… Ein heiterer Versuch über den Menschen …
„Yorick ist ein witziger Kerl! Er kommt uneingeladen zum Frühstück, und wenn man ausgeht, um ihn loszuwerden, so geht er mit aus, in eine andere Gesellschaft, da er glaubt, nirgends unangenehm sein zu können! Geht man wieder nach Hause, so geht er ebenfalls wieder mit, setzt sich endlich zu Tisch, wo er gerne allein und von sich selbst spricht und dort bis spät in die Nacht verbleibt, oftmals, um am nächsten morgen wiederzukommen!“ So beginnt der heitere Versuch über den Menschen Yorick, der sich in Folge natürlich nicht ganz so heiter weiterentwickelt, vielmehr zutiefst eingesponnen in einer Welt von Dingen, Personen und Zusammenhängen, die wenig Rettung auf Erlösung versprechen.
In dem Romantitel „Yorick“ verbirgt sich ein Hinweis auf den berühmten Roman „Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman“ von Laurence Sterne. Wie in diesem klassischen Werk stehen im Vorliegenden die tragikomischen und skurrilen Seiten des Menschlichen, wie auch des Gesellschaftlichen, im Vordergrund. Die im Roman auftretenden Charaktere zeichnen sich durch markante Eigenbezüglichkeit, verschobene Selbstwahrnehmung, insistierende Verhaltensmuster und mangelnde Einsicht im Hinblick auf ihre Wirkung auf andere aus. Sie verkörpern im gewissen Sinne die „Gefängnishaftigkeit“ der individuellen Persönlichkeit und der Subjektivität. Dadurch ergeben sich zwischen diesen Charakteren gewisse Schwierigkeiten, zu kommunizieren. Allerdings werden die Inkompatibilitäten und Missverständnisse nicht allein in der Persönlichkeit der einzelnen Charaktere verortet, sondern auch in der Mannigfaltigkeit und oftmaligen Inkongruenz des Gesellschaftlichen bzw. gesellschaftlicher Gruppen oder Milieus – in dem praktischen Tatbestand also, dass die Welten, in denen wir bzw. die allermeisten von uns leben, klein sind, und darüber hinaus im Wesentlichen sich selbst abbilden. Oder wieder anders gesagt, geht es darum, dass der Mensch weniger gut noch böse, klug noch unklug und dergleichen mehr ist, sondern ganz einfach komisch bzw. dass er von einer fundamentalen Komischheit durchzogen ist. Damit fügt sich Yorick auch ganz gut in eine gewisse Tradition innerhalb der österreichischen Literatur, der Tradition des sprachlich und inhaltlich Verschrobenen, ein.
Zentralfigur ist der von sich selbst nicht eben wenig eingenommene Intellektuelle Yorick, in dessen Sicht der Dinge und charakteristische Verhaltensmuster, Gewohnheiten und Reaktionsweisen der Leser in den einleitenden Stellen kurz eingeführt wird. Eine Überleitung findet statt hin zur Beschreibung des prekären Freundeskreises Yoricks, bestehend aus der immer auf dieselben Männer herein fallenden und meistens selbstbezüglich über Beziehungsprobleme redenden Sabine, dem leutseligen Draufgänger und Extrem-Small-Talker Lasse Benissen, den kreativen Phantasten und ständigen Projektemachern Eisel und Peisel, dem Respekt gebietenden, aber auch von ganz natürlichen menschlichen Schwächen besetzten Anderen Philosophen und dem weltverbesserischen „Philosophenzirkel“, der bei seinen regelmäßigen Zusammenkünften meistens darüber philosophiert, warum der Rest der Menschheit sich nicht an dessen philosophische Empfehlungen anpasst, und darüber ebenso oft in hoch artifizielle Erklärungsmuster verfällt.
Daran anschließend werden einige „Feinde“ des Yorick geschildert: der in der Werbebranche arbeitende, rüpelhafte und derbe, von der „Sozialkrankheit, durch extreme und radikale Wortspenden alle Anwesenden vor den Kopf stoßen müssende“ Garrick, das geschwätzige, tuschelnde und ständig über andere kichernde „Eiserne Dreieck“, sowie die Charaktere der Analytikerin und ihrer Tante als Exemplifizierungen des narzisstisch-hysterischen Persönlichkeitstypus und dessen Bedingtheit durch familiäre Verhältnisse.
Im Anschluss steht die Schilderung, wie Yorick, durch die Kränkungen seiner Feinde angespornt, wie auch durch seine eingebildete Grandiosität, sich darin versucht ein großes Kunstwerk zu schaffen, um der Welt seine Außergewöhnlichkeit zu beweisen, wobei er dazu die Form des Romans wählt. Die Ergebnisse jedoch sind ernüchternd, und schließlich muss er erkennen, dass er sich in seinen Fähigkeiten überschätzt hat, was einige kindische Wutanfälle und schließlich Depression bei ihm auslöst.
Im daran anschließenden zweiten Teil des Romans steht Yorick vor den Scherben seiner Existenz. Als „Kreativer“ gescheitert, versucht er, auf dem Arbeitsmarkt unterzukommen, was ihm aufgrund allgegenwärtiger Verhältnisse nicht gelingt. Im Allgemeinen finden in diesem zweiten Teil häufigere Perspektivenwechsel zwischen den einzelnen auftretenden Charakteren statt. Relativ am Anfang steht z. B. ein sich über etliche Seiten hinziehender Redeschwall von Yoricks Freundin Sabine. Im Anschluss daran gelingt es Yorick (als uneingeweihtes Werkzeug von ziemlich dümmlichen Intrigen), in einer Unternehmensberatungsfirma Fuß zu fassen, deren Aufträge, als Intellektueller, er jedoch verfehlt: Einen Auftrag von Seiten der katholischen Kirche, wieder mehr Gläubige anzulocken, behandelt er mit einem Expose über den Stellenwert von Gläubigkeit und Spiritualität in der Gegenwart und der für ihn selbst befriedigenden Schlussfolgerung, dass die Zeit der hierarchisch organisierten Religion endgültig vorbei sei. Einem weiteren, charakteristisch unscharf formulierten Auftrag eines Großkonzerns begegnet er mit einem Expose über die Machtpolitik der Großbourgeoisie und des Neoliberalismus als von der Großbourgeoisie verfolgten Strategie „zur Enteignung der unteren Schichten“. Von der Unternehmensberatungsfirma zwar gefeuert, ist letzterem Expose jedoch den Beifall des hiesigen „Klubs der Milliardäre“ beschieden (welcher zu allen irgendwo im Land verfassten Dokumente Zugang hat) – im Hinblick auf seine außerordentliche Scharfsinnigkeit und seinen marxistisch geprägten, nüchtern vorgetragenen Kenntnisreichtum. Über einen der Milliardäre wird Yorick schließlich in den Klub eingeführt, und bekommt einige Einblicke in die bizarre und widersprüchliche Welt der Mächtigen und Reichen. Von dem betreffenden Milliardär als intellektueller Gesprächspartner ausersehen, findet sich Yorick schließlich in der Rolle des Zuhörers für die großmannssüchtigen Ausführungen des Milliardärs über Gott und die Welt, allerdings auch über die Weltsicht der Mächtigen, wieder, bis dass dieser an „fortgeschrittener Emotionslosigkeit“ leidende, der Yorick so unvermittelt in seinen inneren Kreis aufgenommen hat, ihn ebenso unvermittelt wieder verstößt, um sich Yoricks Freundin Sabine zuzuwenden; und diese ebenfalls bald wieder zu verstoßen.
Nach einigen anderen Erlebnissen Yoricks erfolgt im abschließenden dritten Teil ein Schwenk auf die Person der Sabine. Es stellt sich schließlich heraus, dass der vorangegangene Roman und überhaupt die Figur des Yorick eine Schöpfung und ins Männliche übertragene, niedergeschriebene Selbstreflexion der hochintelligenten, aber vor allem in Beziehungsaspekten infantil veranlagten Psychologin Sabine ist. Damit wiederum wird der dritte Teil formal zu einer Art Spiegelbild des ersten Teils. Auf einer anderen Ebene freilich widmet sich der dritte Teil einem etwas anderen Unternehmen. Während es in den vorangegangenen Teilen darum gegangen ist, wie komisch die Menschen sind, versucht sich jener dritte als einer Exploration, warum sie eben so komisch sind – schließlich handelt er ja auch von einer Psychologin, im Gegensatz zum Philosophen Yorick. In einem abschließenden Epilog wird wiederum aus der Erzählebene des dritten Teils hinausgestiegen. In aller Lapidarität stellt sich an dieser Stelle endlich heraus, dass das Leben der Sabine selbst eine Art Fiktion ist, und Sabine herausfindet, dass sie in Wirklichkeit eine außerirdische Sozialanthropologin ist, die nach Beendigung ihres Forschungsunternehmens von einem UFO zurück in ihre bessere Heimatwelt gebracht wird, in der es kein Leid gibt. Sie scheint nur zu Forschungszwecken hier gewesen zu sein – um zu erfahren, was ein „Mensch in Schwierigkeiten“ eigentlich ist. Wobei es dem Leser natürlich offen steht, dies glaubhaft zu finden oder nicht.
In den Roman findet sich eine Vielzahl von Thematiken behandelt. Neben einer Menagerie an dysfunktionalen Verhaltensweisen und emotionalen und Beziehungsidiotien der meisten auftretenden Charaktere fällt auch eine Vielzahl philosophischer oder zumindest intellektueller Betrachtungen ab. So enthalten die zwanghaften Intellektualisierungsleistungen Yoricks oder auch des Milliardärs Mearsheimer, die ihnen zu dem Zweck dienen, „ihre Persönlichkeit zusammenzuhalten und sich der Präsenz ihres Ich zu vergewissern“, Meditationen über Globalisierung und Neoliberalismus, die mittelfristige Zukunft der internationalen Beziehungen, das metaphysische Streben des Menschen, das Wesen der modernen Kunst, die Mittäterschaft an politischen Verbrechen, den Sinn des Lebens und, ins Absurde gewendet, Themen wie der Physik der Schwarzen Löcher im Weltall oder Ähnliches. Handlungshintergrund sind greifbare Zusammenhänge wie prekäre Arbeitsverhältnisse, politische Verdrossenheit, Scheitern in der Selbstverwirklichung und sozial verbindlicher Narzissmus, einhergehend mit recht umfassender Einsamkeit. Allgemein findet sich ein Nebeneinander von Erhabenem und Lächerlichem, dem Vernehmen nach ja ein beliebtes Prinzip der gegenwärtigen Literatur. Das ist freilich ein Prinzip der Satire seit alters her – aber selten in so extremer Form zusammengestellt, zu einer großartig lächerlichen wie packenden Erzählung: Im Blick auf die Menschen und ihr Leid zutiefst humanistisch.
Ein bemerkenswerter Widerspruch im Roman ist, dass die Schilderung der Charaktere eher flächenhaft scheint – um dann aus der völligen Distanz der ironischen Betrachtung, unerwartet, am Ende in eine groteske Entwicklungspsychologie gewendet zu werden: Als ob man sich am Ende gar nicht nah genug kommen könnte, alles gar nicht tief genug in sein Gegenteil fallen könnte.
Was eine reale Verlags-Geschichte des Autors vom „witzigen Kerl Yorick“ anbelangt: Absurderweise hat sich im Zuge der Verlagssuche nach einer langen Durststrecke die Frankfurter Verlagslandschaft bei Philip Hautmann gemeldet und ihr Interesse am „Yorick“ bekundet. Allerdings erst nach der Zusage des Trauma Verlages. Wir sehen das positiv: Das lässt auf auf weitere Werke hoffen.
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