Dunkle und archaische Welt

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Seit 2007 präsentiert die Programmsektion „Nachtsicht“ von Crossing Europe vielfältige Positionen des europäischen (Horror)­Genrekinos. Die Nachtsicht hat es sich zum Ziel gemacht, alljährlich ein Eintauchen in unterschiedliche Angstgesichter des europäischen Films zu ermöglichen. Ein Mailinterview mit dem Kurator der Reihe, Markus Keuschnigg.

Nachtsicht findet heuer zum zweiten Mal statt. Was erwartet das Publikum zwischen Grusel, Splat­ter und Artfilm, welche Filme stehen am Pro­gramm?
Es geht mir bei der diesjährigen Nachtsicht wie schon 2008 bei der Pre­mi­e­re unserer Programm­schiene darum, spannende, extravagante Positio­nen des europäischen Genrefilmschaffens zur Dis­kussion zu stellen. In unserem Er­öf­fnungsfilm JCVD (mit Jean-Claude Van Damme in der Haupt­rolle) und der britischen Produktion „Bronson“ wer­den Fragen zu Gewalt, Männlich­keit und Ruhm schillernd, brachial und intelligent beantwortet. Neben Nazi-Zom­bies (in „Dead Snow“), brutalen Jugendlichen (in „Eden Lake“) und ei­nem Mann auf Zeitreise (in „Timecrimes“) soll in diesem Jahr vor allem ein Zen­tral­re­gis­seur des europäischen Horrorfilms gefeiert werden: Die Nacht­sicht von Crossing Europe zeigt in einer Sondervorführung die „Madre“-Tri­logie von Mastro Dario Argento mit dessen jüngsten Werk „La Terza Madre“ als Österreich-Premiere.

Geht’s bei der Nachtsicht um mehr als das Horror-Genre? Was sind denn die Genres der Angst? Und: Ist es leicht, aus diesem Genre des europäischen Films eine Auswahl zu treffen?
Die Nachtsicht setzt sich, wie man auch bei der diesjährigen Selektion se­hen kann, nicht nur aus Horrorfilmen zusammen, sondern will das europä­ische fantastische Kino in all seinen Facetten zeigen. Dazu gehören Ge­walt­stu­dien ebenso wie Thril­ler und Krimis: Das Angebot, also die Jahrespro­duk­­tion be­stimmt dabei natürlich die Auswahl. Es freut mich persönlich sehr, dass es im Verlauf der letzten Jahre einen Paradigmenwechsel in der ge­samt­euro­pä­ischen Produktionslandschaft gegeben hat: Mehr und mehr Unterneh­men trauen sich jetzt wieder, jungen Regisseuren mit Ideen für Genrefilme unter die Arme zu greifen und de­ren Projekte zu finanzieren. Man kann diese Um­stellung in Europa allerdings nur vollständig be­grei­fen, wenn man einen glo­balen Struktur­wan­del mit ins Gespräch bringt: In den USA sind durch Pro­duktionen wie „Hostel“ oder „Saw“ gewisse Wahr­nehmungsgrenzen eingeris­sen worden: Vor diesen Filmen ist der Konsum vor allem von härteren und bru­taleren Horrorfilmen vorwiegend männ­lichen Jugendlichen zugeschrieben worden. Nur mit denen lässt sich allerdings der große Kas­senerfolg nicht er­klären: Also muss es ein weitaus größeres Publikum als bisher angenommen geben, dass sich diesen Filmen aussetzen möchte. In Europa hat Frank­reich diesbezüglich eine Vor­reiterrolle eingenommen: Alexandre Aja hat mit seinen Splatter-Thriller „Haute Tension“ 2002 eine regelrechte Welle an Pro­duktionen losgetreten, die durch die lockereren Produktions­bedin­gun­gen in Europa und mehr Mut zum Risiko mittlerweile auch in den USA sozusagen als Nouvelle Vague Extreme angesehen werden. Weitere Länder, die im Mo­ment auf eine florierende Genrefilmkultur blicken können sind Spanien, dort vor allem die Gegend um Barcelona, und auch Großbritannien, das seit einiger Zeit wieder seine Horrorfilm­pro­duk­tion forciert. Es ist also eine durchaus schöne Kuratorentätigkeit für die „Nachtsicht“, da man die­sen teilweise noch recht frischen Produktions­landschaften auch beim Wachsen zusehen kann und von den Schlenkern und Extremen, die sie einem servieren, konstant – positiv wie negativ – überrascht wird.

Das „Eintauchen in die unterschiedlichen Angst­ge­sichter des europäischen Films“ klingt spannend. Geht es hier darum, ein Spektrum der Angst herzu­zei­gen? Oder ein speziell europäisches Spek­trum der Angst?
Man muss das Publikum mit seinen Ängsten konfrontieren: In allen Filmen des diesjährigen „Nacht­sicht“-Programms, das hoffe ich zumindest, werden die Zuseher aus ihrer passiven Beobach­ter­rol­le gerissen. Unsere Auswahl soll herausfordern und verstören, beleidigen und gemein sein; den „Nacht­sicht“-Besuchern ein geradezu körperliches Gefühl für das Kino, für die Fil­me schenken. Man befindet sich im freien Fall und ist gezwungen, auch sei­ne eigenen moralischen Überzeugungen, die von zu vielen Konsensfilmen im­mer wieder be­stätigt werden, neu zu verhandeln.

Angst und Horror sind ja sehr weitläufige Be­grif­fe. Wenn man davon ausgeht, dass King Kong vielleicht auch mal ein richtiger Horrorfilm war und den Ein­bruch der Barbarei in die zivilisierte Welt thematisiert hat, quasi als artifiziel­les Unbe­wuss­tes der Zeit, es gibt da sicherlich unzählige Bei­spiele. Was sind denn die Themen der Angst der­zeit und wie werden die fiktionalisiert?
Angstthemen gibt es viele. Aber ich würde das Spektrum der Nachtsicht nicht nur auf die Angst reduzieren, obwohl einige Filme darin, im Be­son­de­ren „Eden Lake“ und „Dead Snow“, mit gesellschaftlichen Ängsten, andere wie Argentos „Mad­re“-Trilogie inszenatorisch erhaben und in um­wer­fender Ästhetik mit Urängsten jonglieren. Ande­re Filme des Programms, wie etwa JCVD und „Bronson“ haben mit dem konventionellen Angst­begriff wenig zu tun, sprechen eher über Insze­nie­rungen von Brutalität.

In einem typischen Horrorfilm trifft die Angst schnell einmal auf sexuelle Ste­reotype. Welchen Blick haben Sie auf diesen Zusammenhang?
Gerade in der „Nachtsicht“ darf politische Kor­rekt­heit keinen Platz haben. Hier wird mit Ste­reo­ty­pen lustvoll gespielt, teilweise werden sie auch pro­vo­kant zugespitzt. Es ist natürlich nicht auszu­schließen, dass sich die Be­su­cher­Innen des Festi­vals – ob männlich oder weiblich – dadurch be­leidigt oder ver­letzt fühlen: Man sollte sich allerdings bewusst sein, dass man mit dem Gang in einen Nachtsicht-Film eine dunkle, archaische Welt betritt, in der ge­sell­schaftliche Ideale oder Moralkodizes ihre Wirkkraft verlieren müs­sen.

Eröffnungsfilme und Nightline
Am Montag, 20. April 2009 eröffnet Crossing Europe mit vier Filmen, die exemplarisch für die Vielgestaltigkeit des eu­ropäischen Filmschaffens stehen: „Home“ (CH/F/B 2008) von Tribute-Regisseurin Ursula Meier – eine mo­der­ne Ge­sell­­schaftsfarce vom Leben an einer Autobahn, „Mu­ezzin“ (A 2009) vom Oberösterreicher Sebastian Brames­huber, eine Doku über Muezzins, die in Istanbul am nationalen Ge­betsrufwettbewerb teilnehmen. Sowie die brillante Bezie­hungs­studie „Alle anderen“ (D 2009) von Maren Ade, die bei der Berlinale mit zwei Silbernen Bären ausgezeichnet wurde. Zu später Stunde startet mit der Ac­tion-Satire und Hom­mage an Jean-Claude van Damme „JCVD“ (F/B/LUX 2008) die im letzten Jahr etablierte Festival­schiene NACHTSICHT. Die tägliche NIGHTLINE im Festi­val­zentrum eröffnen am 20. April „Bunny Lake“ (A) und „DJ Klub“ (A).   

Wettbewerb und Panorama
Das Crossing Europe Filmfestival Linz 2009 präsentiert ins­gesamt 177 handverlesene Spiel-, Dokumentar- und Kurz­filme aus 30 Ländern – ein Großteil davon als Österreichpremieren. Im PANORAMA EUROPA laufen Arbeiten u.a. von Regiegrößen wie Jerzy Skolimowski und Claire Denis. Neben vielen Highlights der vergangenen Festivalsaison sind zahlreiche dokumentarische Arbeiten zu aktuellen ge­sellschaftspolitischen Themen zu sehen.
      
Extra Europa

Filme, Festivalpräsentationen und musikalische Live-Acts aus der Türkei, Schweiz und Norwegen sind Programmteil für EXTRA EUROPA, einem Projekt von Linz09 Kultur­haupt­stadt Europas, u.a. die Schweizer Tribute-Gäste Ursula Meier & Lionel Baier, das Panorama-Special Young Turkish Cinema  sowie OK Artist in Residence Inger Lise Hansen aus Norwegen.    

Mehr Informationen unter www.crossingeurope.at

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04/09
FotoautorInnen: 
Nicolas Winding Refn

Filmstill aus „Bronson“ (GB 2008) von Nicolas Winding Refn

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