Verschwörungsalarm!
Um etwas vorweg zu nehmen: Zu welch erstaunlichen Leistungen befähigt ist doch bekanntlich der menschliche Geist! Ohne größere Mühen vermag er es, subjektive Scheinwelten zu errichten und liebevoll detailliert auszugestalten, die sich einer jeglichen Realitätskontrolle gegenüber als robust und undurchdringlich zeigen. Und das Vorhandensein grillenhafter Phantasien innerhalb der Gesellschaft mag in seinen Ausmaßen das übersteigen, was selbst der skeptischste Beobachter für möglich halten würde. Angesichts derartiger menschlicher Unzulänglichkeiten mag sich ein vermuteter Zusammenhang zwischen einem „gesellschaftskritischen Vakuum“ innerhalb eines „postideologischen“ Zeitalters und Verschwörungstheorien, die seiner Auffüllung dienen, zunächst relativieren.
Generelles Merkmal von Verschwörungstheorien ist der Glaube an das Wirken und die Wirkungsmacht individueller Akteure oder Gruppen mit egoistischen oder gar kriminellen Intentionen. Im Gegensatz zu struktureller Gesellschaftskritik tritt bei Verschwörungstheorien die Betonung von Systemzusammenhängen hinter der eines personalisierten Wirkens einzelner verschworener Agenten zurück. Ein weiteres Merkmal von Verschwörungstheorien ist ihre so gut wie vollständige Immunität gegenüber rationalen Gegenargumenten oder evidenter Erfahrung beziehungsweise die Eigenschaft von VerschwörungstheoretikerInnen, die Schuld für die mangelnde Reichweite und zweifelhafte Attraktivität ihrer Theorien konsequent anderen Instanzen zuzuweisen (wovon im Übrigen auch seriöse Gesellschaftskritik nicht unbedingt frei ist).
Versuchen, einen Zusammenhang zwischen Verschwörungstheorien und ernst zu nehmender Gesellschaftskritik zu etablieren, mag die Vielfalt und mangelnde Themenverwandtschaft von gängigen Verschwörungstheorien entgegengestellt werden. So mögen sich Ufo-Gläubige in Roswell/Area 51-Mythen versteigen und AntisemitInnen an die Echtheit der Protokolle der Weisen von Zion glauben. Rechte Esoterik-Dunstkreise erklären sich die Verwerfungen der letzten paar Jahrhunderte der Weltgeschichte über kriminelle Machenschaften von Illuminaten und Freimaurern. Verschwörungstheorien ranken sich um den Tod berühmter Persönlichkeiten, von John F. Kennedy über Elvis bis zu Lady Diana oder Kurt Cobain. Und dann gibt es da noch die berühmte „Bielefeld-Verschwörung“, die davon ausgeht, dass die deutsche Stadt Bielefeld in Wirklichkeit gar nicht existiert, sondern Produkt einer Verschwörung der bundesdeutschen Regierung ist (was natürlich scherzhaft gemeint ist). Soll heißen, Verschwörungstheorien rekurrieren in nur wenigen Fällen auf einem tatsächlichen oder ernst zu nehmenden gesellschaftskritischen Kern.
In der Geste einer gewissen intellektuellen Überfeinerung mögen Verschwörungstheorien in ihrem Wesen als in sich geschlossene und konsistente Sinnzusammenhänge, deren Sinn durch ein willkürliches, aber immer betont rationales Assoziieren von Ereignismengen, Fakten oder erfundenen Fakten erzeugt wird, als negativer Zwilling der Rationalität beziehungsweise der Vernunftgesellschaft erscheinen, so wie der Aberglauben als negativer Zwilling zum Glauben. So hat es einmal der große Adorno vor dem Zusammenhang der „Dialektik der Aufklärung“ gesagt (oder besser, laut darüber nachgedacht), und auch bei Schriftstellern wie Thomas Pynchon oder Don de Lillo sind Verschwörungsdenken und Paranoia als „negativ-dialektische“ individuelle Erfahrungen beziehungsweise Erklärungs- und Schematisierungsversuche der Schrecknisse der modernen Welt ein (ironisch behandeltes) immer wiederkehrendes Thema (in dem Sinn freilich, wonach, bei Pynchon zumindest, sich die „Vernunftgesellschaft“ selbst als Halluzination erweist, und Verschwörungstheorien daher weniger ein dialektischer Zwilling der „Rationalität“ sind, sondern Projektionen der Irrationalität und Rätselhaftigkeit des Gesellschaftlichen).
Psychologisch, oder besser gesagt, im Zusammenhang mit der Hirnforschung betrachtet, beruht Denken auf Assoziieren von Eindrücken und Ideen und ist gewissermaßen fixiert auf die Herstellung und Erzeugung von „Sinn“. Eingeübte Denkmuster, individuelle wie kollektive, sind von bemerkenswerter Stabilität und Robustheit. Denkmuster mögen keine Zufälle, und sind damit dafür anfällig, Sinnzusammenhänge auch dort zu konstruieren, wo keine Sinnzusammenhänge vorliegen. Beispiele dafür sind Verschwörungstheorien oder esoterisches Gedankengut: Astrologie, Wahrsagerei, Kabbala-Mystik und dergleichen mehr. Vor allen Dingen letzteres, Esoterik, ist gesellschaftlich so weit verbreitet, dass es als beinahe hoffnungslos oder unzulänglich erscheint, ihm das Etikett des Devianten oder Unnatürlichen anzuheften. Einer wunderbaren Redewendung aus dem Buch „Muster im Kopf. Warum wir denken, was wir denken“ von Friedhelm Schwarz (Rowohlt Verlag, 2006) zufolge dient esoterisches Gedankengut (oder Verschwörungsdenken) den dafür besonders anfälligen (wie das Buch behauptet) besser gebildeten Mittelschichten gerade im Zusammenhang mit ihrer besseren Bildung dazu, „die Grenzen des Alltags weiter hinauszuschieben.“ Dazuaddieren mag sich auch noch die psychohygienische Funktion der Ego-Pflege, insofern sich Esoterikgläubige oder VerschwörungstheoretikerInnen gerne als IlluminatInnen wahrnehmen, die sich vermöge ihres Geheimwissens über eine von ihnen als dumpf und stupide betrachtete Masse hinausheben (darin im Übrigen nicht unähnlich den „seriösen“ GesellschaftskritikerInnen).
Eine solche Analyse scheint jedoch die eigentliche Grundlage von esoterischem Gedankengut zu unterschlagen, die weniger in Versuchen der Ordnung und Schematisierung von Außenwelten liegen, als in der Projektion und Erfassbarmachung von diffusen, irrational scheinenden Innenwelten. (Politische) Verschwörungstheorien als personalisierend angelegte individuelle Deutungsversuche des Wirkens von übermächtigen, beziehungsweise tatsächlich von konkreten Interessensgruppierungen gesteuerten, Systemlogiken wiederum erscheinen als Projektion von irritierenden Außenwelten. Politischen VerschwörungstheoretikerInnen wird von Seiten der scheinbar Vernünftigen gerne vorgeworfen, irritierende Zusammenhänge zu halluzinieren. Doch verhält es sich, wie Slavoj Zizek einmal anführte, nicht vielmehr so, dass es „da draußen“ tatsächlich irritierende Dinge gibt? So ist neokolonialistische Versklavung der Dritten Welt ja nicht allein Ausdruck einer notwenigen historischen Entwicklung oder einer „Logik des Kapitals“ inbegriffen, sondern ein kontrollierter und gut organisierter Prozess, der an vorderster Front eben von Institutionen und Plattformen wie dem Internationalen Währungsfonds, der Weltbank oder den G8-Gipfeln getragen wird. „Globalisierung“ wiederum ist nicht allein eine in ihrer Erklärung auf sich selbst verweisende „Naturgewalt“, sondern ein ebenfalls vom Finanzkapital und Industriegewaltigen diktierter, von willfährigen, mit der Wirtschaft in der Regel amalgamierten, PolitikerInnen exekutierter und von den Massenmedien abgesicherter und verkaufter Vorgang. Verschwörungstheorien, die in einem Amalgam von Konzernen, Kapitalgruppen und Interessensgruppierungen wie dem Bilderberg-Zirkel oder der Trilateralen Kommission eine heimliche Weltregierung vermuten, haben bestenfalls eine diabolisch-überzeichnete Vorstellung von den Vorgängen in den Zentren der Macht, weniger aber in der Sache selbst unrecht.
Als Beispiel für „härteres“ politisches Verschwörungsdenken lassen sich natürlich die Verschwörungstheorien über die Ereignisse rund um die Terroranschläge des 11. September 2001 heranziehen, die in ihren extremeren Formen auf einen „inside job“ der amerikanischen Regierung und ihrer Geheimdienste schließen. Leuten, die sich zur Erlangung dieser Erkenntnis (notwendigerweise) über angebliche ferngesteuerte Geisterflugzeuge oder in den riesigen Türmen des World Trade Centers (notwendigerweise massenhaft) platzierten Sprengsätzen empor hangeln, ist freilich nicht zu helfen (was bei VerschwörungstheoretikerInnen ganz allgemein der Fall ist). (Auch die Fernseh-Comicserie „South Park“ hat sich der Sache einmal angenommen, und entlarvte als eigentlichen Motor der Verbreitung jener „inside-job“-Verschwörungstheorien die amerikanische Regierung selbst, die damit ihre Macht demonstrieren wollte, angeblich ein derartiges Verbrechen begehen und 75 % der Bevölkerung hinsichtlich ihrer Urheberschaft täuschen zu können.)
Interessant bleibt freilich die sich insbesondere an der Bush-Regierung illustrierende Offenheit, mit der durch einzelne Interessensgruppen Machtmissbrauch betrieben werden kann, der durch ihre Eingelassenheit in ein allgemeines Establishment durch ebendieses gedeckt wird. Im Zusammenhang mit den Terroranschlägen sind weniger angeblich unbeantwortete Fragen irritierend, als der Umstand, dass für das Versagen im System (von den lausigen Sicherheitsvorkehrungen der amerikanischen Fluggesellschaften über die Ignoranz der Bush-(und ihrer Vorgänger-)Regierung gegenüber Terrorwarnungen bis hin zur Inkompetenz der Geheimdienste etc.) konkrete Schuldzuweisungen und die Übernahme von Verantwortung recht wirkungsvoll vermieden und abgeblockt werden, da sie letztendlich tatsächlich das gesamte System und seine Institutionen betreffen1.
Angesichts dessen erscheint die Formulierung von politischen Verschwörungstheorien wenig überraschend, andererseits gerade aber deshalb in den Intentionen, das „System“ möglichst wirkungsvoll anzuklagen, als mehr oder weniger überflüssig. Aber nur weil etwas überflüssig ist, heißt das natürlich noch lange nicht, dass es etwas nicht geben muss.
1 Siehe dazu das wunderbare Buch „The 5 Unanswered Questions About 9/11. What the 9/11 Commission Report Failed to Tell Us“ von James Ridgeway, erschienen bei Seven Stories Press 2005, welches trotz seines erhellenden Charakters meines Wissens nicht auf deutsch vorliegt (wohinter man eine Verschwörung vermuten könnte).
& Drupal
spotsZ - Kunst.Kultur.Szene.Linz 2006-2014