ist die Füniküler, die genau zwei Sta­tionen hat: Taksim-Platz und Kabatas, jene Able­ge­stelle, von der man zurzeit (April 2010) auf die Prinzeninseln übersetzt. U-Bahnen, Tünels, Füni­kü­lers und Straßenbahnen werden, erzählt Deniz, dann errichtet, wenn der Bürgermeister des be­tref­fenden Stadtviertels gerade Lust dazu und Geld hat. Die einzelnen Linien müssen dabei keineswegs miteinander verbunden sein, wozu gibt es schließlich die Dolmus – Sammeltaxis, die erst fahren, wenn sie voll sind, entstanden aus einem Selbstorganisationssystem von Berufs-Pendlern. Das Errichten von Tünels und Fünikülers entspricht teilweise auch der Art und Weise, in der Wohnbauten, Bürokomplexe und Olympiastadien errichtet werden. Prestigeprojekte, die nicht un­be­dingt bewohnt oder vermietet sein müssen. Wo­bei kaum etwas vermietet ist, sondern die Woh­nungen meist billig von der Stadt verkauft werden – ein politisch gewieftes System hat aus ar­men Einwanderern Besitzende und Kapitalisten gemacht – schließlich steht die islamisch-kon­ser­­vative Regierungspartei AKP für wirtschaftlichen Fortschritt.
Das Olympiastadium wurde vorsorglich gebaut, nachdem sich Istanbul einige Male als Aus­tra­gungs­ort beworben hatte. Nach dem Motto, ir­gendwann muss es klappen, und wenn sie erst unser Olympiastadium sehen ... Der Stadt­for­scher Orhan Esen erzählt während seiner phantastischen Führung an die Peripherie Istanbuls, vorbei an teils leer stehenden etliche Quadrat­ki­lo­meter großen Textilstädten und Vororten, die aus Hochhäusern bestehen – deren Dichte in Is­tanbul die dritthöchste weltweit nach Hong­kong und New York ist – eine nette Geschichte: Als es wieder und trotz Stadium nicht klappte mit Olym­pia, wollte man das Olympiastadium den drei gro­ßen Istanbuler Fußballvereinen zur Verfü­gung stellen – die wollten dort aber nicht spielen, weil die Zuschauertribünen zu weit entfernt vom Spielfeld sind, und das entspricht keineswegs der emotionsgeladenen Art, wie in Is­tan­bul Fußball geschaut wird. Also wird es nun vom Fußballverein der örtlichen Stadtver­wal­tung genutzt, das Olympiastadium.
Kulturhauptstadt. Kulturhauptstadt? Ein einziges Plakat kreuzt unseren Weg, das auf Istan­bul 2010 hinweist. Inhaltlich war in den acht Ta­gen meines Verweilens nicht viel oder im Prin­zip gar nichts davon zu merken, und Istanbuler wie Deniz meinen, europäische Kulturhaupt­stadt zu sein, habe keine große Relevanz für Istanbul – eine Haltung, die sich im Übrigen auch bei einem Rundgang durch das Istanbul Modern be­weist. Der Zugang zu zeitgenössischer Kunst ist im ersten Moment frappierend naiv und unzeitgemäß; und macht deutlich, warum so viele türkische Kunststudierende nach Europa drängen. Der zweite Blick – Gespräche mit Kuratoren und jungen KünstlerInnen, Besuche in Off-Space Ga­lerien – entwirft ein durchwegs differenziertes Bild, das einer dynamischen, offenen und mutigen Szene, die nicht zuletzt mit der zunehmenden Islamisierung der Weltstadt Istanbul kämpft. Kulturhauptstadt an sich findet in Istanbul je­denfalls nicht statt – das künstlerische Komitee ist ja schon längst zurückgetreten oder zurückgetreten worden, und die Stadtverwaltung hat die gefällige Bespielung – oder eher das Geld da­für, wie Deniz meint – in die Hand genommen und steckt es in Brücken- und andere Bau­pro­jek­te. Apropos Brücke: die Brücke über den Bos­porus, die Europa mit Asien verbindet, hat ein Lichtkonzept, das ein wenig an das Lentos erin­nert. Es bleibt das einzige, das in diesen Tagen an Linz erinnert.

Wer mehr über Istanbul wissen will, könnte folgende Bücher les­en: Kai Strittmatter „Gebrauchsanweisung für Istanbul“, Piper Verlag; Orhan Esen, Stephan Lanz „Self Service City: Istanbul“, b-books Verlag oder am besten selbst hinfahren und wenn möglich eine Stadtführung mit Orhan Esen buchen.

23
Zurück zur Ausgabe: 
05/10

& Drupal

spotsZ - Kunst.Kultur.Szene.Linz 2006-2014