Nicht nur tragische Figuren

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Zur siebten Ausgabe von Crossing Europe wurde in Kooperation mit der Arbeitkammer erneut ein von KINOREAL und Dominik Kamalzadeh kuratierter Programmschwerpunkt zum Thema „Arbeits­welten“ präsentiert. Auch der Schwerpunkt „Reclaiming Space“ erwies sich als hochinteressant.

Der Dokumentarfilm „Jobcenter“ (Österreich 2009) von Angela Summereder zeigt Langzeit­arbeits­lo­se, die in diversen Seminarprogrammen des Ar­beits­marktservice Oberösterreich intensives Coa­ching für Bewerbungssituationen erfahren. Dabei gelingen Sumereder, die selbst arbeitslos und spä­­ter in einem Jobcenter tätig war, genaue Por­träts ihrer vier Protagonistinnen: zwischen An­pas­sung und stiller Rebellion, zwischen Gehor­sam und Selbst­demontage, zwischen Resignation und er­hoff­­ter Selbstfindung jenseits der Formel „Ich will. Ich kann. Ich muss“, die in einer Semi­narsi­tua­tion in Katharina Pethkes „In Dir muss brennen“ (Deutschland 2009) zu lesen ist. Der Film zeigt Mo­tivationstrainer bei der Arbeit, in der die Gren­ze zwischen Psychotherapie und Coa­ching oft flie­ßend ist. Dabei erweisen sich die Trai­ner als tragische, von den eigenen Grund­sät­zen überforderte Figuren, die mit ihrem unbe­ding­ten Wunsch nach persönlicher Verwirk­li­chung nicht selten selbst in Depression und Sinn­krise zu enden drohen.
Beide Filme zeigen eine desillusionierte Gesell­schaft, die Arbeitslosigkeit nicht mit sozialpolitischen Maßnahmen, sondern durch Arbeit an der eigenen Persönlichkeit zu bekämpfen sucht.
Weitere Bilder gesellschaftlichen Wandels ent­wer­­fen „Milltown, Montana“ von Rainer Komers (Deutschland 2009) und „Petropolis – Aerial Per­spec­tives on the Alberta Tar Sands“ (Kanada 2009) von Peter Mettler, die ökologische Fragen mit der Illustration von Industrialisie­rungspro­zes­sen zu ver­binden suchen.
„Milltown, Montana“ entfaltet in ruhig fotografier­ten Bildern die Überreste einer einst florie­ren­den Industriestadt in den USA. Dabei werden weniger Aufnahmen aus der Fabrik denn präzis gestaltete Aufnahmen von der Landschaft und ih­ren Be­woh­nern, bei Volksfesten, in Bars oder beim Vieh­trei­ben auf der Weide gezeigt.
Der im Auftrag von Greenpeace entstandene Film „Petropolis“ verschreibt sich hingegen einer Vo­gelperspektive, die keine Menschen, dafür Luft­auf­nahmen zerstörter Wälder und von der Erd­öl­förderung verseuchter Flüsse neben noch unberührte Landstriche stellt.

Auch die in Zusammenarbeit mit dem Ober­öster­reichischen Architekturforum von Lotte Schrei­ber kuratierte, erstmals stattgefundene Filmreihe „Re­claiming Space“ stellte am Beispiel des Ham­bur­ger Stadtteils St. Pauli die Frage nach dem Ver­schwinden des öffentlichen Raums. „Empire St. Pauli – von Perlenketten und Platzverweisen“ (Deutschland 2009) von Irene Bude und Olaf Sob­czak erzählt vom Nutzen und Nachteil der Gen­tri­fizierung und zeigt am Beispiel Stadtplanung und Wohnungsbau unter anderem, wie ehemalige St. Pauli-Bewohner durch Mietwucher, neue Nut­zungs­­konzepte und mangelnde Sanierungs­maß­nah­men bestehender Altbauten vertrieben und aus öffentlichen Plätzen Privatgrundstücke werden. Der Film leiht den Betroffenen eine Stimme und erzählt von ihrem nicht immer vergeblichen Kampf gegen pri­vate Investoren und politische Entschei­dungs­trä­ger.
Von ganz anderen alternativen Lebensentwürfen schließlich erzählt „This Moment is Not The Same“ (Deutschland/Schweiz 2010) von Marion Neu­mann, der dem Projekt „Laboratoire Village Nomade“ folgt, in dem eine renovierungsbedürftige Schwei­zer Villa zum Künstlerhaus umfunktioniert wird. Entstanden ist keine klassische Do­kumentation bildender Kunst, vielmehr ein vielstimmiges Por­trät eines besonderen Orts und einer besonderen Atmosphäre.
Auch Michael Palms „Body Trail“ und Derek Ro­berts’ „Corners“ (beide Österreich 2008) erzählen Geschichten von der Kunst als Interaktion mit dem öffentlichen Raum und erschaffen dabei neue poetische Szenarien. In „Corners“ sieht man den Regisseur im Eiltempo durch Wien sprinten. Im Eiltempo vorbei an Ecken, dort, wo man sie nicht vermutet, an ungewöhnlichen Häuser- und Stra­ßen­ecken, an denen er kurze Stunts vollführt. Ge­nau komponiert und mit einer grandiosen Schnitt­technik, die bereits bei „Jobcenter“ ins Auge fiel, präsentiert sich „Body Trail“, der eine Tanzaktion im öffentlichen Raum dokumentiert und in Zu­sam­menarbeit mit dem Künstler Willi Dorner entstand.
„Street Art – Die vergängliche Rebellion“ (Deutsch­­land 2009) von Anne Bürger und Ben­jamin Cantu porträtierte abschließend Street Art-Künstler in Eu­ropa und den USA und ihr politisches Enga­ge­ment, ihr programmatisches Bemü­hen um eine Rückeroberung öffentlichen Raums jenseits kommerzialisierter Reklameflächen.
Es bleibt angesichts der Budgetkürzungen nach Linz 09 lediglich zu hoffen, dass „Reclaiming Space“ im nächsten Jahr bei Crossing Europe sei­ne Fortsetzung finden wird.

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05/10
FotoautorInnen: 
Filmstill aus „Corners“

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