Also, wie stellt man sich Russland vor?
Minus 20 Grad, lächelnde Matrjoschkas und trinkfreudige Menschen?
Entgegen meiner Erwartungen ist mir hier ständig heiß – die Temperatur in den Wohnungen kann nicht individuell geregelt werden, das Ausmaß an Wärme wird vom Staat bestimmt. Ich wohne in Medwjedkowo am nördlichen Stadtrand, in einem der großen Chruschtschoby hinter der 4. Stahltüre links. Chruschtschoby ist eine Mischung aus den Wörtern Chruschtschow (Entstehungszeit) und Truschtschoby (Slum). Dort, wo ich unter den „Normalsterblichen“ zurzeit lebe, außerhalb des Gartenrings, ist die Landschaft ziemlich trist. Beton und Asphalt, beides sehr abgerockt, bilden ein Ensemble, das nur durch die glitzernd blinkenden Einkaufsläden oder die regenbogenfarbene Ölspur, die an den Straßen hinunterfließt, gebrochen wird.
Ich war am zugefrorenen Fluss joggen und habe den Eisfischern beim Warten auf verseuchte Fische zugesehen. Danach hat mich beinahe ein Rudel Straßenhunde gefressen. Die sind hier auf sich selbst gestellt und dementsprechend aggressiv wenn man ihr Territorium betritt … ist aber ein tolles „workout“.
Die Gegend ist für österreichische Verhältnisse ziemlich streng. Aber Moskau ist ja angeblich überall gleich gefährlich. Vor der Türe warten Luftboot, Flugzeug und U-Boot. Alles bestens ... Nachts sollte man als Frau nicht unterwegs sein, schon gar nicht zu erkennen geben, dass man Ausländerin ist, und auch in der Metro merkt man, dass ab 11.00 h nachts die weiblichen Passagiere schwinden.
Die Metrostationen, die Propagandapaläste fürs Volk, die bis zu 150 Meter unter dem Erdboden liegen, gehören zu den am meisten beeindruckenden Orten Moskaus. In der über 12 Millionen Einwohner-Stadt werden täglich mehr Personen transportiert, als in New York und London zusammen.
Prüfende Blicke der Aufsichtsbabuschkas begleiten einen, wenn man durch die Ticketkontrolle gedrückt wird. Die Rolltreppen transportieren ihre Passagiere mit rücksichtsloser Höchstgeschwindigkeit und es scheint, als wäre ich eine kleine Praline unter Vielen auf dem Fließband zur Verpackung. Ich bin gespannt, wie ich meine Wege in diesen Menschenmassen mit dem ganzen Equipment am Rücken, zu den Shootings schaffen werde …
Selten reden Menschen miteinander in der Metro. Es ist viel zu laut und es gehört sich hier wohl auch nicht, persönliche Gedanken in der Öffentlichkeit auszutauschen. Noch habe ich zu viel Angst, dieses konzentrierte Schweigen mit einem dezenten Blitz zu verzieren, um dann beeindruckend böse Blicke einzukassieren und eventuell wegen des Fotografier-Verbots aus dem Wagon katapultiert zu werden.
Das Lächeln heben sich die Moskowiter eindeutig für zu Hause auf. Im öffentlichen Raum ist es die unfreundlichste, am schlechtesten gelaunte Stadt, die ich jemals erlebt habe (Also wehe, ich höre jemanden über Wien jammern – der/die wird sofort ausgeflogen). Tritt man jedoch über die Türschwelle in das Private, bringt ihre Gastfreundschaft schon den einen oder anderen Hosenknopf zum Platzen. Schafft man es, die erbosten Blicke der Babuschka (Oma) zu ignorieren, wenn man nicht noch 10 Pilmeni verschlingt, ist einem zumindest ein heftiger Vodka-Kater garantiert. Es ist „Maslenitsa“ – die Butterwoche – und meine russischen Wunsch-Lernsätze für diese Woche sind: „Danke nein, ich bin voll“, „Ich habe genug“, „Nein wirklich, nicht noch eins“ und „Ich explodiere gleich“ oder „Wenn ich noch Einen trinke, muss ich kotzen“.
Moskau lässt mich gerade im Frühling in eine sonderbare Mischung aus Schmutz und Kitsch versinken. Ein eigenartig pompöser Glamour umwebt die Stadt. Äußerlichkeiten und Kleidung sind wichtige Elemente des Stadtlebens, da diese Güter für Normalverdiener kaum leistbar sind und weit über europäischen Preisen liegen. Das Äußerliche bestimmt, wie man sich benimmt und wie man behandelt wird. Im Zuge der ersten Shootings passierte es mir nicht selten, dass ich von einer glamourösen Lady im Nerz abgeholt wurde, um dann mit ihr in ihrem Zimmer im abbruchreifen Haus zu landen. Die Fassade ist besonders wichtig, da „Schönheit“ den Eintritt in ein besseres Leben verspricht. Auch der Blick in den Westen ist vor allem unter der jüngeren Generation stark präsent, als nachahmenswerte Illusion eines schöneren und einfacheren Leben.
Das extrem extrovertierte Konkurrenzverhalten zwischen den Frauen zaubert mir regelmäßig Schauer über den Rücken. Die Rahmenbedingungen sind klar: Wer als Frau weniger als 50 Kilo wiegt, hübsch ist und in hochhackigen Schuhen und Pelzmantel herumspaziert, sich anbietet, kann sich eine gute Zukunft ausrechnen. Mit 25 Jahren gehört man hier zum alten Eisen, man sollte also bis dahin verheiratet und zumindest schwanger sein.
Bei mir stellen sich aber zunächst Tendenzen in Richtung Moskauer Unfreundlichkeit ein: Allmählich bemerke ich auch an mir einen leicht grauen Teint, Augenringe und einen verbitterten Ausdruck im Gesicht ... deshalb mache ich einen Stadtwechsel nach St. Petersburg, wo ja angeblich alles anders ist. Do Swjidanija!
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