I want to ride my bicycle
„… I want to ride my bike“. Nicht nur Freddie Mercury sah im Fahrrad eine Möglichkeit, den Sorgen des Alltages zu entfliehen und den Kopf frei zu radeln. Sowohl die britische Künstlerformation Blast Theory („Rider Spoke“) als auch die Oberösterreicher Bernd Kranebitter und Clemens Pichler („Radiospotting“) nutz(t)en das Veloziped (den schnellen Fuß), um die TeilnehmerInnen ihrer Projekte in Bewegung zu versetzen. Die reflexiv-künstlerische Koppelung des preiswertesten und ökologischsten Individualverkehrsmittels mit der akustischen Erfahrungsdimension des Radios lässt/ließ das Publikum sich jedoch nicht nur körperlich, sondern auch kreativ ertüchtigen. Während „Radiospotting“ derzeit durch lokal begrenzte Radiosender Arbeiten von 30 internationalen SoundkünstlerInnen über den Äther schickt und so neue Erfahrungsweisen des urbanen Raumes eröffnet, setzte „Rider Spoke“ im Rahmen von Linz09-Theaterlust und Ars Electronica auf die interaktive Teilnahme der BesucherInnen, um mithilfe modernster Technologie eine Polyphonie an Interpretationen der Stadt zu ermöglichen.
Mit einem umgebauten Mobiltelefon als Touchscreen am Fahrradlenker sowie Kopfhörern und Mikrofon ausgestattet wurden die TeilnehmerInnen von Blast Theory in die Straßen von Linz entlassen und in Form eines abgewandelten Versteckspiels mit teilweise existentiell-philosophischen Fragen und ihrer Beantwortung konfrontiert.
„Find some place where you can see the sky and tell me about the thoughts that won’t let you sleep tonight.“ Auch wenn das Radfahren seine eskapistische Funktion, die Queen in ihrer Ode „Bicycle Race“ Ende der 1970er Jahre pries, durch derartig konfrontative Aufgabestellungen zu verlieren scheint, gestaltete sich die Beantwortung dieser Frage unter freiem Himmel nicht weniger katharsisch. Die englische Sprache des Programms deutete dabei auf ein internationales Zielpublikum hin, bot aber ansässigen BesucherInnen gleichzeitig einen leichten Verfremdungseffekt an, um sich der Heimatstadt aus einem neuem Blick- und Hörwinkel zu nähern. Dementsprechend mannigfaltig fielen die Antworten aus. Von humoristischen Vorstellungen der eigenen Person in Mühlviertler Mundart über englische, akzentreiche Liebeserklärungen einer Tochter an ihren Vater bis hin zu experimentellem Beatboxing – das zu Beginn der Fahrt durch eine Erzählerinnenstimme evozierte Alleinsein- und Mit-sich-sein-Können ging durch das Eintauchen in diese Vielstimmigkeit in einem humanistischen Gemeinschaftsgefühl auf.
Die visuelle Übersetzung des urbanen Raums in abstrakte Zeichnungen am Touchscreen ließ dabei die konkrete lebensweltliche Erfahrung der Stadt in den Hintergrund treten und stiftete durch die Anonymisierung der Orte bzw. Verstecke der TeilnehmerInnen einige Verwirrung. So hob ein französischer Besucher die erfrischende Andersartigkeit der urbanen Erfahrung durch das Radfahren jenseits des zweckorientierten und zeitlich gedrängten Zurücklegens einer Wegstrecke hervor, wunderte sich aber zu Recht über die Abstrahierung der urbanen Landschaft, die die von Blast Theory dezidiert erwünschte Verbindung zwischen individuellen Anekdoten und topographischen Eigenheiten aufzuheben schien. Verwöhnt durch die Technologiegesellschaft wünschte er sich ein GPS, das die Orte, die die TeilnehmerInnen zu ihren Aussagen inspiriert hatten, identifizieren könnte.
Im Gegensatz dazu verortet „Radiospotting“ die individuellen Interpretationen von ausgewählten Plätzen in Linz und stellt – im Hinblick auf die Unabhängigkeit des Projekts zu Linz09 – ironischerweise einen fassbareren Bezug zur Stadt her. Wie schon bei „Rider Spoke“ wird der konkreten Lebenswelt die Übersetzung der urbanen Landschaft in andere Zeichensysteme beigestellt, der Akt der künstlerischen Interpretation ist jedoch bereits vor der Befahrung der vorgegeben (je nach Fahrgeschwindigkeit bis zu vier Stunden dauernden!) Route abgeschlossen. Dadurch ist „Radiospotting“ jedoch nicht weniger polyphon als sein britischer Gegenpart. Sich rein auf 13 persönlich-assoziative bzw. fiktive Texte von oberösterreichischen AutorInnen stützend kreierten 30 internationale Sounddesigner Klangteppiche, die sich schmeichelnd oder dissonant, aufwühlend oder kontemplativ um die Nibelungenbrücke, den Tummelplatz, die KAPU, den Neuen und den Alten Dom u. v. m. legen (siehe spotsZ September 2009, S. 3f). So dient der Alte Dom begleitet von grollender Orgelmusik zur ironischen Aufarbeitung der sexuellen Doppelmoral der Kirche, der Neue Dom zur abenteuerlichen Kurzgeschichte eines Freeclimbers, der sich umjubelt von der schaulustigen Menge von der Turmspitze mit einem Fallschirm in die Tiefe stürzt. Die analoge Technik ermöglicht dabei schon mit geringsten Mitteln (z.B. einem alten Transitradio) auf der Frequenz 103,0 MHz die Teilnahme an dieser Kunst im öffentlichen Raum und demokratisiert auf diese Weise die Kunstrezeption – ebenso wie „Rider Spoke“ durch seine Interaktivität das Publikum demokratisch als mündige Individuen in den künstlerischen Prozess einbindet.
So sind beide Projekte ihrem Motto, den urbanen Raum akustisch verdichtet erfahrbar zu machen, gerecht geworden und haben neuartige, mehrsinnige und -sinnliche Rezeptionsmöglichkeiten eröffnet.
Radios und Stadtplan, auf dem alle radiospots mit ihren Geschichten abgedruckt sind, können bis 31. Oktober in der Buchhandlung ALEX Hauptplatz, im Lentos Kunstmuseum, beim Infopoint Wissensturm und im Grand Cafe Rother Krebs ausgeliehen werden.
www.radiospotting.net
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spotsZ - Kunst.Kultur.Szene.Linz 2006-2014