Ausrangierte Angstzustände

Fast alle Menschen haben es schon getan. Viele tun es mehrmals die Woche, einige sogar täglich. Mehrmals. Die Dauer reicht von einer knappen Minute bis hin zu zehn, letzteres kennt der Großteil jedoch höchstwahrscheinlich nur vom Hörensagen. Die Motivation dahinter ist vielseitig, manche tun es aus rein geschäftlichen Gründen, oder weil sie es bequemer finden, als sich stufenweise höher zu arbeiten, andere, um so schnell wie möglich nach oben zu kommen und wieder andere schlicht und einfach um des Kribbelns willen, dass sich dadurch ab und an in der Bauchgegend breitmacht. Doch ein scheinbar unbedeutender Umstand kann jegliche Freude ins Gegenteil ver­keh­ren. Sobald sie es mit einem Fremden tun müssen, füh­len sie sich peinlich berührt und verkrampft. Ihre Bli­cke wandern in alle möglichen und unmöglichen Ecken, wohl darauf bedacht, trotz körperlicher Nähe Distanz zu wahren. So verbringen sie diese unangenehme knappe Mi­nute oder auch mehr stumm und möglichst bewegungslos, bis schlussendlich das Ziel erreicht ist, und jeder er­leichtert und befreit seinen eigenen Weg gehen darf.
Worin aber liegt der Grund für dieses bemerkenswert starke Unwohlsein, das sich in den Menschen breit macht, so­bald sie mit einer unbekannten Person Lift fahren? So un­ausweichlich mit der Existenz eines unbekannten Men­schen konfrontiert zu werden, ohne Möglichkeit zur Flucht, beschert ja erwiesenermaßen nicht nur in Aufzügen unangenehme Gefühle. Die dichtgedrängte U-Bahn, Warte­zim­mer oder auch Familienfeste, wo plötzlich von einem er­wartet wird, mit dem Onkel sechsten Grades Konversation zu machen, sind Augenblicke unerträglichster Natur. Doch nirgends wird es einem derart unmöglich gemacht, das Bedürfnis nach Abstand zu einem Fremden zu stillen, wie eingesperrt in einer winzigen Liftkabine.
Derartige Umstände, ab und an auch gepaart mit der be­unruhigenden Vorstellung, sich mehrere Meter über dem Erdboden zu befinden, sind ein idealer Nährboden für kleine Ausbrüche von Paranoia, wie zum Beispiel Gedanken über etwaige dunkle Seiten des Mitliftfahrers. Es laufen der­maßen viele Verrückte auf der Welt herum, wer weiß, ob er nicht ein Taschendieb, Mörder, anderweitig Krimi­nel­ler, oder – noch schlimmer – ein notorischer Hintern­zwi­cker ist, der den Umstand „Aufzug“ schamlos auszunutzen weiß? Beliebt ist auch die Überlegung, wie oft Aufzüge eigentlich stecken bleiben oder abstürzen und ob man dem darauf folgenden Tod vielleicht durch einen gut ge­timten Sprung in die Luft entgehen könnte. Apropos Luft- wie lange reicht der Sauerstoff überhaupt?
Wie immer, wenn prähistorische Instinkte mit der industrialisierten Welt nicht zurechtkommen, kann es helfen, ein paar Mal tief durchzuatmen und versuchen, möglichst ent­spannt zu bleiben. Das wird am besten durch das Leug­nen der Existenz des Anderen erreicht, die betreffende Person nicht zu grüßen, anzuschauen oder zu berühren ist dabei von essentieller Wichtigkeit. Die meisten modernen Menschen haben das schon so tief verinnerlicht, dass al­les, was in ihnen von Amok laufenden Urängsten noch üb­rig ist, sich bloß durch eine unangenehme Verkrampft­heit ausdrückt. Sollte sich jemand dennoch übermäßig unwohl fühlen, empfiehlt es sich, einfach die Treppe zu nehmen.

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