Aus der Ferne – In Liverpool
Sie trug ein Batman Kostüm. Das Cape war zu kurz und das Kostüm als ganzes zu eng anliegend, die Helden-Stiefel waren zwar nicht aufgemalt, aber über die Kellnerinnenschuhe kniehoch aus Pappe drübergestülpt. Jedes Mal, wenn sie ein Glas oder eine Flasche vom Regal holte, musste sie ihren Körper und die Arme so weit strecken, dass sie eine heldenhafte Pose einnahm, ohne dass es ihr bewusst war. Sie sah wundervoll aus. Noch wunderbarer aber sah sie aus, als sie wenig später vor dem Pub an der Tür lehnte, hastig an einer Zigarette sog und ihr Blick hinaus auf die Duke Street schweifte, unsagbar weit weg – gleichzeitig traurig und angewidert – während hinter ihr das feuchtfröhliche Gegröle der lokalen Karaoke Stars aus dem Pub strömte. Hätte mir das Leben etwas Richtiges beigebracht und mich Filmemacherin werden lassen – ich hätte rund um diese Kellnerin ein trauriges, berührendes Stück geschaffen, das sich um die unerträglich schmale, reibende, schmerzende Grenze zwischen Pflicht und Kür, Erfüllung und Leere, Sehnsucht und Realität windet. So bleibt mir das Bild, das ich nicht verewigt habe, sondern nur einen Moment lang beobachten durfte, als ein Stück Liverpool, wie es sich einer melancholischen, verkitschten Seele wie der meinen darbot.
Liverpool ist eine Stadt, die ihre Geschichte seinen BesucherInnen weder wie einen aufdringlichen nassen Fetzen um die Ohren haut, noch kokett verbirgt. Sie liegt einfach da – und erzählt sich selbst: die leer stehenden Warenhäuser und Hafenanlagen, die Geldnot, die Arbeitslosigkeit, die Straßenzüge voll leerer oder massiv abgewohnter Reihenhäuser rund um das Fußballstadion in Anfield, gleichzeitig das schick neu bespielte Albert Dock, mit italienischen Restaurants, teuren Wohnungen, der Tate Gallery und den Souvenirläden. Das neue Einkaufszentrum wenige Schritte davon entfernt, das Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor bringt, während die Zahl der Hafenarbeiter – also und nicht zuletzt die unbequemen, streikfreudigen DoCKers – drastisch gesunken ist – von 25.000 noch vor vierzig Jahren auf knapp 500 heute. Während der Thatcher-Regierung wagte Liverpool den Aufstand, und wurde nicht zu knapp und nicht allein durch die Abschaffung des lästigen, autonomen Stadtparlaments dafür bestraft. Langfristig investiert wird wohl anderswo im Königreich, und eine Stadt, die keine eigene Industrie hatte, sondern abhängig war von zu verschiffenden Stahl- und Textilwaren, die etwa aus Manchester, Sheffield und Leeds kamen, schlitterte wohl oder übel mit deren Niedergang in ihren eigenen. Dass hier etliche Quadratmeter an zu bespielenden Flächen freigesetzt wurden, liegt auf der Hand – und diesen Umstand nutzen nicht nur die MacherInnen der Liverpool Biennale. Das Visitor Center der Biennale etwa findet sich in einem eiskalten, unbeheizten ehemaligen Haushaltswarengeschäft oder eher Baumarkt, dessen ehemalige BetreiberInnen skurrilerweise den KuratorInnen auferlegt haben, dass alles unverändert bleiben muss – also jedes Stück Fliese oder Tapete, jedes Loch, jedes Schaugeländer, jedes Werbeschild so bleiben muss, wie es vorgefunden wurde. Diese abstruse Eingrenzung erweist sich in vielerlei Hinsicht als Geschenk – etwa wenn eben jene so vorgefundenen Wände zur Inszenierungshilfe der gezeigten Kunst werden, sodass sich die Besucherin mühe- und lustvoll irritiert zwischen „Kunst“ und „Nicht-Kunst“ orientieren muss. Die KuratorInnen machen sich den Zwang intelligent zu Eigen und bespielen jene eigentlich unbespielbaren Räume derart klug und unzwanghaft, dass sich jeder White Cube andernorts dabei nur verstecken kann ob seiner Fadesse. Viele Gebäude, von außen nur als demolierte Industriegebäude wahrgenommen, erweisen sich als in das Kunstprojekt klug eingefügt – wie das „Europleasure International Ltd“ – und fordern einen zweiten, genaueren Blick beim Verlassen. Trotz dieser vielen – manche nur temporär – zu Kunststätten umgearbeiteten ehemaligen Waren- und Lagerhäuser scheint sich Kunst als (Über)lebensmittel nicht oder noch nicht auf die BewohnerInnen ausgewirkt zu haben. Viel eher als die Kunst scheint es wichtig überhaupt zu konsumieren, täuschen etliche Geschäfte, Bars, Pubs und Clubs ein Lebensgefühl vor, das sich wohl nur wenige der knapp 450.000 EinwohnerInnen leisten können und wollen. Ständig und fast überall wird man bemerkenswert freundlich gefragt woher man komme und warum man hier sei – und die Antwort „wegen der Biennale“ bedarf meist einer näheren Erklärung. Auch dass man vor zwei Jahren europäische Kulturhauptstadt war, scheint sich nicht so sehr als Notwendigkeit oder bedeutsames Ereignis ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben zu haben. Liverpool hat schließlich nicht eine, sondern hunderte Geschichten – die der einst extrem reichen Stadt, die ihren Wohlstand nicht zuletzt dem Umstand verdankte, dass von hier hunderttausende Menschen als Sklaven verschifft wurden – eine Geschichte, die seit kurzem und sehr offen im Slavery Museum vermittelt wird. Die der lange Zeit rassistischsten Stadt Großbritanniens, die nach wie vor MigrantInnen eher verlassen als dass sie hierher kommen, gleichzeitig jene der stärksten Gewerkschaften, der wichtigsten Aufstände und Streiks und natürlich die des Fussballs. Aber auch die der viktorianischen Kultur und Hochblüte. Und dann waren da ja noch die Beatles. Welche Stadt könnte sich all diese Geschichten in so kurzer Zeit vor Augen führen, sie verinnerlichen und reflektieren, während sie gleichzeitig dem wirtschaftlichen Bankrott ins Auge sehen muss? Es mag als blanke Nostalgie gewertet werden – aber diese widersprüchlichen Geschichten Liverpools reiben und zerren und reißen und schmerzen an einem wie die Flut an den 100 lebensgroßen Eisenfiguren von Antony Gormley, die er für den Crosby Beach außerhalb Liverpools geschaffen hat. Figuren, die in ihrer Unerschütterlichkeit und Zerrissenheit ihre Entsprechung in der wunderbaren, gleichermaßen standhaften wie traurigen Kellnerin, die an einem Freitagabend in Liverpool in ein bescheuertes Batman Kostüm gezwungen wurde, gefunden haben.
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