Wie riecht Linz?

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Wie riecht Leben? Der Schriftsteller Walter Kohl hat durch einen Unfall seinen Geruchssinn verloren und feststellen müssen, dass Geruch, Erinnern und Identität viel näher beisammen stehen, als weithin vermutet. Wie riecht aber die Stadt, in der’s mal gestunken haben soll und die ihrerseits heute angeblich „verändert“? Ein Beitrag über Identität und Stadt und Kultur und das Riechen.

Meine eigene Identität verändert sich gerade. Nachdem ich jahrelang in Ös­ter­reich vorwiegend als der Zeitgeschichte-Kohl wahrgenommen wurde (Schwer­­punkt NS-Euthanasie, Stichwort Hartheim) und in Deutschland als Experte für juvenile Selbstbeschädigung wegen eines Theaterstücks über eine ju­gend­liche Unterarm-Aufschlitzerin, bemerke ich an der Rezeption meines aktuellen Buchs eine Schwerpunktverschiebung in Richtung „Kohl, der Typ mit dem Riechen“. Insofern hat mich die Anfrage der spotsZ-Redaktion bezüglich eines Beitrags, der Anosmie (Fehlen des Geruchssinns), Linz09 und Fra­gen der Identität einer Stadt zusammenbringen soll, nicht überrascht. Wenn, wie ich behaupte, die Wahrnehmung der Umwelt und damit auch die Kons­truk­tion von (eigener) Subjekt- und (fremder) Objekt-Identität massiv vom Rie­chen beeinflusst und gesteuert wird, dann hat die Frage, wie Linz riecht, natürlich etwas mit der Identität der Stadt zu tun.
Der Geruch von Linz, den ich aus Zeiten in Erinnerung habe, als ich noch rie­chen konnte, war anders als man ihn mir jetzt beschreibt. Und damit war auch die Identität der Stadt eine andere als die, von der jetzt die Hoch­glanz­fol­der und Linz09-Programmbücher und Kulturentwicklungskonzepte plärren. Das olfaktorische Linz, das in meinen Gedächtnisspeichern abgelegt ist, war das Chemie-Linz-Werksgelände an einem Sommermorgen, war der nikotingeschwängerte Dunst im Klosterhof, war das Müffelige im alten Bahnhof, war der Geruch von Frische im Donaupark an windigen Tagen und das Duft­bukett aus abgestandenem Bier, Zuckerwatte, Erbrochenem und der Elek­tri­zi­tät vom Autodrom in einer Urfahranermarkt-Nacht. Für mich, den Ar­beiter­­sohn aus einem Bauerndorf, roch Linz wild und hart.
Ja, Linz ist eine harte Stadt. Bushido mit seiner einen kleinen Skandal entfachenden Wortmeldung ist einer korrekten Beschreibung der Stadt-Iden­ti­tät wahrscheinlich näher als es die vielen floskelhaften Zuschreibungen in diversen offiziösen Publikationen in Sachen Tourismusförderung und Stadt­ent­wicklung sind. Das Adjektiv hart für eine Stadt ist ein gutes. Insbe­son­de­re im Fall von Linz, wo sich zum Duftbukett aus Arbeiterschweiß und In­dus­triedünsten die rau-liebliche Landluft des Umlandes mischt. Diese wilde Mischung, die ich erinnere, war in meiner Wahrnehmung auch so was wie der Kern des Linzer Kunst- und Kultur-Treibens, zumindest des nicht oder nur teilweise institutionalisierten. Zäh, beharrlich, ausdauernd, Konflikte nicht scheuend, das eigene Ding konsequent verfolgend. Stur, aber nicht verbissen. Sich seiner selbst gewiss, aber zugleich offen für das Nicht-Selbst. So nahm ich die Linzer Identität wahr.
Vor ein paar Wochen war ich im Hamburger Schanzenviertel unterwegs. Ich musste dabei an Linz denken. Dieser Teil der Hafenstadt ähnelt dem, was meine Vorstellung (oder mein Wunschtraum) von einer Linzer Identität ist. Nicht optisch, aber in der Anmutung. Ein alter Stadtteil, der lebendig ist, in dem sich etwas bewegt, der Qualität hat, aber nicht gemäß dem Willen und den Vorstellungen irgendwelcher EntwicklungskonzeptschreiberInnen und Stadt­ent­wicklerInnen (und ImmobilenspekulantInnen). Sondern weil seine BewohnerInnen und NutzerInnen beweglich und agil sind und zugleich das, was da ist und schon im­mer da war auch schätzen.
Natürlich ist mir klar, dass Identität heutzutage nichts Festes mehr ist. Die Postmoderne hat uns das Ende der Meta-Erzählungen gebracht und damit Identitätsdiffusion. Identität ist nun ein nie endender, weil nie abzuschließen­der Arbeitsprozess, der darin besteht, sich ständig neu einzubetten in wechselnde Strukturen, Funktionen und Umgebungen. Aus Identität ist Possi­bi­lis­mus geworden. Die Übereinstimmung eines individuellen Wesens oder einer Sache oder einer Gruppe mit sich selbst, was einmal Identität definierte, wurde abgelöst von dynamischen Selbst-Konzepten, die permanent erfordern, Möglichkeiten zu schaffen und diese auch offen zu halten.
Kulturelle Identität ist das Zugehörigkeitsgefühl zu einem kulturellen Kol­lek­tiv. Sie wird diskursiv konstruiert, oder sollte es zumindest werden. Im Falle des Identitätswandels von Linz findet nämlich nicht wirklich ein Dis­kurs statt. Die Verschiebung von der Stahlstadt zur Kulturstadt wurde und wird von oben verordnet. Linz hat sich eine bestimmte Identität gewünscht, seither werden Maßnahmen gesetzt, um diese gewünschte Identität herbei zu führen. Das europäische Kulturhauptstadtjahr ist der vorläufige Höhe­punkt dieser Unternehmung. Der überwiegende Teil der von dieser Iden­ti­täts-Generierung betroffenen Gruppe hat dabei keinen anderen Anteil, als bei dem Prozess zuzusehen und in regelmäßigen Abständen darüber informiert zu werden, wie die gerade aktuelle eigene Identität aussieht. Warum das geschieht, liegt auf der Hand: Eine solcherart konstruierte Identität be­wirkt unhinterfragte Identifikation mit dem, was ist. Oder genauer: Mit dem, was einem vorgesetzt wird.
Zurück zu meiner Kernkompetenz, dem Riechen. Seit ich nicht mehr riechen kann, und das sind bald anderthalb Jahrzehnte, bin ich mehr oder we­ni­ger besessen von dem Wunsch, riechen zu können, und zwar alles, das Ek­li­ge genau so wie das Angenehme. Ich befürchte, ich würde eine böse Überraschung erleben, wenn ich auf einmal wieder riechen könnte. Mein eigenes Dasein, alles rund um mich ist immer flacher und reizloser geworden, was ich darauf zurückführe, dass mir mit dem Geruchssinn eine wesentliche Dimension bei der Wahrnehmung von, ja, allem fehlt. Ich habe allerdings den Verdacht, dass Linz, die Stadt, an die ich mich als eine laute und stark riechende erinnere, unabhängig von meiner Wahrnehmungs­ver­än­de­rung flacher und reizloser geworden ist, in allem, auch in seinem Treiben in Kunst, Kultur und Unterhaltung.
Der globale Prozess der normativen kulturellen Anosmie ist längst schon auch in den Provinzen im Gange. Das moderne Selbst soll ein individualistisches sein, abgekoppelt von Animalischem und Sozialem. Und es soll ein geruchsfreies Selbst sein. Weil die Ökonomie den Menschen so haben will. Das Individuum des einundzwanzigsten Jahrhunderts soll seine Selbst­kons­truk­tion als Norm setzen. Die Abkoppelung dieses Individuums von Natur und Gesellschaft bedingt eine Abkoppelung von den Sinneserfahrungen, be­sonders von den Riecherfahrungen, denn die sind die mächtigsten. Die Ökonomie, wie sie derzeit aufgestellt ist, braucht leere Individuen, die sich von ihren Sinneserfahrungen abspalten. Das stärkste Indiz dieser bereits er­folgten Abspaltung ist die normative kulturelle Anosmie. Der zeitgenössische Mensch hat Angst vor den Gerüchen, weil er im Falle des Daseins in intensiven Geruchswelten die Illusion nicht aufrechterhalten könnte, er sei ein individualistisches Selbst.
Die zunehmend hysterischer werdende Panik vor Körperbehaarung fällt da auch hinein. Oder, um aktuelle Linz09- und Ars-Electronica-Beispiele zu nen­nen: Die (in ihren Intentionen sympathischen) Bestrebungen, Lärm und Licht aus der Stadt hinaus zu wischen. Ruhig und geruchsneutral und sauber, das soll die Identität der Stadt sein. Blass und beliebig und von glatter Ober­flä­chen­struktur. Es sind schöne glänzende keimfreie Oberflächen, aber eben nur Oberflächen, die nichts erzählen, sondern nur eine einzige Auffor­de­rung absondern: Konsumiere! Ich für meinen Teil will so etwas nicht. Es kommt mir, überspitzt formuliert, vor wie der neue Prater-Vorplatz zu Wien, putzig und TouristInnen anlockend, aber dahinter steckt nichts als Rigips. Ich will den alten Prater, den Grind, den Dreck, das Weitläufige. So, wie der Prater jetzt ausschaut, sieht man ihm sofort an, was seine Funktion ist: Wir sollen hin­ge­hen und unser Geld abgeben, möglichst rasch und friktionsfrei, und ge­­nau so rasch und friktionsfrei sollen wir wieder verschwinden.
Das lässt sich eins zu eins auf Linz übertragen. Die Stadt hat ihre alte Voest- und Chemie-Identität abgestreift wie eine lästige juckende Haut, aber an die Stelle dieser Haut ist nichts getreten. Die Stadt hat ihre Gerüche weg geschrubbt und weg desinfiziert, so wie heutige Menschen ihre Achsel­haa­re und Schamhaare beseitigen, um nicht nur nach nichts zu riechen, sondern um auch optisch von vornherein klarzustellen, dass dieser von allen Härchen befreite Körper verlässlich nach nichts riecht.
Wer legt denn nun die Identität einer Stadt fest? Und daraus folgend ge­fragt: Wem gehört eine Stadt? Wem gehört der öffentliche Raum? Die Men­schen, aus denen eine Stadt besteht, sind es nicht. Die Antwort ist simpel. Der einsti­ge US-Präsident Bill Clinton hat dazu ein unsterbliches Zitat geliefert, dessen Treffsicherheit bei gleichzeitig genialer Einfachheit ihn damals selbst ver­blüfft hat (oder er hat die Verblüffung gut gespielt): „It’s economy, stupid!“
Es sind nicht die LinzerInnen, die die neue Linzer Identität konstruieren. Es sind Partiell-Interessen, die das betreiben. Der Versuch, aus Partiell-Inte­res­sen Identität zu konstruieren, ist allerdings zum Scheitern verurteilt. Er mag vielleicht als branding bei zuckerhaltigen Limonaden oder bei Spielzeug aus dem Sektor Unterhaltungselektronik funktionieren, aber dann auch nur tem­porär. Bei einem komplexen Gebilde wie Stadt geht das ins Auge. Meine Mut­maßung ist: Der Versuch von Linz, sich eine spezielle, vordefinierte Iden­ti­tät zu basteln – im Interesse und zum Nutzen von Tourismuswirtschaft oder Im­mo­bilienwirtschaft oder WählerInnenstimmenzugewinn oder Heilung tief­sit­zender Minderwertigkeitskomplexe oder was auch immer – wird damit en­den, dass die Stadt keine neue Identität gewinnt, dafür aber die alte verliert.

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10/09
FotoautorInnen: 
Reinhard Winkler

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