What you really need

Die echte Kulturhauptstadt ist ja bekanntlich in Linz. Die Erklärung ist ganz einfach: Ein Projekt des Welser Medien Kultur Haus ist ein „ländlicher“ Linz09-Ausläufer und lässt die Messestadt von Anfang März bis Ende April noch weniger als die ohnehin nur 13 Bahnminuten an Linz andocken.

What you really need – ist das Motto dieser zwei Monate, hinter dem kein Fragezeichen steht, das aber viele Fragen aufwerfen will: Was wir wirklich brauchen, bearbeiten mehr als 50 KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen aus so unterschiedlichsten Sparten wie Bildende Kunst, Architektur, Film, Fo­tografie, Literatur, Musik, Elektronik, Comic, aber auch Soziologie und Phi­losophie in Theorie und Praxis. Der erste Schritt war das Haus seiner alltäglichen, künstlerisch-veranstalterischen Funktion zu entheben, es gründlich zu leeren und zu räumen.  Diese mannigfaltige Denk- und Produk­tions­werk­statt des Brauchbaren beginnt bei Null und will sich bis zum großen Finale hin mit Nützlichem – und je nach individueller Notwendigkeit wohl auch mit Unnützlichem – zu neobarocker Prachtentfaltung aufschwingen. Zu­allererst hat ein Architektenteam der Kooperative „wonderland“ zusammen mit der Pariser Gruppe EXYZT die geeigneten baulichen Arbeiten und ein wundersam-wandelbares Möbel-Modulsystem geschaffen. Zum durchlaufenden Grundbetrieb gehören eine Kantine, die von Michael „Shorty“ Kurz angeführt wird und besonders auf ökologisch-biologisches Koch­be­wusst­­sein pocht, und ein Shop, der Bücher, Platten, CDs und vieles mehr vertreibt, was der Mensch zum Leben braucht.

Der programmatische Ablauf ist von Woche eins bis acht gleich: Jeden Diens­tag gibt es an wechselnden Orten der echten Kulturhauptstadt einen etwa halbstündigem Vorgeschmack auf das, was in Wels am Donnerstag (je­weils 20.00 h) laufen wird. Die gerufenen SpezialistInnen des Brauchbaren weilen jeweils eine Woche davor „in Residence“ im Medien Kultur Haus, um an ihren Projekten zu arbeiten. Mittwochnachmittags versprüht das Ver­mitt­lungsprogramm „Teen Spirit“ die Inhalte an interessierte Jugendliche und Freitagabends läuft eine Veranstaltungsschiene, die von FM4 „Im Sumpf“, einem BULBUL-Konzert (10.04.), bis Szene-Diskussionen, Comics und Car­toons von Rattelschneck oder DJ Cristof Kurzmann zu bieten hat. Und der Sonntag steht von 10.00–15.00 h im Zeichen eines unschlagbar-vielfältigen Brunchs, der damit eine der offensten Begegnungsarenen der Stadt begründet hat und bei dem SeniorInnen JuniorInnen vorlesen.  

Am zentralen Donnerstagabend werden die „Ergebnisse“ der Spezialist­In­nen präsentiert  und verhandelt. Zur Eröffnung stand ein Philosophicum mit Christine Voss, Carl Hegemann und Robert Pfaller auf dem Plan. Woche zwei brachte ein überaus bemerkenswertes  zwölfstündiges Schlafkonzert in den Veranstaltungsraum, der mit Matratzen wie ein japanisches Loft eingerichtet wurde. Der bekannte Elektronikmusiker Lloop zauberte schläfrig-sanfte Weltraumchilloutklänge in die kollektive Schlafstätte, die in Ver­bin­dung mit den Visuals von OchoReSotto für eine traumhafte Nacht sorgten. Was ein gutes Dutzend Schläfer gerne und ausgeschlafen annahm. Am Frei­tag dieser Woche war eine Filmvorführung von „Gernstls Reise“. Der bayrische Dokumentarfilmer Franz X. Gernstl ist seit gut 20 Jahren in seiner Hei­mat aber auch grenzübergreifend unterwegs und fahndet ganz einfach und bar jeder voyeuristischen Geilheit nach Menschen, die er nicht seiner Ka­mera und damit den Zusehern vorführen will, sondern dabei dem Mensch­lich-Originellem auf der Spur ist. Seine Suche nach dem Glück der Mensch­heit bringt einfache Untersuchungsergebnisse zu Tage: Leidenschaft oder eine gehörige Portion von individueller „Verrücktheit“ scheinen zumindest zwei Garanten dafür zu sein, wie er auch im anschließenden Gespräch an­klin­gen lässt.
Am ersten der vier April-Donnerstage begegnet man dem renommierten bildenden Künstler und Musiker Heimo Wallner im MKH. Wallner unterrichtet zurzeit an der texanischen Universität San Antonio und hat mit seinen StudentInnen Trickfilme zum Thema hergestellt. Am gleichen Abend erläutert der heimische und international wirksame Komponist Christoph Hernd­ler seine im wörtlichen Sinn radikale Klangarbeit, die er anhand einer Lec­ture mit Bild- und Tonbeispielen illustriert. (02.04.)  In der Woche darauf kommt wieder ein heimischer Internationaler: Cannes-Festivalteilnehmer Sieg­fried A. Fruhauf produziert einen neuen Film und fragt, wie viel Pixel ein Film wirklich braucht. Dazu baut die New Yorker Klangartistin o.blaat einen Raum im Raum, der Geräusche aus der Nachbarschaft reflektiert und durchlässig macht. Am 16. April wird der MKH Saal zum „fröhlichen Wohn­zimmer“. Das Wiener Poesie-Duo Ilse Kilic und Fritz Widhalm klopfen das The­ma nicht nur auf literarischer Ebene ab, sondern nähern sich diesem auch filmisch an. Und der letzte Donnerstag bringt mit „Silent Block“ Ex­pe­ri­mentalmusik aus Frankreich, die Michael „Shorty“ Kurz mit „Rich Coo­king“ auffettet und alle Enthaltsamkeit vergessen lässt.

Räderwerk – Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Integraler durchlaufender Bestandteil von „What you really need“ ist das „Räderwerk“. Dieses künstlerisch wie praxisorientierte Mobilitätslabor er­fin­det das Rad insofern neu, indem es alte und neue Zugänge und Mög­lich­keiten rund ums Fahrrad wieder auf die Räder bringen will. Der Welser Künst­ler Arno Jungreithmeier und der Lehrer Wolfgang Wurm sind die Köp­fe dieser innovativen Radwerkstatt, die ein schraubendes Kompetenz­zentrum innerstädtischer Mobilitätslösungen auf Basis des Fahrrads ist und wieder mehr radelndes Bewusstsein in der Messestadt ausbilden will. Ge­mein­sam entwickeln sie lustvolle und individuelle Radlösungen für verschiedenste Zwecke. Höchsten qualitativen, technischen, praktikablen und künstlerischen Qualitätsansprüchen wollen sie dabei genügen: Nicht weniger, aber auch nicht mehr als notwendig. Dabei werden alte Fahrräder reanimiert, entschlackt und mit Neuteilen ausgestattet, die allesamt in Europa pro­duziert werden. Für Transport-Bedürfnisse werden brauchbare Lösun­gen aufgesucht und Anhänger gebaut: Sämtliche Lebensmittel für die Kan­ti­ne werden mit dem Fahrrad herbeigekarrt oder die Werbemittel auf Lauf­rädern durch die Stadt gezogen. Die städtischen Archäologen bekommen ein adäquates Archäologierad, das Kulturzentrum „Alter Schlachthof“ ein Las­tenrad, der Kulturstadtrat ein Stadtrad. Künstlerisches Mastermind da­bei ist Jungreithmeier. Alle anderen Belange werden gemeinsam mit Wolf­gang Wurm erarbeitet, der als Lehrer an der Hauptschule Steinerkirchen auch mit anderen Radprojekten ans Räderwerk angeschlossen ist. Eine weitere spezielle Räderwerk-Aktion wurde bereits Anfang Jänner abgewickelt, als der in Österreich lebende Senegalese Bambo Rauter vom Räderwerk mit einem Kona-Afrika-Bike ausgestattet wurde, das er via Flugzeug in den Se­ne­gal mitnahm. Mit diesem Transportrad werden Kranke aus dem Dorf zur Hauptstraße gebracht, um dann von einem Rettungswagen ins Kranken­haus gebracht werden zu können. Rauter hat die Übergabe und sein Dorf in Film und Fotos dokumentiert, die am Räderwerk-Teranga-Abend (20.03.) – bei dem Rauter auch kochte – gezeigt wurden und einen für uns gänzlich anderen Blick auf Rad-Mobilität warfen. Auch an die Welser Ampelmasten montierte Windräder erinnern an die städtische Runderneuerung. Auf dem Rücken der Fahrräder könnte sich vieles ändern: Entschleunigung, Umwelt, Ressourcen, Energie, Gesundheit oder Mobilisierung verlieren ihren platten Schlagwortcharakter. Die Hoffnung, dass dieses Projekt wirkt und über das heurige Frühjahr hinaus lebt, wird durch dieses, unmittelbare Lust aufs Rad­machen genährt. „Am Rad haben wir die höchste Geschwindigkeit, die wir eigentlich noch geistig ‚dastengan‘“, meint Wolfgang Wurm abschließend. Ein wahrhaft brauchbarer Denkanstoss!

http://linz09.medienkulturhaus.at
Mehr zum umfassenden Veranstaltungs- und Ausstellungsprogramm unter: www.medienkulturhaus.at

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04/09
FotoautorInnen: 
Edith Maul-Röder

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