Dunkle und archaische Welt
Nachtsicht findet heuer zum zweiten Mal statt. Was erwartet das Publikum zwischen Grusel, Splatter und Artfilm, welche Filme stehen am Programm?
Es geht mir bei der diesjährigen Nachtsicht wie schon 2008 bei der Premiere unserer Programmschiene darum, spannende, extravagante Positionen des europäischen Genrefilmschaffens zur Diskussion zu stellen. In unserem Eröffnungsfilm JCVD (mit Jean-Claude Van Damme in der Hauptrolle) und der britischen Produktion „Bronson“ werden Fragen zu Gewalt, Männlichkeit und Ruhm schillernd, brachial und intelligent beantwortet. Neben Nazi-Zombies (in „Dead Snow“), brutalen Jugendlichen (in „Eden Lake“) und einem Mann auf Zeitreise (in „Timecrimes“) soll in diesem Jahr vor allem ein Zentralregisseur des europäischen Horrorfilms gefeiert werden: Die Nachtsicht von Crossing Europe zeigt in einer Sondervorführung die „Madre“-Trilogie von Mastro Dario Argento mit dessen jüngsten Werk „La Terza Madre“ als Österreich-Premiere.
Geht’s bei der Nachtsicht um mehr als das Horror-Genre? Was sind denn die Genres der Angst? Und: Ist es leicht, aus diesem Genre des europäischen Films eine Auswahl zu treffen?
Die Nachtsicht setzt sich, wie man auch bei der diesjährigen Selektion sehen kann, nicht nur aus Horrorfilmen zusammen, sondern will das europäische fantastische Kino in all seinen Facetten zeigen. Dazu gehören Gewaltstudien ebenso wie Thriller und Krimis: Das Angebot, also die Jahresproduktion bestimmt dabei natürlich die Auswahl. Es freut mich persönlich sehr, dass es im Verlauf der letzten Jahre einen Paradigmenwechsel in der gesamteuropäischen Produktionslandschaft gegeben hat: Mehr und mehr Unternehmen trauen sich jetzt wieder, jungen Regisseuren mit Ideen für Genrefilme unter die Arme zu greifen und deren Projekte zu finanzieren. Man kann diese Umstellung in Europa allerdings nur vollständig begreifen, wenn man einen globalen Strukturwandel mit ins Gespräch bringt: In den USA sind durch Produktionen wie „Hostel“ oder „Saw“ gewisse Wahrnehmungsgrenzen eingerissen worden: Vor diesen Filmen ist der Konsum vor allem von härteren und brutaleren Horrorfilmen vorwiegend männlichen Jugendlichen zugeschrieben worden. Nur mit denen lässt sich allerdings der große Kassenerfolg nicht erklären: Also muss es ein weitaus größeres Publikum als bisher angenommen geben, dass sich diesen Filmen aussetzen möchte. In Europa hat Frankreich diesbezüglich eine Vorreiterrolle eingenommen: Alexandre Aja hat mit seinen Splatter-Thriller „Haute Tension“ 2002 eine regelrechte Welle an Produktionen losgetreten, die durch die lockereren Produktionsbedingungen in Europa und mehr Mut zum Risiko mittlerweile auch in den USA sozusagen als Nouvelle Vague Extreme angesehen werden. Weitere Länder, die im Moment auf eine florierende Genrefilmkultur blicken können sind Spanien, dort vor allem die Gegend um Barcelona, und auch Großbritannien, das seit einiger Zeit wieder seine Horrorfilmproduktion forciert. Es ist also eine durchaus schöne Kuratorentätigkeit für die „Nachtsicht“, da man diesen teilweise noch recht frischen Produktionslandschaften auch beim Wachsen zusehen kann und von den Schlenkern und Extremen, die sie einem servieren, konstant – positiv wie negativ – überrascht wird.
Das „Eintauchen in die unterschiedlichen Angstgesichter des europäischen Films“ klingt spannend. Geht es hier darum, ein Spektrum der Angst herzuzeigen? Oder ein speziell europäisches Spektrum der Angst?
Man muss das Publikum mit seinen Ängsten konfrontieren: In allen Filmen des diesjährigen „Nachtsicht“-Programms, das hoffe ich zumindest, werden die Zuseher aus ihrer passiven Beobachterrolle gerissen. Unsere Auswahl soll herausfordern und verstören, beleidigen und gemein sein; den „Nachtsicht“-Besuchern ein geradezu körperliches Gefühl für das Kino, für die Filme schenken. Man befindet sich im freien Fall und ist gezwungen, auch seine eigenen moralischen Überzeugungen, die von zu vielen Konsensfilmen immer wieder bestätigt werden, neu zu verhandeln.
Angst und Horror sind ja sehr weitläufige Begriffe. Wenn man davon ausgeht, dass King Kong vielleicht auch mal ein richtiger Horrorfilm war und den Einbruch der Barbarei in die zivilisierte Welt thematisiert hat, quasi als artifizielles Unbewusstes der Zeit, es gibt da sicherlich unzählige Beispiele. Was sind denn die Themen der Angst derzeit und wie werden die fiktionalisiert?
Angstthemen gibt es viele. Aber ich würde das Spektrum der Nachtsicht nicht nur auf die Angst reduzieren, obwohl einige Filme darin, im Besonderen „Eden Lake“ und „Dead Snow“, mit gesellschaftlichen Ängsten, andere wie Argentos „Madre“-Trilogie inszenatorisch erhaben und in umwerfender Ästhetik mit Urängsten jonglieren. Andere Filme des Programms, wie etwa JCVD und „Bronson“ haben mit dem konventionellen Angstbegriff wenig zu tun, sprechen eher über Inszenierungen von Brutalität.
In einem typischen Horrorfilm trifft die Angst schnell einmal auf sexuelle Stereotype. Welchen Blick haben Sie auf diesen Zusammenhang?
Gerade in der „Nachtsicht“ darf politische Korrektheit keinen Platz haben. Hier wird mit Stereotypen lustvoll gespielt, teilweise werden sie auch provokant zugespitzt. Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass sich die BesucherInnen des Festivals – ob männlich oder weiblich – dadurch beleidigt oder verletzt fühlen: Man sollte sich allerdings bewusst sein, dass man mit dem Gang in einen Nachtsicht-Film eine dunkle, archaische Welt betritt, in der gesellschaftliche Ideale oder Moralkodizes ihre Wirkkraft verlieren müssen.
Eröffnungsfilme und Nightline
Am Montag, 20. April 2009 eröffnet Crossing Europe mit vier Filmen, die exemplarisch für die Vielgestaltigkeit des europäischen Filmschaffens stehen: „Home“ (CH/F/B 2008) von Tribute-Regisseurin Ursula Meier – eine moderne Gesellschaftsfarce vom Leben an einer Autobahn, „Muezzin“ (A 2009) vom Oberösterreicher Sebastian Brameshuber, eine Doku über Muezzins, die in Istanbul am nationalen Gebetsrufwettbewerb teilnehmen. Sowie die brillante Beziehungsstudie „Alle anderen“ (D 2009) von Maren Ade, die bei der Berlinale mit zwei Silbernen Bären ausgezeichnet wurde. Zu später Stunde startet mit der Action-Satire und Hommage an Jean-Claude van Damme „JCVD“ (F/B/LUX 2008) die im letzten Jahr etablierte Festivalschiene NACHTSICHT. Die tägliche NIGHTLINE im Festivalzentrum eröffnen am 20. April „Bunny Lake“ (A) und „DJ Klub“ (A).
Wettbewerb und Panorama
Das Crossing Europe Filmfestival Linz 2009 präsentiert insgesamt 177 handverlesene Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme aus 30 Ländern – ein Großteil davon als Österreichpremieren. Im PANORAMA EUROPA laufen Arbeiten u.a. von Regiegrößen wie Jerzy Skolimowski und Claire Denis. Neben vielen Highlights der vergangenen Festivalsaison sind zahlreiche dokumentarische Arbeiten zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen zu sehen.
Extra Europa
Filme, Festivalpräsentationen und musikalische Live-Acts aus der Türkei, Schweiz und Norwegen sind Programmteil für EXTRA EUROPA, einem Projekt von Linz09 Kulturhauptstadt Europas, u.a. die Schweizer Tribute-Gäste Ursula Meier & Lionel Baier, das Panorama-Special Young Turkish Cinema sowie OK Artist in Residence Inger Lise Hansen aus Norwegen.
Mehr Informationen unter www.crossingeurope.at
Filmstill aus „Bronson“ (GB 2008) von Nicolas Winding Refn
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