Die ersten Schritte ins Nichts

AutorIn: 
Die Linzer Performancekünstlerin Natascha Wöss trieb von 4. bis 15. März im Wiener Kosmos­theater mit ihrer Verkörperung einer Kakerlake ihre schauspielernde Mitstreiterin Alexandra Sommerfeld und das Publikum dazu, kulturell auferlegte Denk-, Handlungs- und Gefühlsmuster zu hinterfragen. Die dabei entfachte „Kraft einer Hölle“ wurde von Regisseurin Evelyn Fuchs einfühlsam verstörend in Szene gesetzt.

Eine Frau kommt an den Punkt, an dem sie sich nicht mehr von außen und nach außen definieren lassen will, sondern in sich selbst ihr wahres Ich sucht. In einem gleißend weißen Zimmer, in einer stillen Wohnung lässt der Anblick einer Kaker­la­ke die Dämme des Anstands, der Moral und der Kon­­ven­tionen brechen und G.H., diese gerade von ih­rem Geliebten verlassene Frau, die ersten Schrit­te ins Nichts tun: Sie nimmt die Kakerlake in den Mund. Alexandra Sommerfeld als G.H. ringt mit sich um sich. Sätze so scharfsinnig wie komplex quellen aus ihr hervor, dass sogar Regisseurin Evelyn Fuchs zugeben muss, dass ein Satz alleine einen ganzen Thea­ter­abend füllen würde. „Dort, wo die anspruchvollsten Werke Atem schöpfen müs­sen, dort geht sie weiter …“, schrieb Hélène Cixous über die literarische Qualität der ukrainisch-brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lis­pec­tor (1920-1977), auf deren Roman „Die Passion nach G.H.“ (Suhrkamp Verlag) der Performance­abend „Die Kraft ei­ner Hölle“ beruht. Sommer­feld gelingt es, sich diese Wortgewalt zu Eigen zu ma­chen und mit Emotionen zu besetzen, die erschüttern. An­ge­­spornt von der intensiven Präsenz des grausli­chen Ur­getiers, welches von Natascha Wöss im Bu­toh­tanz mit grotesken Körper­win­dungen zum Leben erweckt wird, entsteht eine Kraft, der man sich als Zu­schauer kaum entziehen kann. Die flac­­kern­­den Bilder einer Videopro­jek­tion (Ulrich Kauf­­mann), die den Körper der Schauspielerin fragmen­tieren und wie in einer Traumsequenz die Ka­ker­lake immer näher kommen und dann wieder entschwinden lassen, führen anfangs in eine Welt ein, in der Wahn­sinn und Erkenntnis nahe beiei­nan­der liegen. Lispector: „Ich setzte den Fuß in die Luft und betrat das Paradies oder die Hölle: Den Mittel­punkt.“ Den Ekel als kulturell vorgeschriebene Regung überwunden, hat G.H. ihre äu­ßeren Schichten abgestreift und sich der Ka­ker­lake an­genähert. Einen Mo­ment lang scheinen sich Mensch und Tier zu ergänzen. Platons Idee der kom­plettierenden Liebe kommt in den Sinn, wird aber von den zuckenden Regungen der Ka­ker­lake verdrängt. „Im Gegensatz zum Tier hat der Mensch seine Schichten, seine Masken. Das Tier ist einfach so wie es ist“, umreißt Wöss das ani­ma­lische Unvermögen zur Verstel­lung, und: „Die Er­fahrung des Butohtanzes weist große Paralle­len zu dem auf, was die Prota­go­nis­tin G.H. durchlebt. Butoh als freier Körper­aus­druck sucht den Zu­stand zwischen Innerlichkeit und äußerer Welt, den Zustand, in den der Körper ge­raten ist, das wahre Selbst. Mir ist Lispectors Roman sehr nahe gegangen, da ich darin viel Be­stätigung für meine eigenen Ansichten über die Konsti­tution des Men­schen gesehen habe. Es gibt so viele äußere Ein­flüs­se, die Er­ziehung und das Umfeld. All das versucht man irgendwann wieder abzulegen und in sich selbst hinzusehen“, be­schreibt Wöss ihre Fas­zination für die Verschmel­zung der japanischen Avantgardekunst des Butoh und Lispectors radikal subjektiver Erforschung innerer Wirklich­kei­ten. Für die deutsche Re­gis­seu­rin Evelyn Fuchs wäre das Projekt ohne die Mit­arbeit der Butoh­tän­zerin nicht vorstellbar ge­wesen. In einem In­ter­view bringt sie streitbare Überlegungen zu Lis­pec­tors aufwühlendem Roman „Die Passion nach G.H.“ und seiner Adaption für die Bühne.

Die Protagonistin scheint verstört aber glücklich am Ende des Stückes. Könn­ten Sie ihren Charak­ter näher beschreiben?
Evelyn Fuchs: G.H. ist eine Frau, die nach ei­nem Sinn sucht und es sich da­bei nicht einfach macht. Sie sucht diesen Sinn auf eine sehr konsequente Weise. Sie nimmt sich keine Religion oder Wis­sen­schaft sondern nur sich selbst und meint, dass sie sich durch sich selbst erfahren muss. Und es ist am schwersten, sich selbst in die Augen zu schauen. Wenn man eine Heils­lehre oder einen Glau­ben hat, kann man von sich weggehen. G.H. versucht aber in sich hineinzugehen. Dabei erfährt sie sehr viele Dinge, die auch un­ge­heuer schmerzen und verwirren. Aber schlussendlich schafft sie es mit Hilfe des vorgestellten Bildes der Ka­ker­lake zu sich selbst zu finden. Sie spricht am Anfang dieses Prozesses vom Ekel, der meiner Mei­nung nach für unsere Welt steht. Wir müssen uns vor allem ekeln – vor Armut, vor andersfarbigen Menschen. Es ist ein Synonym für unsere Kultur. Sie schafft, aber den Ekel über die Liebe zu dieser Kreatur zu überwinden oder dadurch zur Lie­be zu gelangen. Die Liebe ist ja auch in der christlichen Lehre präsent, aber in vergeistigter Form. Bei Lispector ist die Liebe hier auf Erden. Die Lie­be ist die lebende Materie. Sie parodiert die Reli­gion. Als Jüdin kennt sie die Ge­schich­ten des Al­ten Testaments und der jüdischen Mys­tik, der Kab­bala. So wie im Christentum der Him­mel für das Seelenheil steht, so steht bei ihr die Hölle für das Leben. Es haben sich viele Autor­in­nen mit diesem Thema auseinandergesetzt, zum Bei­spiel In­ge­borg Bachmann, bei der aber die Le­bensform Lie­be nicht lebbar ist. Da zerbrechen die Prota­go­nisten immer am Leben. Im Gegenteil da­zu wird in der „Passion“ G.H. im­mer größer und stärker.

Ist der innere Kern, den die Kakerlake verkörpert und zu dem G.H. vordringt, wirklich rein animalisch?
EF: Der Kern, zu dem sie findet, ist das Leben außerhalb von allen anderen Dingen. In einer Welt, wo wir alles zerstören, taucht irgendwann neues Le­ben auf, sei es ein kleines Pflänzlein oder ein ekeliges Insekt. Das Leben ist für sich genommen unabhängig von uns. Und dieses Leben an sich, für das das Animalische steht, will G.H. erfahren. Und sich dabei vergessen.

Sind Kultur und Gesellschaft also kein Leben?
EF: Schon. Aber wir vergessen oft, woher das ei­gent­lich kommt. Die Kraft des Lebens ist ja si­cher nicht unsere Konsumwelt. Die ist eher zerstörerisch als ein wirklicher Lebensquell. Obwohl es uns jeden Tag vorgemacht wird: Iss dieses Le­bens­­mittel, dann geht es dir besser. Nimm die Pil­le, dann wirst du hübscher, usw. Aber das ist, das wissen wir im Grunde unseres Herzens, nicht das, durch das wir glücklich werden. Das sind Ersatzstoffe und Er­satz­hand­lun­gen für ein wirklich au­then­tisches Leben. Aber natürlich gehört das auch zu unserem Leben da­zu.

Was ist wirklich authentisches Leben?
EF: Wirklich authentisches Leben wäre, wenn wir versuchen, uns selbst viel mehr einzubringen, indem wir uns weniger anpassen, mehr für Dinge kämpfen, keine Unterschiede z.B. zwischen arm und reich machen. G.H. wehrt sich gegen den Konformismus und beginnt, sich als angepasster Mensch zu sträuben. Sie sucht ein Leben, das eben nicht den Paradigmen dieser Kultur entspricht, sondern das viel mehr mit ihr selbst zu tun hat. Was habe ich für Bedürfnisse? Das Verrückte ist ja, dass diese Bedürfnisse ganz einfach sind. Einfach mal zu sagen, ich will heute Abend glücklich sein, ich esse, ich trinke, ich tanze, ich mache das, was ich will. Ich werde nicht zu einer Party gehen, zu einer Vernissage und dort blöden Käse reden. Das versuchen wir auch im Stück darzustellen, als G.H. zum ersten Mal auf allen Vieren geht. Wir haben uns in den Proben vorgestellt, wie es wäre, wenn wir auf die nächste Vernissage auf allen Vieren kommen. Wir reagieren dann die Leu­te? Vermutlich haben wir bald keine Freunde mehr.

G.H. sagt, dass man durch die Annäherung dessen, was man nicht ist, sich dem annähert, was man ist. Heißt das, dass man sich als Person nie selbst ent­faltet, sondern nur Facetten annimmt, um der Gesellschaft gerecht zu wer­­den? Ich finde das ziemlich pessimistisch.
EF: Man muss wissen, dass der Roman Mitte der 60er geschrieben wurde, wo Frauenrollen noch viel festgefahrener waren als heute. Lispector lebte als Frau eines Botschafters unter strengsten Konventionen. Sie war eine Jet­set-Frau und hat ein Leben gelebt, das fern von Sehnsüchten und geheimen Wünschen war. Schlussendlich hat sie sich von ihrem Mann getrennt. Trotz­dem war sie eine starke Frau, die immer nach sich selber gesucht hat. Die­ses Spannungsfeld kommt im Roman sehr gut zum Ausdruck. Die Frau, die auf der Klaviatur der Gesellschaft alles beherrscht und sich dann aber leer fühlt bei der zehnten Party oder beim x-ten Empfang. Sie war ja nicht mehr ganz jung als sie „Die Passion“ geschrieben hat. Ab einem gewissen Alter, et­was über Vierzig, so wie auch ich, fängt man an, sich als Frau ganz andere Fragen zu stellen. Die Frau in dem Stück fängt an, mit sich selbst ins Ge­richt zu gehen – wie man sieht, teilweise auch recht unbarmherzig.

Könnte auch ein Mann durchleben, was G.H. durchlebt?
EF: Nein, und das finde ich eine große Qualität des Stoffs. Lispector schreibt: „Das Zimmer gibt mir die Dimension einer Sie. Das bedeutet, dass man das Leben nicht nur von vorne sieht, sondern auch von der anderen Seite des Würfels. Und das ist eine Hölle ungestalteten Lebens“. Die andere Seite ist nicht die glatte Oberfläche, sondern das sind die Bewegung, der Zorn, die Leidenschaft, die Eruption. Es sind Frauen, die das erleben wollen. Dies zu unterstreichen ist auch ein großes Anliegen von Lispector. Man spürt, dass es Frauen sind, über die sie schreibt und die das durchleben, im positiven wie auch im negativen Sinn.

18
Zurück zur Ausgabe: 
04/08
FotoautorInnen: 
Bettina Frenzel

& Drupal

spotsZ - Kunst.Kultur.Szene.Linz 2006-2014