Konstruktion und Fiktion
„Konstruktion“ bildet einen zentralen Begriff der Ausstellung. In seiner doppelten Bedeutung, dass die türkische Gesellschaft sich in einem umfassenden Wandel zu einer „Modernität“ befindet, deren Konstruktion aus der nicht eben reibungslosen Berührung von Orient und Okzident resultiert. Andererseits werden „Geschichte“ und Identität immer über Geschichtenerzähler und Geschichtsschreiber konstruiert, deren Konstruktion natürlich immer, egal welcher geografischen und kulturellen Herkunft, grundsätzlich in Frage gestellt werden muss.
Kutlug Ataman bezieht sich in seinen acht Video-Arbeiten, die im Lentos gezeigt werden, auf einen reichen Zitatschatz aus der Kunst- und Kulturgeschichte des Ostens und des Westens, auf politische und soziologische Tatbestände einer da und dort eng geschnürten Hegemonie, der mit den Begriffen Identität und Freiheit zu Leibe gerückt werden will. Außerdem rekurriert Ataman auf eine Subjektivität der gezeigten Arbeiten, die zwischen Dokumentation, „Geschichte von unten“, oral history, Fiktion, Utopie und einem kollektiven Macht- und Fiktionsverständnis hin- und herpendelt – und die ihre subversive Kraft aus den gesellschaftlichen Randzonen Europas schöpfen soll. In gewisser Weise wird damit „die Türkei“ selbst zu einer „Geschichtenerzählerin von unten“, wenn von einem Rand Europas der Frage nach den „geografischen, kulturellen, institutionellen, ideologischen und ideellen Grenzen des Raumes Europa“ nachgegangen werden sollte – wie im Programmtext beschrieben steht. Dass die acht Arbeiten eng miteinander verknüpft sind, verdeutlicht die Aussage des Künstlers: „Unbedingt müssen alle diese Werke gemeinsam gezeigt werden, denn das Zusammenspiel der einzelnen Arbeiten ergibt das Rückgrat und die Seele dieser Ausstellung.“
Zu den Ausstellungsstücken, und zur ersten Installation „Dome“: Auf über den Köpfen abgehängten Flatscreens schweben junge Türken in Alltagskleidung gleich Bauarbeitern zwischen unsichtbarem Baugerüst an Seilen durch die Wolken. Mit Handys, Gebetskettchen und anderen Gegenständen hantierend versinnbildlichen sie den Aufbau – und den allesversprechenden Mythos der Moderne. Die Videoinstallation bezieht sich, was die Anordnung der Bildschirme betrifft, auf religiöse Baukunst, ist konkret von den Kuppelkonstruktionen der römischen Kathedralen inspiriert. Römische Baukunst zitiert auch die Videoskulptur „Column“. Entsprechend der thematischen Nachbildung der Trajanssäule wird hier allerdings Macht zur Ohnmacht. Gezeigt werden 42 Gesichter von Dorfbewohnern, die als stumme „oral history“ eine anatolische Geschichte der Unterdrückung erzählen, einer Geschichte von unten, die ohne Stimme geblieben ist. Gar nicht sprachlos hingegen, im selben Raum, berichtet eine Dorfbewohnerin aus der östlichen Türkei über ihre Suche nach dem perfekten Ehemann, die auch nach mehrmaligem Scheitern erfolglos geblieben ist – als quasi aufgezogenes Sprechen wider Stereotype und Ohnmacht.
Eine Idee ungreifbaren Ausmaßes wird in „Journey to the Moon“ aufgerollt: Eine geplante Reise zum Mond wird als kommentierte Bildgeschichte erzählt. Die fiktive Geschichte geht zurück auf einen einheimischen Politiker, der in den 50er Jahren mit der Ansiedlung einer Raumschiff-Fabrik um Stimmen geworben hatte. Das verselbständigt sich und im hintersten anatolischen Dorf Erzucan taucht 1957 plötzlich die Idee auf, tatsächlich zum Mond reisen zu wollen. Die BewohnerInnen verhandeln nun in dem 80minütigen Film die Machbarkeit dieser Utopie, verbünden sich, entzweien sich. Am Ende fliegen eine Handvoll Spinner in einem umfunktionierten Minarett hinfort. Türkische Intellektuelle, AutorInnen und WissenschaftlerInnen aus verschiedenen Bereichen interpretieren dabei den Hergang der Dinge um die Konfrontation von Moderne und Fiktion: Sie anerkennen die gesellschaftlichen Tatbestände von starker subjektiver Präsenz, realer Abgelegenheit und Grenzüberschreitung, betonen ebenso den Wert der „outcasts“: Derer, die sich an den Rändern der Gesellschaft befinden, die sich dem zeit- und grenzenlosen Wunsch nach Utopie, Traum oder Glück verschrieben haben und in einer absurd erscheinenden Weise am Irrationalen festzuhalten imstande sind.
Sehr mysteriös wird das einander Nicht-verstehen der Kulturen des „Ostens“ und des „Westens“ in der Konfrontation mit Kunst selbst, in dem Raum, die Ataman der englischen Sprache als „Sprache der Modernität“ gewidmet hat: Einerseits projiziert Ataman die gesamten Werke Shakespeares als konzeptionell kalligrafische Kurzfilmstudie. Andererseits lässt er im selben Raum zwei junge türkische Studenten in einer gegenüberliegenden Projektion „English As A Second Language“ einen kuriosen Englischkurs belegen: Sie tragen sich gegenseitig das englische Alphabet des Edward Lear vor, eines Nonsense-Poeten des 19. Jahrhunderts, der auch für native speakers eine Herausforderung darstellt – ob seines Werkes, das sich vor allem durch Sinn- und Sprachanarchie auszeichnet.
Vom hinteren Raum blickt das projizierte Bild eines Generals omnipräsent in die Ausstellungsräumlichkeiten. Es bildet Fluchtpunkt und zentrales Motiv der Ausstellung und repräsentiert laut Ataman positive und negative Aspekte von Macht. Es stellt als Bild eine zwischen den Kulturen verunglückte historische Fotografie dar: In der Vermischung von östlicher und westlicher Rahmensetzung wurde der General in der byzantinischen Tradition der Darstellung eines „großen“ Machtzentrums so in die Mitte des Bildes gesetzt, dass seine umgebende Truppe teilweise vom Bild abgeschnitten werden musste – der fotografische Bildaufbau wurde nicht nach den Regeln der klassischen westlichen Komposition gehandhabt. Grundlegende Auffassungsunterschiede im Dialog der Kulturen also. Im selben Raum wird als letzte Projektion ein Film gezeigt, in der der Künstler selbst seine Schau mit einem Märchenzitat beschließt: Mit verbundenen Augen irrt er durch die Wüste, sucht nach der Liebe. Oder Ataman ist als Bewohner seiner eigenen Fiktionalität auf dem Mond gelandet. So oder so wird im übertragenen Sinn nach der greifbareren Begegnung zwischen Ost und West gesucht.
Wie andernorts beschrieben, steht Atamans Gesamtwerk für eine Subjektivität, die stark dokumentarisch, biographisch und sozialpolitisch ausgerichtet ist. Individuen scheinen oft zerrissen, manches Mal bizarr und befremdend. In dieser Schau ist jedoch die Absicht spürbar, über möglichst weit entfernte Randlagen etwas über „Europa“ sagen zu wollen. Aber was? Die nichtkommentierende Haltung des filmisch-dokumentarisch arbeitenden Künstlers weicht in der eingangs erwähnten „Notwendigkeit, die ausgestellten Werke unbedingt in der Gesamtheit betrachten zu müssen“, einer abgekapselt wirkenden Objektivität. Subjektivität in den Arbeiten selbst wird zu einer eigenartigen Entrückung. Die sozialen Konflikte, die sich aus dem Aufeinanderprallen von Ost und West ergeben und die von Ataman im Pressetext als dramatisch erkannt werden, schweben in einem luftleeren Raum. Das ist einerseits möglicherweise die märchenhafte „Seele der Ausstellung“, die ja auch im Titel wiederzufinden ist. Andererseits entsteht zwischen dieser Märchenhaftigkeit und der ästhetischen Konstruktion der Ausstellung eine irritierende Differenz. Aber welche? Zu einer Realität, der auf Grund ihrer Drastik mit Erzählungen nicht mehr beizukommen ist? Zu einer westlichen Rationalität, die an die Macht der Fiktion nicht mehr zu glauben vermag? Oder zu einer Kulturhauptstadtidee, die immer und überall ihr Thema von europäischer Identität in den Hintergrund jedes Vordergrundes stellen will?
„Mesopotamische Erzählungen“ im Lentos noch bis 19. April.
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