Eisbär Knut grüsst den Nordpol wärmstens

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Peter Hodina sagt im Februar im Rahmen der Reihe Dichter über Dichter über Ludwig Hohl: „Das Hohlsche Werk ist ein geordneter Scherbenhaufen – bestehend aus lauter Fragmenten.“ „Alles ist Werk“, schreibt Hohl. „Sogar das Ausruhen vom Werk ist noch Werk, das Atmen, das Tagebuch- und das Briefschreiben“, sagt Hodina. Bei beiden Autoren scheint das „Buch“ nicht wirklich eine Rolle zu spielen. Ein Selbstbericht.

‚Jeden Morgen liest er sich in Scherben auf. Und jeden Morgen setzen sich die Scherben wieder zusammen‘, schreibt Hohl von sich in der dritten Person. Von jedem Menschen genaugenommen. Das Hohlsche Werk ist ein geordneter Scherbenhaufen – bestehend aus lauter Fragmenten. In allerdings antifragmentarischer Absicht.

Förderungspreis der Rauriser Literaturtage 2004. Damals verfassten überraschend die drei JurorInnen (die Germanistin Ulrike Tanzer, die Schrift­stel­ler­Innen Erika Wimmer und Martin Amanshauser), die ich alle drei persön­lich nicht kannte, zusammen die Laudatio, die nicht nur sehr schmeichelhaft ausfiel und sich präzise mit mir auseinandersetzte, sondern die 1:1 mit der Selbsteinschätzung meines vorgelegten Textes ‚Augenlust‘ übereinstimmte, dass es eine wahre Freude war. Das war der seltene Glücksfall, wirklich einmal – erstmals! – ERKANNT worden zu sein, wie man es sich wünscht. Mei­ne Intention war voll herübergekommen. Auch dann später an den polnischen Universitäten in Poznan und Wroclaw bei Lesungen. Und jetzt so gut wie immer. Wirklich dieses beglückende Gefühl von 1:1, dass sich Selbst­einschätzung und Fremdeinschätzung deckten, ohne Aufbau eines suggesti­ven Feldes durch mein persönliches Auftreten und Gemache, allein durch die Texte. Ich bemühe mich auch stets um ein unpathetisches, doch ordentliches Vorlesen, das bis zu den hinteren Reihen verstanden werden kann. Das neue oder alte Pathos, dieses Altburgtheatralische, das manchmal bei Lesungen neuerdings wieder zu hören ist, irritiert mich und stößt mich ab, das Deklamatorische, dieses kulturbarbarische Sich-in-Szene-Setzen.

Da haben sich die Zeiten wieder einmal gründlich geändert: Früher waren auch bei Bewerbungsgesprächen Bescheidenheit, Zurückhaltung und Höf­lich­keit noch Tugenden, heute soll es darum gehen, sich um jeden Preis selber als allerbestens geeignet für den „Job“ vorzustellen und als muskulöser Halbgott mit unverwechselbarer Ellenbogentechnik, als sonnenbebrillter Strah­lefatzke mit Mafiaqualitäten herauszuputzen, auch wenn man ja sehr genau weiß, dass man vielleicht erst in den Job hineinwachsen wird und man im Moment eben noch nicht derjenige ist, nicht einmal in Zukunft wirk­lich sein will, als den man sich da maulaffenhaft präsentiert. Diese Glanz­gestalten in der Weltpolitik: Putin, Sarkozy, vor kurzem noch Schrö­der. Das strahlt durch Medienpräsenz und Medienpermanenz auch auf an­de­re Bereiche aus, selbst auf die Kultur, vor allem in die salärstarken Fest­spiel-Intendanzen hinein. Dieser neue, ja gar nicht mehr so neue, sondern schon allgegenwärtige smarte Typus des „zynisch-aufgeklärten Bewusst­seins“, wie Peter Sloterdijk schon exakt vor einem Vierteljahrhundert es hell­sich­tig voraussah, der sich ubiquitär mit gebleachten Zähnen zur Futter­krippe vordrängt, und wo man dann am Ende nur enttäuscht werden wird, hätte man je auf ihn Hoffnungen gesetzt. Am Ende werfen diese properen Typen das Volk auf die Matte. Und was wird übrigens aus der Natur? Eisbär Knut grüßt den Nordpol wärmstens!

Es fällt mir auch immer schwerer, einen Lebenslauf zu schreiben, weil der bei mir auf jeden Fall ein über lange Jahre unstrukturierter Lebenslauf ge­wesen ist, weil ganze Wochen nur mit Lektüre zugebracht wurden und noch immer werden beispielsweise. Was soll bei einem Schriftsteller ein Lebens­lauf? Meinetwegen mag er einen autobiographischen Roman schreiben, wenn das jemanden noch interessiert bei ihm. Nicht jedes Leben läuft wie ge­schmiert oder am Schnürl. Ein Leben, das scheint heute vergessen zu werden, kann auch in Meditation verbracht werden, abseits. Man kann unter Umständen auch als Passant oder Flaneur die Welt durchqueren, „wie es die schrägen Regen tun“ (Majakowski) – im vordergründigen Sinn „engagiert“ ist das nicht, aber ich denke immerhin noch nach über das „Enga­ge­ment des Schriftstellers“, ich lese auch Sartre diesbezüglich sehr aufmerksam. Gerade 40 Jahre nach 1968 wieder.

Nur: mein Tempo ist anders. So wie der Schweizer Schriftsteller Ludwig Hohl von der „unvoreiligen Versöhnung“ sprach, so könnte man bei mir – wä­re ich wichtig genug –, von der „unvoreiligen Revolte“ (ein Widerspruch in sich! eine Rakete im Schneckentempo!) sprechen, ja ich sag’ mal jetzt: „bedächtige Revolte“...! Auf einmal kommt mir vor, dass es das geben könnte – eine bedächtige Revolte. Weniger der damals proklamierte „Lange Marsch durch die Institutionen“ (freilich, Mao ließ grüßen, Mao – ein noch größeres Monster als Stalin, wie sich mittlerweile herausgestellt hat!), sondern vielmehr „das lange Flanieren durch mich selber, durch die Bücher und die Welt“. Oder nennen Sie es meinetwegen „unvoreilige Emanzipation“ oder „un­voreiliges Outing“.

Indem ich schreibe und ganz gelegentlich nur veröffentliche, oute ich mich. Aber langsam, lento. Schleppend oder verschleppend darf es jedoch nicht werden. Dann muss die Vortragsanweisung gleich auch wieder non lento heißen, sonst verrottet und verschimmelt mir das ganze ja!

Die Achtundsechziger waren zu rasant, sie ließen ihre Lieblingsideen der Reihe nach fallen, stempelten oder „mängelten“ sie durch, wie es in der Buch­­händlersprache so schön heißt. Das ist auch eindrucksvoll. Ich verwei­gere keinem Phänomen, das Respekt verdient, meinen Respekt.

Bin ein ganz schneller Schreiber, das ist ja das Überraschende, doch ein lang­­samer Leser – immer mit dem gespitzten Bleistift in der Hand – und ein noch langsamerer, zögerlicherer Veröffentlicher. Nicht dass ich an der ge­wis­sen Qualität meiner Texte arg zweifelte. Aber ich möchte auf gar keinen Fall mit meinem Mist den Blick auf die Großen verstellen.

Ein Grund meines Zögerns wäre eventuell auch der, dass ich insgeheim ein – möglicherweise antiquiertes – Fortschrittsmodell auf mich noch anwende. Ein mit meinen Texten und den damit parallel einhergehenden Lektüren Zu-mir-selber-Kommen. Der Entwicklungsgang des Geistes. Da doziert noch ein Herr Professor Hegel in mir, obwohl das Pult, von dem er herunterdoziert, mittlerweile schon ganz wurmstichig geworden ist. Die vielfältige, fast unersättliche Lesearbeit läuft auf einer eigenen Schiene, beeinflusst nämlich mein Schreiben gar nicht direkt. Ein Parallelismus zwischen Lesen und Schreiben liegt hier vor, keine Beeinflussung, nicht epigonales Nachmachen des Gelesenen wie beim „Dichten“ in der Pubertät früher. Das Lesen ist das Anstrengende. Das Schreiben ist demgegenüber leicht, ist Erholung von der Lektürearbeit. Ich habe in mir – bildungshumanistisch gesprochen – „oti­um“ und „negotium“ einfach vertauscht, umgedreht. Das geht. Das Schreiben ist mir die wahre Muße, ist ungemein erholsam und – um mit Ho­mer jetzt zu sprechen – „gliederlösend“. Ich könnte das Lesen jetzt endlich einmal weglassen. Die­ses Belesenheits-Gerüst abbauen. Abrüsten.

Doch wenn das alle täten bzw. unterließen, wozu dann schreiben? Manchmal befinde ich mich am Freitagabend als Einziger in einer Instituts­bibli­o­thek an irgendeiner der Universitäten der Städte, in denen ich mich gerade aufhalte. Ringsum türmt sich Geschriebenes zuhauf. ‚Wer wird dies alles jemals lesen?‘, frage ich mich dann ganz naiv. Bis die Bibliotheksaufsicht dann schon wieder mit einem Glöckchen kommt und in Augenhöhe vor mir herumbimmelt, dass es Zeit ist zu gehen. Die Bibliotheken müssten bis weit in die Nacht offen sein – aber wer will das bezahlen? Nokia nicht.

Sie würden erschrecken, wenn Sie das ganze Aus­maß meiner Naivität erkennen würden, ich bin ein Kind der Verwöhnungen der siebziger Jahre des vo­rigen Jahrhunderts, echt „retro“.

Ja, wo waren wir stehengeblieben ... Schließen wir den Kreis. 1:1 auf- und angenommen zu werden, beglückt. Beglückt vor allem deshalb, weil es früher umgekehrt war. Es kam früher – ich meine An­fang der achtziger Jahre des vorigen Jahr­hun­derts – durchaus vor, dass das ganze aufklärerische Publikum mich hinausjagen wollte. Das wa­ren förmlich seelische Steinigungen. Damals herr­schte manchmal noch eine aktionistische Ex­plo­siv­stimmung auch in der Literaturszene. Scha­de, dass es das kaum mehr gibt hier. Ich höre im­mer nur etwas erwachsenere Männer vom „Arsch­auf­reißen“ herummotzen. Der Skandal damals war, dass ein viel zu junger Mensch da draußen etwas wollte. Von wegen Talenteförderung! In den frühen achtziger Jahren überlagerten die sich allmäh­lich etablierenden Ex-Rebellen von 1968 al­les nach­wachsen Wollende.

Warum es immer noch kein selbständiges Buch von mir gibt? – Lesen Sie einmal das Buch von Mar­cel Bénabou mit dem schönen Titel ‚Warum ich keines meiner Bücher geschrieben habe!‘ Auch meine Literatur ist potentielle Literatur. Das meiste sind inzwischen Briefe, Hunderte, sogar Tau­sende Seiten. Rahel Varnhagen zum Beispiel hat fast nur Briefe geschrieben. Aus einer gewissen Liebesbedürftigkeit. Ich will das nicht verleugnen. Bei mir jetzt. Ludwig Hohl schrieb, es ginge ihm nur um den EINEN Leser. Den habe ich aber am ehesten, wenn ich jemanden finde, dem ich ungehemmt Briefe oder Mails schreiben darf, und ich finde auch immer wieder jemanden, der das er­trägt, ja erwartet fast schon wie die morgendliche Tageszeitung. Vielleicht wird das einmal anders wer­den. Und dann presse ich meine Sachen halt zwi­schen die zwei berühmten Buchdeckel. Könn­te sein, dass dann aber der Zug für mich abgefah­ren sein wird, denn das sogenannte Alter wird ei­nem in der heutigen Gesellschaft permanent vorgehalten.

Nun hören Sie mich: Es wird einmal Menschen ge­ben, die tausend Jahre alt werden. Die Medizin wird einmal einen tausendjährigen Menschen zu­standebringen. Ob das wünschenswert ist, weiß ich nicht. Womit soll sich der tausendjährige Mensch dann die Zeit vertreiben? Für einen Leser, der tau­send Jahre Zeit hat, sind Paul Valérys ‚Ca­hiers‘ mit dem stattlichen Umfang von 35.000 Seiten ge­rade gut genug, sobald er Marcel Prousts ‚Su­che nach der verlorenen Zeit‘ auswendig gelernt hat. Und Henri Frédéric Amiels Tagebuch, das von der Leidenschaft der Selbstbeobachtung durchdrungen ist. Aus purer Langeweile, nur zum Zeit­ver­treib wird spätestens ein tausendjähriger Mensch einmal auch meine ‚Steine und Baustei­ne‘ herausgraben – da bin ich zuversichtlich –, und sich die unendliche gottgleiche Ödnis seiner Jahrhunderte zur Abwechslung auch mit diesem Blechspielzeug vertreiben wollen. Er wird mich bald beiseite werfen. Nur wird „bald“ bei einem Zeitvolumen von tausend Jahren etwas ganz an­de­res heißen als heutzutage: Vielleicht liest mich einer von den tausendjährigen Menschen dann ein ganzes Jahr lang ...

Doch übrigens: mein derzeit bevorzugter Brief­part­ner liest mich auch schon bald ein Jahr jetzt.

Biographische Daten:
Veröffentlichungen in Angelika Reitzers „poetencafé“ und seit 2002 laufend „Aurora-Magazin“ im Internet, z.B. „Professor Greif“, „Na­mensvetternschaft“, „Diversités“, „Laufschrift“, „Ein Traum“, „Ge­gen­prägungen“, „Auflösungen“. Vom sich selbst erledigten Studi­um bleiben ca. 20 Leitz-Ordner mit einer außer Rand und Band ge­ratenen unabgeschlossenen Dissertation über Ernst Jünger zu­rück. Rauriser Förderungspreis 2004 für den Text „Augenlust“ (Teil­abdruck in: SALZ, Heft 116/Juni 2004, S. 12-16). Zweiter beim Maria-Zittrauer-Lyrikwettbewerb 2004. Vortrag „Heerstraßen, Saum­pfade und Holzwege der Ethik. Lineamente einer Ethik der Unab­geschlossenheit“ beim Ethik-Symposium der „Philosophischen Aka­demie“ 2004 in Rauris/Salzburg. Peter Hodina hat viele – zum großen Teil noch unveröffentlichte – Geschichten geschrieben, ein „Journal intime“ (insgesamt wohl über 2.000 Seiten), ferner das von Elfriede Jelinek für gut befundene Theaterstück „Abwasch“.

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04/08
FotoautorInnen: 
Reinhard Winkler

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