„Wenn unser Lage is gut, unser Lage is schlecht …“

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Walter Kohl hat im März das Purimspil im Cembran Keller besucht.

Purim, ach ja, sagte ein Wiener Freund, als ich ihm erzählte, dass ich in Linz das Purimspil von David Maayan, Joshua Sobol und Ida Kelarova gesehen hat­te. Ich war vor ein paar Tagen erst beim Purimfest im Tempel, sagte er, es war wunderschön, die Kinder haben geratscht, Lärm, Lachen, Trubel. Er grinste: Wir Juden müssen zu Purim so lange Wein trinken, bis wir nicht mehr wissen, wie wir heißen, sagte er, und ich war nicht sicher, ob er es ernst mein­te. Dann verdüsterte sich die Miene des Mannes, der als Kind ein Nazi-KZ überlebt hatte, und er knurrte: Julius Streicher hat in seinem Hetz­blatt „Der Stürmer“ geschrieben, seht die Juden, wie sie feiern und toben, weil Ha­man (der Bösewicht in der biblischen Esther-Geschichte, um die es im Stück geht) und seine Söhne aufgehängt wurden!
So eine bipolare Befindlichkeit, von der ich nicht weiß, ob sie nur meinem Freund mit seinen schrecklichen Kindheitserinnerungen eigen ist, oder ob sie die generelle Grundierung dieses jüdischen Halbfeiertages bildet, arbeitet die Linzer 09-Inszenierung beeindruckend und überzeugend heraus. „Wenn unser Lage is gut, unser Lage is schlecht, wenn unser Lage is schlecht, unser Lage is gut …“, deklamiert David Wurawa in der Rolle des Mordechai, Esthers Cousin. Es ist der Satz, der alles aufreißt und alles umfasst, was dieses Stück – mit Erfolg – transportiert.

Fluchen und Völlern, melancholisches Singen und Kindertrubel, anarchischer Mummenschanz und herzerweichende Wehmut ob der geraubten, ver­nichteten Vergangenheit, das alles schichtet sich übereinander und vermischt sich mit einer düsteren die Shoa evozierenden Bilderflut. Dabei wird nicht belehrt, wird nichts behauptet. Es wird einfach ein Kunstwerk einem – großteils erstaunlich jungen – Publikum gezeigt, prall und sinnlich, fröhlich und gespenstisch, mit Überwältigungsschüben in Richtung Zu­seher­schaft. Ein prozessuales und schönes, ein gleichzeitig robustes und fragiles Kunstwerk. Todtraurig ist dieses Stück in seinem Kern, ja, todtraurig. Aber, und das ist die Magie von Theater, von gelungenem Theater, es entlässt einen freier, weiter, offener, und, so seltsam es klingt, beglückt.
Der Cembran Keller ist der perfekte Ort für dieses Spiel. Diese Stollen sind selbst in hohem Maße bipolar markiert, als Luftschutzkeller und Mauthau­sen-Nebenlager und nun Vertriebs- und Lager-Stätte des Genussmittels Wein. Der schwere Hefe-Odeur der Weinproduktion und die Naziverbrechen kleben wie Schimmelpilz am kalten Gemäuer. David Maayan schiebt noch ein paar Schichten darüber, Lust und Karnevalsspektakel werden durchdrungen von den Bildern der Shoa, die wie nebenbei auftauchen, als am Pu­bli­kum vorbeihuschende Gestalten in blau-grauen Häftlingslumpen, oder ausgemer­gelt im feuchten Sand liegend, an die kalten Mauern gepresst, irgend­wie leer, wie weggeworfen, wie ausgelutschte und zwecklos gewordene blo­ße Hül­len von Menschen. Subjekte, die man der Subjekthaftigkeit beraubt hat.

Der modus operandi der Inszenierung ist das Transitorische, das Vor­über­ge­hen­de, das Nicht-Stabile. Die Choreographie dazu ist komplex und von ho­her Genauigkeit, etwa wenn zu Beginn Zuseher und Schauspieler in Grup­pen aufgeteilt durch die Keller geführt werden. Diese Kunst der Führung von Menschenmassen macht einen gruseln wegen der Assoziationen zur per­fiden Präzision, mit der die nationalsozialistischen Endlöser, die Eich­män­ner unserer Vätergeneration zwecks Vernichtung Menschenmassen be­wegten über einen ganzen Kontinent. Und dazu flimmert im Cembran Kel­ler die österreichische Identität in Form von „Schifoaaahrn“-Videos über die modrigen Ziegelwände ...
Mit diesem leichthändig hingestellten Spiel mit Verschiebungen und Überlagerungen, frei von allen Deutungsschlacken, hat Linz09 etwas nach Ober­österreich gebracht, das man so hier nur selten zu sehen bekommt. Stücke, in denen so heutig eine Geschichte erzählt und zugleich mit-erzählt wird, dass es kein geeignetes Instrumentarium gibt, um das zu erzählen, was erzählt werden müsste, finden sich nicht oft auf Linzer Bühnen.

Der Raum reicht nicht aus, das phänomenale Ensemble gebührend zu lo­ben, die Autoren, die Regie, die Musiker, die Sänger und das ungemein wich­tige Personal rundherum, das ständig Wein nachschenkt, roten, Zwei­gelt, aus österreichischer Produktion, und das die Zuseher mit Süßigkeiten wie den köstlichen Haman-Taschen versorgt. „Die Musik ist wunderschön, die Worte voller Schmerz“, sagt einer der Sänger/Schauspieler gegen Ende des Abends in einem von vielen tief berührenden Augenblicken. Mit diesem Satz habe ich meinem jüdischen Freund geantwortet, als er mich fragte, wie die Aufführung war.

Ich erlaube mir abschließend ein subjektives Resümee: Nach dem Abend mit dem Purimspil ist die ganze Nacht hindurch eine wahnwitzige Überfülle von irren, wirren Träumen durch meinen unruhigen Schlaf gepurzelt. Dies deute ich so, dass die gleichermaßen lebens- wie todessatten Bilder und Lieder und Gerüche aus dem Cembran Keller in meinem Hirn weiter ge­arbeitet haben. Und das ist das Schönste und Großartigste, was Theater zu leisten imstande ist.

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04/09
FotoautorInnen: 
Nick Mangafas

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