Ungelesene und weisse Bücher

Mit zwei Installationen in der Linzer Landesbibliothek und der Landesgalerie schaut die Bil­den­de Kunst auf die Literatur. Bei „Deep Inside“ von Anne Lorenz und in Julius Deutschbauers „Biblio­thek der ungelesenen Bücher“ gibt es viele leere Seiten, Weiß als Zustand, Geräusche, Inter­views, Fabulierendes, Hirngespinste und andere Impulse. Reinhard Winkler hat sich beides angesehen.

Julius Deutschbauer ist bildender Künstler und Be­gründer der Bibliothek ungelesener Bücher. Als Bibliothekar der Bibliothek, die zur Zeit in der Lan­desgalerie ihre Lokalität hat, interviewt  Deutsch­bauer LeserInnen zu einem von ihnen nicht gelesenen Buch. Sowohl die Gespräche als auch die Bücher sind in der Bibliothek zugänglich.

Was passiert, wenn sich ein Maler Literatur an­schaut? Was erzählt ein/e Le­ser­In über ein Buch, das er/sie nicht gelesen hat? Sind die befragten In­hal­te, die sich der/die LeserIn oder eben Nicht-Le­serIn über Mutmaßungen und Behauptungen in den Inter­views von Deutschbauer ausmalt, Se­kun­­där­li­te­ra­tur oder eine, die noch vor der Primären liegt?
Kunst betrachtet sich seit jeher gerne selbst und wirft dabei Fragen auf. Darauf zu antworten wäre wahr­scheinlich nur langweilig und banal. Es geht vielmehr um das „Wie?“. In dieser Reflexion stellt sich die Kunst nicht auf die Metaebene, sie setzt sich neben sich. Und dann tut sie so, als gäbe es et­was. Und heraus kommt eine wunderschöne, rhe­torische Figur.

Die Ausstellung „Bibliothek der ungelesenen Bü­cher“ ist nomadisch. Sie hat ihr Heim im Wiener Museumsquartier und wanderte bis jetzt durch 10 Mu­seen in ganz Europa. Manchmal treibt Deutsch­bauer sein Sendungs­be­dür­f­nis aber auch einfach auf die Straße, und mit ein bisschen Glück trifft man ihn neben ein paar Zeugen Jehovas in irgendeiner Wiener U-Bahn-Station, wo er mit Ro­manen missioniert. Rund 500 Interviews und fast ebenso viele Bü­cher hat er in den letz­ten zehn Jah­ren gesammelt. Als Fragensteller sieht er sich als „zweite Hand, die dem unsichtbaren Kunst­werk je­derzeit eine an­de­re Richtung geben kann. Ich bin ein Katalog von Fragen und Lite­ra­tu­ren, ich bin der, der das Spiel eröffnet. Und ich bin Gläubiger dessen, was mir auf meine Fragen er­zählt wird, denn ich hinterfrage das Fabulierte nicht.“

Ungelesene Geschichten in LeserInnenköpfen sind wie unsichtbare Bilder, die aber durchscheinen, be­­­vor oder nachdem die Kunst Gestalt annimmt oder angenommen hat. Das setzt ein Kunstwerk voraus oder blickt ihm nach. „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben.“ Das war jetzt Robert Musil. Der wird von Deutsch­bau­er gerne zitiert. Im Kon­junk­tiv des Konjunktivs oder in der (freilich nur) leisen Ahnung, dass eine Möglichkeit ja auch erst einmal möglich sein muss? Ist das nur eine Ersatz- oder Stellvertreterkunst?

Deutschbauer, dieses Mal überraschend apodiktisch: „Das Fabulieren über ein Kunstwerk, das es nicht gibt, ersetzt das Kunstwerk vollends.“ Und auch anscheinend das Lesen, denn, um wieder leich­­ter zu werden: Deutschbauer, der Bibliothe­kar, ge­wissermaßen honoris causa, sieht sich we­niger als In­ter­viewer denn als Beichtvater. Unge­le­sene Bü­cher machen dem/der LeserIn näm­lich ein schlech­tes Gewissen. Am Schluss des Ge­sprächs mit ei­nem/r der­art Gepeinigten er­teilt ­er die Absolution. Der/Die LeserIn überlässt ihm sein/ihr Buch und der/die LeserIn braucht es nicht mehr zu lesen. Das Kunst­werk hat dementsprechend auch eine be­zeich­nende Schwä­che, wie der Künst­ler gerne zugibt: Ein bisschen enttäuschend findet er, dass sich die gängigen Lis­­ten aller Lieblingsbücher mit dem Be­stand seiner ungelesenen Bib­liothek oft deckt. Der Bil­dungs­ka­non ist eine festgesetzte Ord­nung, die auf alle Ebe­nen durchschlägt. Dazu noch eine Lis­te: Es gibt auch Mehr­fach­nen­nungen in der Bib­lio­thek der ungelesenen Bücher, Spitzen­rei­ter ist „Das Ka­pi­tal“ von Karl Marx.

Und jetzt weiter in die Ausstellung zu Anne Lo­renz in der Landesbibliothek, um eine Brücke vom Hier nach dem etwas anderen Dort zu schlagen. „Deep Inside“ ist eine großformatige Videoinstal­la­tion, ein Projekt von „Der Kran­ke Hase//verrückt nach Linz“, das für die NutzerInnen der Bi­bliothek und für ein interessiertes Publikum geschaffen wurde. Dabei heißt es im Text zur Aus­stel­lung: „Das nonverbale Videoportrait öffnet den Blick auf das In­nen­leben der Bibliothek, zeigt den Blick auf ihre unterschwellige Psychologie“. Der Unterschied zwischen dem Projekt von Deutsch­bauer und dem von Lo­renz auf den ersten Blick ist dabei: Beim einen sind die Bücher ungelesen, bei der anderen sind sie vorhanden, aber leer. Mit Claudia Dworschak filmte Anne Lorenz quasi in die Tiefen der verborgenen Inhalte, etwa in einen Raum voll mit weißen Büchern, einen Raum mit le­senden Menschen oder einen Raum mit ordnen­den BibliothekarInnen. Die Bewegung im Film ist meist eine Bewegung der Kamera, die mit langer Weile über die Szenen streift und alles behutsam einfängt, was beim Beobachten lesender Men­schen passiert oder eben nicht passiert. Lorenz betrachtet, und nach dem Betrachten stellt sie vorsichtig al­les wieder an seinen Platz. Es entsteht eine Cho­reographie des Lesens in der Langsamkeit zwischen Film und Foto­gra­fie. Die Bilder leuchten im Weiß der Bücher, die etwas sagen wollen – nichts Bestimmtes, aber dafür sofort alles. Heraus kommt an der Oberfläche nichts. Anne Lorenz künstlerische Methode mag sein, ihre Untersuchungen zu Körpersprache oder nonverbaler Kommunikation an Leerstellen zu be­ginnen, um den „Einfluss von Verhalten auf die Psyche und vice versa“ dort zu suchen, wo so etwas wie „Inhalt“ zwischen dem physischen und soziologischen Körpern zumindest kurz im Betrachter/in der Betrachterin spürbar wird. Die Bücher bleiben jedenfalls stumm, stumm, stumm. Nicht das kleinste Stöhnen. Das Weiß ist Stummsein bei of­fenstem Mund, tausendjährige Mensch­heits­ge­schich­te, penibel in den Bibliothe­ken dieser Welt aufgezeich­net und geordnet, aber kaum denkbar in ihrer Konsequenz. Ein Wi­der­spruch wie der Ge­danke, gar nichts zu denken.

Julius Deutschbauer wurde zitiert aus: www.literaturhaus.at/buch/buch/rez/deutschbauer

Julius Deutschbauer – Bibliothek ungelesener Bücher
Die Aus­stel­lung endet am Do 08. Oktober mit dem letzten Termin der Lesereihe: ab 17.00 h Lesen und Handarbeiten im Zirkel; um 19.00 h Lesung von Richard Obermayr; anschließend Interview­marathon zu ungelesenen Büchern (bis 21.00 h).

Deep inside/Anne Lorenz/CH
Ein Projekt von „Der Kranke Hase//verrückt nach Linz“.
Noch bis 10. Oktober in der Landesbibliothek.

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10/09
FotoautorInnen: 
Reinhard Winkler

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