Von der Dringlichkeit.

Erstmalig fand am 12. November 2010 in der Bruckneruni ein vierteiliges „Fest Neuer Musik“ statt. Verdienstvoller Anstifter dieser veritablen Festivität war Michael Hazod von der IGNM, der dieses gemeinsam mit Bruckneruni-Professor Sven Birch künstlerisch verantwortete. Norbert Trawöger reflektiert über Neue Musik und über die neue „Nachhut der Vorhut“.

Die „Internationale Gesellschaft für Neue Musik“ wurde am 11. August 1922 im Salzburger Cafe Ba­zar von 24 Komponisten zur Förderung zeitgenös­si­scher Musik – ohne Rücksicht auf ästhetische An­­schauungen, Nationalität, Rasse, Religion oder politische Einstellung – gegründet. Die Grün­dungs­mitglieder zählten größtenteils zur Avant­garde und sind heute allesamt weltberühmt. 1988 formierte Alfred Peschek eine Oberösterreichische Sektion der IGNM, die Hazod Ende 2009 übernommen hat.

Ein Gründungsmitglied war Arnold Schönberg. Er notiert ein Jahr vor seinem Tod im amerikanischen Exil: „Wenn zeitgenössische Musik eine Genera­ti­on später noch nicht aufgehört haben soll zeitgenössisch zu sein, so muss eine Jugend, die für sie kämpft, imstande sein lang genug jung zu bleiben.“ (Unveröffentlichter Aphorismus, 5. Juni 1950)

Das Fest begann mit einer „Werkstatt Junger Kom­­ponistenInnen“ der Bruckneruni. Stiliana Popova-Kuritko (*1959) bot mit ihrem viersätzigem „Mär­chen aus dem All“ für Flöte, Akkordeon und Kon­trabass (Ensemble XXI) eine minimalistische, durch­aus originell gefärbte Sphärenmusik, die dann we­nig Entwicklungsdynamik an den Tag legt. Das „Fest Neuer Musik-Ensemble“ führte unter Hazods Leitung David Longas (*1982) Ensemblestück „De­pression“ auf, in dem der Venezolaner vielleicht in den knackenden südamerikanischen Urwald lockt, nicht weniger aber auch nicht mehr. Die dritte Ur­aufführung war Raimund Vogtenhubers (*1973) „Implizit“, in dem er sich mit Reihentechnik und Zeit beschäftigt. Vogtenhuber lässt aber auch mit einem Satz aus seiner Werbeschreibung aufhorchen: „Ich versuche dem Stück neben den mechanisch wirkenden Verläufen und Motiven auch emo­tionale Momente zu verleihen.“ Ist die Verleihung von Emotion eine Kompositionstechnik? Bei aller Sympathie und der Frage nach Zeitgenos­sen­schaft für die authentischen Beiträge der drei „jungen“ Komponisten, bleibt doch eine Frage über: Wo bleibt zumindest der Versuch an Unversuchtem, ein leichtes Ausscheren aus der Tradition, ge­schwei­ge denn ein Hauch von Radikalität?

Hat Schönberg Recht? Aber bevor man imstande sein kann, lang genug jung zu bleiben, muss man erst zu kämpfen beginnen. Der Diskurs rundum die­ses Thema wäre ein unüberschaubarer, aber zu­erst müsste er einmal wirklich stattfinden. Die soge­nann­te „klassische“ Musik und ihre Ausbildungs­stät­ten waten in den so glorreichen Tümpeln und Tempeln der Vergangenheit. In den Neunziger-Jah­ren studierte ich mit anderen Kollegen an der Wie­ner Musikuniversität Schönbergs Bläserquintett op. 26 ein. Es ist eines der ersten konsequenten Zwölf­tonwerke des Vaters der Zweiten Wiener Schu­­le. Bei solchen Gelegenheiten ist es hilfreich eine Partitur bei der Hand zu haben. Nur diese gab es im Bestand der weltberühmten Musikhochschule nicht, die noch dazu in dem Ort steht, in dem Schön­­berg das Licht der Welt erblickte. Signifi­kan­tes Bei­spiel dafür, dass unsere Musikuniversitäten vor al­lem Pflegeheime für Vergangenes sind. Recht so. Keinen Tag will ich meinen Bach, Mozart, Bruck­ner, oder wie sie alle heißen, missen. Aber erzieht man damit nicht auch erfindende und spielende Musi­ker eher zu brillanten Museumswärtern, die mit Den­ken und Fühlen auf der Höhe der Zeit gar nicht konfrontiert werden? Ja, es wird besser. Noch da­zu kommt, dass sich die Rolle der Musik in unserer Gesellschaft immer mehr auf die Aufgabe der Unterhaltung zurücklehnt. Ein plakativer Satz, viel­leicht. Aber aktives Zuhören will gelernt sein, wie Geschmack und Stillsitzen. Und jedes „Vor“-Wort (Vorstellung, Vorurteil ...) ist sowieso unschlagbarer Hinderungsgrund eigenes Lauschen, Horchen und Hören zuzulassen. Neu, modern, zeitgemäß, zeit­­genössisch sind heiß umfehdete Begriffe. Re­den wir mal von dringlicher Musik – Eine, die wer schrei­ben, denken, erfinden muss. Eine, die mich for­­dert, in mir umgeht, mich vor Fragen nicht schla­­fen lässt. Eine, die über sich selbst nachdenkt.

Im zweiten Teil des Fests, das von Alice Ertlbauer informativ moderiert wurde, erprobte sich das „En­semble für Neue Musik der Bruckneruni“ unter Simeon Pironkoff vortrefflich an Klassikern wie Morton Feldmans „Routine Investigations“ und Tris­­tan Murails nach wie vor sensationeller Spek­tralkomposition „Treize couleurs de le soleil couchant“ (1978). Erfreulich auf welch hohem Ni­ve­au das Uni-Ensemble spielt, dies wäre vor einigen Jahren noch nicht vorstellbar gewesen und hat auch mit Pironkoff zu tun, der wie ein unabringbarer Marschall durch die Klangfelder zu führen versteht. Höhepunkt dieses Sets und somit auch einer des ganzen Abends war Alexander Stan­kov­skis „A House of Mirrors II“ – ein dichtes stropos­kop­­artiges Klanggeflecht, das in seinem „klaus­tro­phoben“ Spiel von Proportionen dringlichen Dich­ten zusteuert.

Dringlichkeit weniger im Sinne eines Wollens als eines Müssens. Kühne Ansage. Aber im Reservat der klassischen Musik gibt es noch ein Ghetto, in dem die Neue Musik sitzt, wenn auch die Initia­ti­ven und Hörplätze mehr geworden sind. Das hei­mi­sche Neue Musik-Pionierfestival „Wien Modern“ ziert sich heuer nicht nur mit dem goldenen Jo­hann Strauß als Werbesujet – der zugegeben zu sei­­ner Zeit wirklich modern war – sondern war in den Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts we­sent­lich moderner als es heute ist. Andererseits blü­hen in Tirol die „Klangspuren“, in Salzburg die „Bien­na­­le“ und die „Dialoge“ und ... Faktum ist aber, dass in den Musikschulen einfach immer noch ganz we­nig Neue Musik gemacht wird. Die Lehrer haben an der Universität studiert und teilen mit ihr die Angst vor Neuem. Irritation, Unruhe, Fra­gen stehen nicht auf den treffsicheren Lehrplä­nen. Diese sind Sa­che der Kunst, aber nicht ihrer Lehrein­rich­tun­gen.

Die Profis des Wiener „ensemble xx. jahrhundert“ führte im dritten Teil neben Altem von Berg und Krenek, das pantonale „Pastiche II“ von Alfred Pe­schek und Rudolf Jungwirths neues „Blake“ auf, das vulkanöse Abgründe beschreitet und sein Ma­terial in einer Art „Cut up“-Technik aus „Resten“ vorangegangener Werke generiert. Tolle Musiker sitzen in dem Ensemble, deren Leiter Peter Bur­wik entlässt sie aber auch bei den Triobeset­zun­gen nicht aus seiner strengen Zeichengebung. – Aus einem Pionier wurde ein unfehlbarer Papst!

Kreneks „Trio“ und Bergs unheimlich glühendes „Adagio aus dem Kammerkonzert“ sind 60 und mehr Jahre alt. In alten Zeiten gedacht, ist es un­ge­fähr der Abstand, der zwischen der Entstehung von Bachs „Kunst der Fuge“ und Beethovens „Ero­ica“ liegt. Mu­sik von gestern wurde damals mehr oder weniger als alt angesehen. Schön­berg hatte sich ge­wünscht, dass die nächsten Generationen seine Musik auf den Gassen pfeifen. Er irrte. Doch wer kennt von ihm viel mehr als seinen abschreckend zwölftönigen Namen? Wer kennt seine Mu­sik? Selbst in den inneren Zirkel der klassischen Musikpro­duk­tion ist er für viele nur ein großer Name.

Zum Finale gab es noch ein stimmiges Portrait des Vorarlberger Kompo­nis­ten Michael Amann, das vom formidablen Uni-Ensemble unter Sven Birch hörbar gemacht wurde. Mit Amanns Musik wur­de eine bemerkenswerte Stim­me unseres Landes laut, dessen Sprache von innen nach innen spricht und dabei durchaus gehörig ausbrechen kann. Sven Birch führte mit Amanns Klavierstück „Die Wolfshaut“ in dunkle Klanggebirge von großen Stim­mungs­weiten. Mit seiner bruchstückhaft-ge­schlossenen „Fantasie“ für 16 Spieler fand dieses Fest einen kräftigen Abschluss.

Dieses Fest war dringlich notwendig. Ein weiteres ist noch dringlicher ge­worden, damit die Nachhut der Vorhut (frz. Avant-garde) wieder eine Vor­hut bekommt.

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12/10
FotoautorInnen: 
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