Konstruktion und Fiktion

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Lentos und Linz09 haben den türkischen Künstler und Filmemacher Kutlug Ataman nach Linz gebracht – Kutlug Ataman zeigt im Lentos „Mesopotamische Erzählungen“. Auch Absicht ist es, mittels türkischer Gegenwartskunst das Märchen von Identität und Moderne von einem „Rand“ Europas zu betrachten.

„Konstruktion“ bildet einen zentralen Begriff der Ausstellung. In seiner doppelten Bedeutung, dass die türkische Gesellschaft sich in einem umfassenden Wandel zu einer „Modernität“ befindet, deren Konstruktion aus der nicht eben reibungslosen Berührung von Orient und Okzident resultiert. An­derer­seits werden „Geschichte“ und Identität immer über Geschich­ten­er­zäh­ler und Geschichtsschreiber konstruiert, deren Konstruktion natürlich im­mer, egal welcher geografischen und kulturellen Herkunft, grundsätzlich in Frage ge­stellt werden muss.

Kutlug Ataman bezieht sich in seinen acht Video-Arbeiten, die im Lentos ge­zeigt werden, auf einen reichen Zitatschatz aus der Kunst- und Kultur­ge­schich­te des Ostens und des Westens, auf politische und soziologische Tat­be­stände einer da und dort eng geschnürten Hegemonie, der mit den Be­griffen Identität und Freiheit zu Leibe gerückt werden will. Außerdem re­kur­riert Ataman auf eine Subjektivität der gezeigten Arbeiten, die zwischen Dokumentation, „Geschichte von unten“, oral history, Fiktion, Utopie und einem kollektiven Macht- und Fiktionsverständnis hin- und herpendelt – und die ihre subversive Kraft aus den gesellschaftlichen Randzonen Euro­pas schöpfen soll. In gewisser Weise wird damit „die Türkei“ selbst zu einer „Geschichtenerzählerin von unten“, wenn von einem Rand Europas der Fra­ge nach den „geografischen, kulturellen, institutionellen, ideologischen und ideellen Grenzen des Raumes Europa“ nachgegangen werden sollte – wie im Programmtext beschrieben steht. Dass die acht Arbeiten eng miteinander verknüpft sind, verdeutlicht die Aussage des Künstlers: „Unbedingt müs­sen alle diese Werke gemeinsam gezeigt werden, denn das Zusam­men­spiel der einzelnen Arbeiten ergibt das Rückgrat und die Seele dieser Ausstellung.“

Zu den Ausstellungsstücken, und zur ersten Installation „Dome“: Auf über den Köpfen abgehängten Flatscreens schweben junge Türken in All­tags­klei­dung gleich Bauarbeitern zwischen unsichtbarem Baugerüst an Seilen durch die Wolken. Mit Handys, Gebetskettchen und anderen Gegenständen hantie­rend versinnbildlichen sie den Aufbau – und den allesversprechenden My­thos der Moderne. Die Videoinstallation bezieht sich, was die Anord­nung der Bildschirme betrifft, auf religiöse Baukunst, ist konkret von den Kup­pel­kons­truktionen der römischen Kathedralen inspiriert. Römische Bau­kunst zi­tiert auch die Videoskulptur „Column“. Entsprechend der thematischen Nach­bil­dung der Trajanssäule wird hier allerdings Macht zur Ohn­macht. Gezeigt werden 42 Gesichter von Dorfbewohnern, die als stumme „oral history“ eine anatolische Geschichte der Unterdrückung erzählen, einer Geschichte von un­ten, die ohne Stimme geblieben ist. Gar nicht sprachlos hingegen, im selben Raum, berichtet eine Dorfbewohnerin aus der östlichen Türkei über ih­re Suche nach dem perfekten Ehemann, die auch nach mehrmaligem Schei­tern erfolglos geblieben ist – als quasi aufgezogenes Sprechen wider Stereo­type und Ohnmacht.  

Eine Idee ungreifbaren Ausmaßes wird in „Journey to the Moon“ aufgerollt: Eine geplante Reise zum Mond wird als kommentierte Bildgeschichte er­zählt. Die fiktive Geschichte geht zurück auf einen einheimischen Politiker, der in den 50er Jahren mit der Ansiedlung einer Raumschiff-Fabrik um Stim­men geworben hatte. Das verselbständigt sich und im hintersten anatolischen Dorf Erzucan taucht 1957 plötzlich die Idee auf, tatsächlich zum Mond reisen zu wollen. Die BewohnerInnen verhandeln nun in dem 80minütigen Film die Machbarkeit dieser Utopie, verbünden sich, entzweien sich. Am Ende flie­gen eine Handvoll Spinner in einem umfunktionierten Minarett hinfort. Türkische Intellektuelle, AutorInnen und WissenschaftlerInnen aus verschie­denen Bereichen interpretieren dabei den Hergang der Dinge um die Kon­frontation von Moderne und Fiktion: Sie anerkennen die gesellschaftlichen Tatbestände von starker subjektiver Präsenz, realer Abgelegenheit und Grenz­überschreitung, betonen ebenso den Wert der „outcasts“: Derer, die sich an den Rändern der Gesellschaft befinden, die sich dem zeit- und grenzenlosen Wunsch nach Utopie, Traum oder Glück verschrieben haben und in einer ab­surd erscheinenden Weise am Irrationalen festzuhalten imstande sind.

Sehr mysteriös wird das einander Nicht-verstehen der Kulturen des „Os­tens“ und des „Westens“ in der Konfrontation mit Kunst selbst, in dem Raum, die Ataman der englischen Sprache als „Sprache der Modernität“ ge­widmet hat: Einerseits projiziert Ataman die gesamten Werke Shakes­pea­res als konzeptionell kalligrafische Kurzfilmstudie. Andererseits lässt er im selben Raum zwei junge türkische Studenten in einer gegenüberliegenden Pro­jektion „English As A Second Language“ einen kuriosen Eng­lisch­kurs belegen: Sie tragen sich gegenseitig das englische Alphabet des Ed­ward Lear vor, eines Nonsense-Poeten des 19. Jahrhunderts, der auch für native speakers eine Herausforderung darstellt – ob seines Werkes, das sich vor allem durch Sinn- und Sprachanarchie auszeichnet.  

Vom hinteren Raum blickt das projizierte Bild eines Generals omnipräsent in die Ausstellungsräumlichkeiten. Es bildet Fluchtpunkt und zentrales Mo­tiv der Ausstellung und repräsentiert laut Ataman positive und negative As­­pekte von Macht. Es stellt als Bild eine zwischen den Kulturen verunglückte historische Fotografie dar: In der Ver­mi­schung von östlicher und westli­cher Rahmen­set­zung wur­de der General in der byzantinischen Tra­dition der Darstellung eines „großen“ Macht­zen­trums so in die Mitte des Bildes ge­setzt, dass sei­ne umgebende Truppe teilweise vom Bild abgeschnitten werden musste – der fotografische Bild­aufbau wurde nicht nach den Regeln der klassischen westli­chen Komposition gehandhabt. Grund­legende Auffas­sungs­unterschiede im Di­alog der Kul­turen also. Im selben Raum wird als letzte Pro­jektion ein Film gezeigt, in der der Künstler selbst seine Schau mit einem Mär­chen­zitat beschließt: Mit verbundenen Augen irrt er durch die Wüste, sucht nach der Lie­be. Oder Ata­man ist als Be­woh­ner seiner eigenen Fiktionalität auf dem Mond ge­landet. So oder so wird im übertragenen Sinn nach der greifbareren Begegnung zwischen Ost und West gesucht.

Wie andernorts beschrieben, steht Atamans Ge­samtwerk für eine Subjektivität, die stark dokumentarisch, biographisch und sozialpolitisch ausgerichtet ist. Individuen scheinen oft zerrissen, man­ches Mal bizarr und befremdend. In dieser Schau ist jedoch die Absicht spürbar, über möglichst weit entfernte Randlagen etwas über „Eu­ro­pa“ sagen zu wollen. Aber was? Die nichtkommen­tierende Haltung des filmisch-dokumentarisch ar­beitenden Künstlers weicht in der eingangs er­wähn­ten „Notwendigkeit, die ausgestellten Wer­ke unbedingt in der Gesamtheit betrachten zu müssen“, einer abgekapselt wirkenden Objektivität. Subjektivität in den Arbeiten selbst wird zu einer eigenartigen Entrückung. Die sozialen Konflikte, die sich aus dem Aufeinanderprallen von Ost und West ergeben und die von Ataman im Pressetext als dramatisch erkannt werden, schweben in ei­nem luftleeren Raum. Das ist einerseits mögli­cher­­weise die märchenhafte „Seele der Ausstellung“, die ja auch im Titel wiederzufinden ist. Ande­rer­seits entsteht zwischen dieser Märchenhaftigkeit und der ästhetischen Konstruktion der Ausstel­lung eine irritierende Differenz. Aber welche? Zu einer Realität, der auf Grund ihrer Drastik mit Erzählungen nicht mehr beizukommen ist? Zu ei­ner westlichen Rationalität, die an die Macht der Fiktion nicht mehr zu glauben vermag? Oder zu einer Kulturhauptstadtidee, die immer und über­all ihr Thema von europäischer Identität in den Hintergrund jedes Vordergrundes stellen will?

„Mesopotamische Erzählungen“ im Lentos noch bis 19. April.

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03/09
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Courtesy of Francesca Minini and the artist

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