Die Landschaft von 1975
„Fotografie, die über jene hohen Ansprüche an Wahrheit und Präzision verfügt, die ihr zugleich die Fähigkeit verleihen, so vehement in die Irre zu führen. Fotografien sind nicht unwahr, nur das Verhältnis zwischen Gegenstand und Abbild des Gegenstandes ist sehr sensibel.“ William Jenkins
Der Einleitungstext von William Jenkins zum Ausstellungskatalog von „New Topographics: Photographs of the Man-Altered Landscape“ liest sich auch heute noch, 35 Jahre nach seinem Erscheinen, erstaunlich frisch. Der Text wurde über die Jahre viel diskutiert und ist teilweise nicht unumstritten. Die Ausstellung von 1975 im George Eastman House in Rochester, New York, gilt heute als „stilbildend“, „bahnbrechend“, „einschneidend“ in der Fotografiegeschichte. Aber wie bei allen Ereignissen, die die Welt verändern, waren sich die Akteure zum Zeitpunkt ihres Schaffens ihrer Nachhaltigkeit kaum bewusst. Und für einen, der mit dem Kuratieren der gesammelten Werke von Robert Adams, Lewis Baltz, Bernd und Hilla Becher, Joe Deal, Frank Gohlke, Stephen Shore und Henry Wessel ohnehin alle Hände voll zu tun hatte, bewies Jenkins beim Schreiben seines Textes einen erstaunlich klaren Kopf.
Vielleicht wäre der Text, unter weniger Zeitdruck verfasst, noch besser geworden, vielleicht ist nicht immer alles exakt genug formuliert. Aber sind das nicht sehr seltsame Überlegungen nach 35 Jahren? Der Text von William Jenkins ist ein schönes Dokument seiner Zeit. Dass er für Generationen von Fotografen die festgeschriebene Artikulation eines bestimmten Stils geworden ist, macht ihn zum unabsichtlichen Manifest.
New Topographics war der Beginn einer neuen fotografischen Sicht auf die Landschaft. Bis dahin bestimmten Fotografen wie Ansel Adams oder Edward Weston das Ideal. Geleitet vom Blick auf die vom Menschen weitestgehend unberührte Natur, war diese Art des Sehens für die jungen Fotografen der 1970er Jahre zu emotional und pathetisch. Für John Deal machte Ansel Adams Fotos von Landschaften „wie in Anführungszeichen“.
Als alltägliches Medium wollte man die Fotografie nun verstehen. Fotografie ist nützlich, beschreibbar, lesbar, zugänglich und damit bestens geeignet, die alltäglichen Dinge festzuhalten. Nicht nur „großartige“ Motive sind des Sehens wert, sondern auch das Undifferenzierte; und damit nicht mehr und nicht weniger als die ganze Welt.
Für William Jenkins war New Topographics ein Experiment. Für Frank Gohlke war es der Versuch, Fotos zu machen, auf denen man den Fotografen nicht sieht. Die Welt ist unendlich interessanter als irgendeine meiner Ansichten darüber, behauptete Nicholas Nixon und wollte dies nicht als künstlerische Pose verstanden wissen, sondern als aufrichtige Überzeugung.
Fotografieren ohne Vorstellungen, ohne Vorurteile, ohne Vorlieben. Emotionslos? Jedenfalls ohne moralischem Impetus. Nicht das kleinste Anzeichen von Urteil oder Meinung. Die Dinge stehen in den Bildern, wie sie sind. Die Bilder sollen aussehen, als ob sie einfach gemacht worden wären, ohne das Betrachtete verändern oder erhöhen zu wollen. Die Welt respektvoll darstellen, präzise, detailreich und klar, ohne Zweifel; wie eine signifikante Tatsache. Fotografie als Dokument einer Form, die dem scheinbaren Chaos der Welt zugrunde liegt.
Das Dokument als stilbildendes der New Topographics findet seinen Ursprung in den Arbeiten von Walker Evans. Evans fotografierte in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts im Auftrag der amerikanischen Regierung die von der Wirtschaftskrise schwer gebeutelte Landbevölkerung. Und obwohl der Hintergrund für diese Arbeiten politisch war, war die Dokumentation für Evans doch eine Möglichkeit „wahre“ Fotos zu machen: „Dokumentarisch? Das ist ein sehr raffiniertes und irreführendes Wort. Der Begriff sollte ‚dokumentarischer Stil‘ heißen. Ein Beispiel für ein bildgetreues Dokument wäre ein Polizeifoto eines Tatorts. Ein Dokument hat einen Nutzen, wohingegen Kunst wirklich nutzlos ist. Daher ist Kunst nie ein Dokument, auch wenn sie zweifellos dessen Stil annehmen kann.“
Walker Evans machte Bilder von Wanderarbeitern, von kochenden Menschen, Scheunen, Schlafgelegenheiten, vom religiösen und sozialen Leben.
Menschen in Bildern haben die Eigenschaft, den Dingen die Show zu stehlen. In den Aufnahmen der New Topographics sind keine Menschen im Bild. Zu sehen sind Landschaften, die von Menschen verändert wurden.
Es gibt eine Aufzeichnung eines Gesprächs zweier junger Kunststudenten während der Originalausstellung 1975, da meint der eine: „Ich mag das hier überhaupt nicht, ich bevorzuge Menschen. Etwas, das eine Geschichte erzählt.“ Der andere: „Du sagst, es sind keine Menschen zu sehen, aber da sind welche, überall. Das denke ich wirklich. Überall, wo du hinsiehst, sind Menschen. Es ist das Leben, so wie es ist.“
Die aktuelle Schau in der Linzer Landesgalerie ist keine normale Ausstellung, es ist die Ausstellung einer Ausstellung, eine Wiederaufführung nach 35 Jahren. Aus heutiger Sicht wird klar, dass sich die ursprüngliche Ambition, das ideale fotografische Dokument ohne Autorenschaft oder Kunst erscheinen zu lassen, nicht durchgesetzt hat.
Wenn man sich durch die Tableaus bewegt, sieht man Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Werken. Gemeinsam ist ihnen, dass sie, trotz ihrer Plausibilität und gerade wegen ihrer Deutlichkeit, Abstraktionen und also ganz unzweifelhaft Kunst sind. Wenn man die Fotos heute ansieht, erkennt man – nach 35 Jahren bestimmt einfacher als damals – ganz eindeutig, welche Fotos zu welchem Fotografen gehören. Und woran erkennt man das, wenn nicht am Stil?
Tradition ist in der Kunst ein heikler Begriff. Man kann sich darauf berufen, man kann in ihr stehen. Im letzten Raum der Ausstellung hängen die Werke der folgenden Generation. Joachim Brohm zum Beispiel. Brohm muss nicht mehr experimentieren. Er macht seine Fotos im Bewusstsein einer Form, die vor 35 Jahren entdeckt und mit der eine Richtung als Möglichkeit vorgegeben wurde. Brohm bedient sich ähnlicher, zum Teil auch gleicher Gestaltungs- und Darstellungsmittel, hat ähnliche Ansätze und Zielsetzungen wie die Fotografen der New Topographics. Im besten Fall, wie bei Brohm, ist Tradition ein Werkzeug, von dem man weiß, dass und wie es funktioniert. Brohm belegt, dass die Fotografen selbst die besten Rezipienten ihres Mediums sind: die Stringenz, mit der er die Ideen der New Topographics formal wie inhaltlich weiterentwickelt hat, führten ihn in eine sehr eigenständige und über die Jahre hinweg ausdifferenzierte Position.
Das in dem Text von Jenkins 1975 noch aufgeworfene „Problem des Stils“ scheint erledigt. Vielleicht war es damals eines, weil der Abstand zu den Arbeiten noch fehlte. Aber ein Satz aus diesem unabsichtlichen Manifest von Jenkins behielt für Gursky, Ruff, Höfer, Struth usw. seine Gültigkeit: „Fotos nicht als Statements der Kunst über die Welt, sondern vielmehr als Aussagen über Kunst durch die Welt.“ Man könnte dies mit einem Satz des kürzlich verstorbenen Heinrich Riebesehl, der heute als deutsches Pendant zur jungen topographisch arbeitenden Fotografengeneration der 1970er Jahre in Amerika gilt, paraphrasieren: „Nicht ‚mit den Dingen‘ Bilder gestalten, sondern ‚über die Dinge‘“.
New Topographics: Landesgalerie Linz/2. Stock; bis 11. Jänner 2011
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