Ungelesene und weisse Bücher
Julius Deutschbauer ist bildender Künstler und Begründer der Bibliothek ungelesener Bücher. Als Bibliothekar der Bibliothek, die zur Zeit in der Landesgalerie ihre Lokalität hat, interviewt Deutschbauer LeserInnen zu einem von ihnen nicht gelesenen Buch. Sowohl die Gespräche als auch die Bücher sind in der Bibliothek zugänglich.
Was passiert, wenn sich ein Maler Literatur anschaut? Was erzählt ein/e LeserIn über ein Buch, das er/sie nicht gelesen hat? Sind die befragten Inhalte, die sich der/die LeserIn oder eben Nicht-LeserIn über Mutmaßungen und Behauptungen in den Interviews von Deutschbauer ausmalt, Sekundärliteratur oder eine, die noch vor der Primären liegt?
Kunst betrachtet sich seit jeher gerne selbst und wirft dabei Fragen auf. Darauf zu antworten wäre wahrscheinlich nur langweilig und banal. Es geht vielmehr um das „Wie?“. In dieser Reflexion stellt sich die Kunst nicht auf die Metaebene, sie setzt sich neben sich. Und dann tut sie so, als gäbe es etwas. Und heraus kommt eine wunderschöne, rhetorische Figur.
Die Ausstellung „Bibliothek der ungelesenen Bücher“ ist nomadisch. Sie hat ihr Heim im Wiener Museumsquartier und wanderte bis jetzt durch 10 Museen in ganz Europa. Manchmal treibt Deutschbauer sein Sendungsbedürfnis aber auch einfach auf die Straße, und mit ein bisschen Glück trifft man ihn neben ein paar Zeugen Jehovas in irgendeiner Wiener U-Bahn-Station, wo er mit Romanen missioniert. Rund 500 Interviews und fast ebenso viele Bücher hat er in den letzten zehn Jahren gesammelt. Als Fragensteller sieht er sich als „zweite Hand, die dem unsichtbaren Kunstwerk jederzeit eine andere Richtung geben kann. Ich bin ein Katalog von Fragen und Literaturen, ich bin der, der das Spiel eröffnet. Und ich bin Gläubiger dessen, was mir auf meine Fragen erzählt wird, denn ich hinterfrage das Fabulierte nicht.“
Ungelesene Geschichten in LeserInnenköpfen sind wie unsichtbare Bilder, die aber durchscheinen, bevor oder nachdem die Kunst Gestalt annimmt oder angenommen hat. Das setzt ein Kunstwerk voraus oder blickt ihm nach. „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben.“ Das war jetzt Robert Musil. Der wird von Deutschbauer gerne zitiert. Im Konjunktiv des Konjunktivs oder in der (freilich nur) leisen Ahnung, dass eine Möglichkeit ja auch erst einmal möglich sein muss? Ist das nur eine Ersatz- oder Stellvertreterkunst?
Deutschbauer, dieses Mal überraschend apodiktisch: „Das Fabulieren über ein Kunstwerk, das es nicht gibt, ersetzt das Kunstwerk vollends.“ Und auch anscheinend das Lesen, denn, um wieder leichter zu werden: Deutschbauer, der Bibliothekar, gewissermaßen honoris causa, sieht sich weniger als Interviewer denn als Beichtvater. Ungelesene Bücher machen dem/der LeserIn nämlich ein schlechtes Gewissen. Am Schluss des Gesprächs mit einem/r derart Gepeinigten erteilt er die Absolution. Der/Die LeserIn überlässt ihm sein/ihr Buch und der/die LeserIn braucht es nicht mehr zu lesen. Das Kunstwerk hat dementsprechend auch eine bezeichnende Schwäche, wie der Künstler gerne zugibt: Ein bisschen enttäuschend findet er, dass sich die gängigen Listen aller Lieblingsbücher mit dem Bestand seiner ungelesenen Bibliothek oft deckt. Der Bildungskanon ist eine festgesetzte Ordnung, die auf alle Ebenen durchschlägt. Dazu noch eine Liste: Es gibt auch Mehrfachnennungen in der Bibliothek der ungelesenen Bücher, Spitzenreiter ist „Das Kapital“ von Karl Marx.
Und jetzt weiter in die Ausstellung zu Anne Lorenz in der Landesbibliothek, um eine Brücke vom Hier nach dem etwas anderen Dort zu schlagen. „Deep Inside“ ist eine großformatige Videoinstallation, ein Projekt von „Der Kranke Hase//verrückt nach Linz“, das für die NutzerInnen der Bibliothek und für ein interessiertes Publikum geschaffen wurde. Dabei heißt es im Text zur Ausstellung: „Das nonverbale Videoportrait öffnet den Blick auf das Innenleben der Bibliothek, zeigt den Blick auf ihre unterschwellige Psychologie“. Der Unterschied zwischen dem Projekt von Deutschbauer und dem von Lorenz auf den ersten Blick ist dabei: Beim einen sind die Bücher ungelesen, bei der anderen sind sie vorhanden, aber leer. Mit Claudia Dworschak filmte Anne Lorenz quasi in die Tiefen der verborgenen Inhalte, etwa in einen Raum voll mit weißen Büchern, einen Raum mit lesenden Menschen oder einen Raum mit ordnenden BibliothekarInnen. Die Bewegung im Film ist meist eine Bewegung der Kamera, die mit langer Weile über die Szenen streift und alles behutsam einfängt, was beim Beobachten lesender Menschen passiert oder eben nicht passiert. Lorenz betrachtet, und nach dem Betrachten stellt sie vorsichtig alles wieder an seinen Platz. Es entsteht eine Choreographie des Lesens in der Langsamkeit zwischen Film und Fotografie. Die Bilder leuchten im Weiß der Bücher, die etwas sagen wollen – nichts Bestimmtes, aber dafür sofort alles. Heraus kommt an der Oberfläche nichts. Anne Lorenz künstlerische Methode mag sein, ihre Untersuchungen zu Körpersprache oder nonverbaler Kommunikation an Leerstellen zu beginnen, um den „Einfluss von Verhalten auf die Psyche und vice versa“ dort zu suchen, wo so etwas wie „Inhalt“ zwischen dem physischen und soziologischen Körpern zumindest kurz im Betrachter/in der Betrachterin spürbar wird. Die Bücher bleiben jedenfalls stumm, stumm, stumm. Nicht das kleinste Stöhnen. Das Weiß ist Stummsein bei offenstem Mund, tausendjährige Menschheitsgeschichte, penibel in den Bibliotheken dieser Welt aufgezeichnet und geordnet, aber kaum denkbar in ihrer Konsequenz. Ein Widerspruch wie der Gedanke, gar nichts zu denken.
Julius Deutschbauer wurde zitiert aus: www.literaturhaus.at/buch/buch/rez/deutschbauer
Julius Deutschbauer – Bibliothek ungelesener Bücher
Die Ausstellung endet am Do 08. Oktober mit dem letzten Termin der Lesereihe: ab 17.00 h Lesen und Handarbeiten im Zirkel; um 19.00 h Lesung von Richard Obermayr; anschließend Interviewmarathon zu ungelesenen Büchern (bis 21.00 h).
Deep inside/Anne Lorenz/CH
Ein Projekt von „Der Kranke Hase//verrückt nach Linz“.
Noch bis 10. Oktober in der Landesbibliothek.
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