Die ersten Schritte ins Nichts
Eine Frau kommt an den Punkt, an dem sie sich nicht mehr von außen und nach außen definieren lassen will, sondern in sich selbst ihr wahres Ich sucht. In einem gleißend weißen Zimmer, in einer stillen Wohnung lässt der Anblick einer Kakerlake die Dämme des Anstands, der Moral und der Konventionen brechen und G.H., diese gerade von ihrem Geliebten verlassene Frau, die ersten Schritte ins Nichts tun: Sie nimmt die Kakerlake in den Mund. Alexandra Sommerfeld als G.H. ringt mit sich um sich. Sätze so scharfsinnig wie komplex quellen aus ihr hervor, dass sogar Regisseurin Evelyn Fuchs zugeben muss, dass ein Satz alleine einen ganzen Theaterabend füllen würde. „Dort, wo die anspruchvollsten Werke Atem schöpfen müssen, dort geht sie weiter …“, schrieb Hélène Cixous über die literarische Qualität der ukrainisch-brasilianischen Schriftstellerin Clarice Lispector (1920-1977), auf deren Roman „Die Passion nach G.H.“ (Suhrkamp Verlag) der Performanceabend „Die Kraft einer Hölle“ beruht. Sommerfeld gelingt es, sich diese Wortgewalt zu Eigen zu machen und mit Emotionen zu besetzen, die erschüttern. Angespornt von der intensiven Präsenz des grauslichen Urgetiers, welches von Natascha Wöss im Butohtanz mit grotesken Körperwindungen zum Leben erweckt wird, entsteht eine Kraft, der man sich als Zuschauer kaum entziehen kann. Die flackernden Bilder einer Videoprojektion (Ulrich Kaufmann), die den Körper der Schauspielerin fragmentieren und wie in einer Traumsequenz die Kakerlake immer näher kommen und dann wieder entschwinden lassen, führen anfangs in eine Welt ein, in der Wahnsinn und Erkenntnis nahe beieinander liegen. Lispector: „Ich setzte den Fuß in die Luft und betrat das Paradies oder die Hölle: Den Mittelpunkt.“ Den Ekel als kulturell vorgeschriebene Regung überwunden, hat G.H. ihre äußeren Schichten abgestreift und sich der Kakerlake angenähert. Einen Moment lang scheinen sich Mensch und Tier zu ergänzen. Platons Idee der komplettierenden Liebe kommt in den Sinn, wird aber von den zuckenden Regungen der Kakerlake verdrängt. „Im Gegensatz zum Tier hat der Mensch seine Schichten, seine Masken. Das Tier ist einfach so wie es ist“, umreißt Wöss das animalische Unvermögen zur Verstellung, und: „Die Erfahrung des Butohtanzes weist große Parallelen zu dem auf, was die Protagonistin G.H. durchlebt. Butoh als freier Körperausdruck sucht den Zustand zwischen Innerlichkeit und äußerer Welt, den Zustand, in den der Körper geraten ist, das wahre Selbst. Mir ist Lispectors Roman sehr nahe gegangen, da ich darin viel Bestätigung für meine eigenen Ansichten über die Konstitution des Menschen gesehen habe. Es gibt so viele äußere Einflüsse, die Erziehung und das Umfeld. All das versucht man irgendwann wieder abzulegen und in sich selbst hinzusehen“, beschreibt Wöss ihre Faszination für die Verschmelzung der japanischen Avantgardekunst des Butoh und Lispectors radikal subjektiver Erforschung innerer Wirklichkeiten. Für die deutsche Regisseurin Evelyn Fuchs wäre das Projekt ohne die Mitarbeit der Butohtänzerin nicht vorstellbar gewesen. In einem Interview bringt sie streitbare Überlegungen zu Lispectors aufwühlendem Roman „Die Passion nach G.H.“ und seiner Adaption für die Bühne.
Die Protagonistin scheint verstört aber glücklich am Ende des Stückes. Könnten Sie ihren Charakter näher beschreiben?
Evelyn Fuchs: G.H. ist eine Frau, die nach einem Sinn sucht und es sich dabei nicht einfach macht. Sie sucht diesen Sinn auf eine sehr konsequente Weise. Sie nimmt sich keine Religion oder Wissenschaft sondern nur sich selbst und meint, dass sie sich durch sich selbst erfahren muss. Und es ist am schwersten, sich selbst in die Augen zu schauen. Wenn man eine Heilslehre oder einen Glauben hat, kann man von sich weggehen. G.H. versucht aber in sich hineinzugehen. Dabei erfährt sie sehr viele Dinge, die auch ungeheuer schmerzen und verwirren. Aber schlussendlich schafft sie es mit Hilfe des vorgestellten Bildes der Kakerlake zu sich selbst zu finden. Sie spricht am Anfang dieses Prozesses vom Ekel, der meiner Meinung nach für unsere Welt steht. Wir müssen uns vor allem ekeln – vor Armut, vor andersfarbigen Menschen. Es ist ein Synonym für unsere Kultur. Sie schafft, aber den Ekel über die Liebe zu dieser Kreatur zu überwinden oder dadurch zur Liebe zu gelangen. Die Liebe ist ja auch in der christlichen Lehre präsent, aber in vergeistigter Form. Bei Lispector ist die Liebe hier auf Erden. Die Liebe ist die lebende Materie. Sie parodiert die Religion. Als Jüdin kennt sie die Geschichten des Alten Testaments und der jüdischen Mystik, der Kabbala. So wie im Christentum der Himmel für das Seelenheil steht, so steht bei ihr die Hölle für das Leben. Es haben sich viele Autorinnen mit diesem Thema auseinandergesetzt, zum Beispiel Ingeborg Bachmann, bei der aber die Lebensform Liebe nicht lebbar ist. Da zerbrechen die Protagonisten immer am Leben. Im Gegenteil dazu wird in der „Passion“ G.H. immer größer und stärker.
Ist der innere Kern, den die Kakerlake verkörpert und zu dem G.H. vordringt, wirklich rein animalisch?
EF: Der Kern, zu dem sie findet, ist das Leben außerhalb von allen anderen Dingen. In einer Welt, wo wir alles zerstören, taucht irgendwann neues Leben auf, sei es ein kleines Pflänzlein oder ein ekeliges Insekt. Das Leben ist für sich genommen unabhängig von uns. Und dieses Leben an sich, für das das Animalische steht, will G.H. erfahren. Und sich dabei vergessen.
Sind Kultur und Gesellschaft also kein Leben?
EF: Schon. Aber wir vergessen oft, woher das eigentlich kommt. Die Kraft des Lebens ist ja sicher nicht unsere Konsumwelt. Die ist eher zerstörerisch als ein wirklicher Lebensquell. Obwohl es uns jeden Tag vorgemacht wird: Iss dieses Lebensmittel, dann geht es dir besser. Nimm die Pille, dann wirst du hübscher, usw. Aber das ist, das wissen wir im Grunde unseres Herzens, nicht das, durch das wir glücklich werden. Das sind Ersatzstoffe und Ersatzhandlungen für ein wirklich authentisches Leben. Aber natürlich gehört das auch zu unserem Leben dazu.
Was ist wirklich authentisches Leben?
EF: Wirklich authentisches Leben wäre, wenn wir versuchen, uns selbst viel mehr einzubringen, indem wir uns weniger anpassen, mehr für Dinge kämpfen, keine Unterschiede z.B. zwischen arm und reich machen. G.H. wehrt sich gegen den Konformismus und beginnt, sich als angepasster Mensch zu sträuben. Sie sucht ein Leben, das eben nicht den Paradigmen dieser Kultur entspricht, sondern das viel mehr mit ihr selbst zu tun hat. Was habe ich für Bedürfnisse? Das Verrückte ist ja, dass diese Bedürfnisse ganz einfach sind. Einfach mal zu sagen, ich will heute Abend glücklich sein, ich esse, ich trinke, ich tanze, ich mache das, was ich will. Ich werde nicht zu einer Party gehen, zu einer Vernissage und dort blöden Käse reden. Das versuchen wir auch im Stück darzustellen, als G.H. zum ersten Mal auf allen Vieren geht. Wir haben uns in den Proben vorgestellt, wie es wäre, wenn wir auf die nächste Vernissage auf allen Vieren kommen. Wir reagieren dann die Leute? Vermutlich haben wir bald keine Freunde mehr.
G.H. sagt, dass man durch die Annäherung dessen, was man nicht ist, sich dem annähert, was man ist. Heißt das, dass man sich als Person nie selbst entfaltet, sondern nur Facetten annimmt, um der Gesellschaft gerecht zu werden? Ich finde das ziemlich pessimistisch.
EF: Man muss wissen, dass der Roman Mitte der 60er geschrieben wurde, wo Frauenrollen noch viel festgefahrener waren als heute. Lispector lebte als Frau eines Botschafters unter strengsten Konventionen. Sie war eine Jetset-Frau und hat ein Leben gelebt, das fern von Sehnsüchten und geheimen Wünschen war. Schlussendlich hat sie sich von ihrem Mann getrennt. Trotzdem war sie eine starke Frau, die immer nach sich selber gesucht hat. Dieses Spannungsfeld kommt im Roman sehr gut zum Ausdruck. Die Frau, die auf der Klaviatur der Gesellschaft alles beherrscht und sich dann aber leer fühlt bei der zehnten Party oder beim x-ten Empfang. Sie war ja nicht mehr ganz jung als sie „Die Passion“ geschrieben hat. Ab einem gewissen Alter, etwas über Vierzig, so wie auch ich, fängt man an, sich als Frau ganz andere Fragen zu stellen. Die Frau in dem Stück fängt an, mit sich selbst ins Gericht zu gehen – wie man sieht, teilweise auch recht unbarmherzig.
Könnte auch ein Mann durchleben, was G.H. durchlebt?
EF: Nein, und das finde ich eine große Qualität des Stoffs. Lispector schreibt: „Das Zimmer gibt mir die Dimension einer Sie. Das bedeutet, dass man das Leben nicht nur von vorne sieht, sondern auch von der anderen Seite des Würfels. Und das ist eine Hölle ungestalteten Lebens“. Die andere Seite ist nicht die glatte Oberfläche, sondern das sind die Bewegung, der Zorn, die Leidenschaft, die Eruption. Es sind Frauen, die das erleben wollen. Dies zu unterstreichen ist auch ein großes Anliegen von Lispector. Man spürt, dass es Frauen sind, über die sie schreibt und die das durchleben, im positiven wie auch im negativen Sinn.
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