Das Leben ist schön
Eines Tages radelt Walter Kohl los, um im 500 Meter entfernten Supermarkt Batterien zu kaufen. An einer Gehsteigkante passiert der Unfall. Das Vorderrad löst sich aus der Verankerung, Kohl stürzt. Sanitäter und Polizisten helfen später, das Geschehene zu rekonstruieren. Fatalerweise hatte Kohl die Lenkstange nicht losgelassen und knallte kopfüber auf den Boden. Nur langsam erwacht er in der eigenen Blutlache, schwebt sprichwörtlich zwischen Leben und Tod. Der Körper schüttet Glückshormone aus: „Das zu erwartende weitere Leben würde im Vergleich zu dieser kristallenen Stille und Klarheit grau und trüb sein. Ich entschied mich für das Graue und Trübe, für meine Frau und meine Kinder. Ich versuchte den linken Arm, der weniger taub schien, zu bewegen. Es ging nicht.“
Kohls Schädel ist zertrümmert. Die Heilung dauert Monate und Jahre. Er ist demütigenden Situationen ausgesetzt. Er beschreibt das präzise, etwa, wenn vor einer Operation ein Einlauf an ihm vorgenommen wird. Wozu? Logisch, damit er den Ärzten nicht auch noch „den OP-Tisch vollscheißt“. Das riesengroße Loch in Kohls Stirn wird mittels modernster Heilmethoden mit einer Platte aus Kohlenfaser-Verbund-Material geschlossen. Die Diagnose des Arztes ist zunächst wurscht, geht es doch um das nackte Überleben. Die Diagnose lautet: Anosmie. Der Arzt erklärt: „Ihr Geruchsnerv ist zerstört. Sie werden nie mehr riechen.“
Als Kohl wieder langsam gesundet, in ein „normales“ Leben zurückfindet, empfindet er zunächst eine „kreatürliche, hündische Dankbarkeit“. Dankbarkeit dafür, überlebt zu haben. Doch dann keimt die Wut in ihm hoch. Wut auf die möglichen Täter, die womöglich die Schrauben an seinem Vorderrad gelockert haben. (Zu dieser Zeit, Mitte der 1990er, ein beliebter „Scherz“, um radelnde Schulkameraden zu verarschen.) Wut auch auf den Nachbarn, der, weil sein Radl-Abstellplatz von Kohl besetzt wurde, vielleicht dessen Rad zu Boden geschmissen und somit die Katastrophe verursacht hat. Später wird Kohl planen, ein Buch zu schreiben, um den verdächtigten Nachbarn zu entblößen, zu zerstören. Doch er erkennt schließlich: Worte sind ohnmächtig, ein literarischer Rachefeldzug interessiert keine Sau.
Wozu schreiben? Kohl erzählt von seiner ersten Liebe, dem Mädchen unter dem Holunderbusch. Einst wurde das Mädchen im Streit von einem Bauernbuben geohrfeigt. Der junge Kohl verzichtete aus vernünftigen Erwägungen auf Rache, wäre er doch selbst nur verdroschen worden. Diese Untätigkeit verzieh ihm das Mädchen nicht. Damals beschloss Kohl, Schriftsteller zu werden. Diesem Bauern-Arsch wollte er es literarisch zeigen! Alles lächerlich, Literatur ist lächerlich. Keine Chance auf Rache.
Was sind Wörter? Kohl ringt nach Worten, um den Verlust des Geruchssinns zu beschreiben. Es sei, als ob in einem Swimming Pool Wasser ausgelassen würde. Unmerklich für den Beobachter. Bloß, meint Kohl, in einem Schwimmbassin werde verlässlich Wasser nachgelassen. Doch seine Erinnerung schwinde unwiederbringlich, sei doch Erinnerung hauptsächlich an Gerüche gebunden. Alles verschwinde, das Gefühl für Heimat. Wir nehmen in fremden Wohnungen einen (fremden) Geruch wahr, bloß in der eigenen Wohnung riechen wir nichts. Wo aber eine Heimat finden, wenn sämtliche Wohnungen nach nichts riechen?
Wie erkennen, ob die Milch im Kühlschrank sauer ist? Einen gefährlichen Geruch während der Autofahrt bemerken? Und es heißt doch: „Ich kann dich nicht riechen.“ Wie sich aber einem Menschen nähern ohne Geruchssinn? Wie nahe will ich diesem Menschen kommen? Und ja, schonungslos schreibt Kohl über sexuelles Begehren. Der Duft einer Frau? Der Geruch des Mädchens unter dem Holunderbusch?
Walter Kohl, 1953 in Linz geboren, hat ein ungemein zärtliches Buch geschrieben. Intim und in aller Härte, mit geradezu selbstzerstörerischer Genauigkeit. Das befreiende Ende des Buchs sei nicht verraten, nur so viel: Die Kraft der Liebe kann bewegen. Auch ein Buch über das Sterben, das Leben ist schön, wir haben wahrscheinlich nur eins.
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