Das fremdartige Rauschen
Organisator Christian Steinbacher erstellte das dichte Programm, das gemäß dem diesjährigen Motto „Notizen, Ränder, Nomaden“ neben Lesungen, Performances und einer umfassenden Retrospektive des Bildpoeten Georg Jappe auch Raum für Neue Musik und literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung bot. Die Offenheit gegenüber neuen künstlerischen Entwicklungen korrespondiert mit einer überraschenden Geschlossenheit der Programmplanung, die sich in der Konsequenz der vertretenen künstlerischen Positionen spiegelt. Poesie wird hier verstanden als Bezeichnung einer Tätigkeit des Schaffens und Hervorbringens, die avantgardistische Theorie selbstverständlich neben die Auseinandersetzung mit traditionellen künstlerischen und wissenschaftlichen Verfahrensweisen stellt. Vor diesem Hintergrund gewinnt die bereits in Platons antikem Symposion gestellte Frage nach dem idealen Kunstwerk neue Konturiertheit und Aktualität, an die auch der Literaturwissenschafter Friedrich W. Block in seinem Referat anknüpfte.
Als Beispiel mögen die in Linz präsentierten Arbeiten der Schweizerin Annette Schmucki dienen, deren der Lautdichtung nahestehendes „wortballett“ (Schmucki) fünfstimmig hüpfende zur Aufführung gelangte. Schon am ersten Festivalabend überraschte sie jedoch in Kollaboration mit dem Radiokünstler Reto Friedmann mit einer Versuchsanordnung, die die scheinbar vertrauten Klangexperimente der 1970er Jahre in eine neue Präzision übersetzte. Radioempfänger, die quasi auf Zuruf ihre Frequenzen ändern. Ein fremdartiges Rauschen, zusammengesetzt aus einzelnen Stimmen, die sich nicht mehr unterscheiden lassen, ein Changieren zwischen Klangfragment und Stille. So wird in den Arbeiten von blablabor Kunst zu einem Verfahren der Spurensicherung, das keine Rücksicht auf Genregrenzen nimmt und dem eine Beschäftigung mit vielfältigen Vermittlungsstrategien innewohnt. Die Spur zeichnet aus, dass sie überhaupt als solche erkannt wird. Aus künstlich erzeugten Differenzen resultiert eine neuartige „Haltung des Hörens“. Ohne ihn mit einer Interpretation bevormunden zu wollen, bringt Schmucki ihre Zuhörer auf eine genau kalkulierte, klingende Spur.
Diese Lust am Berechenbaren und der Konstruktion bestimmt auch die Arbeiten von Jean-Pierre Balpe und Ilse Garnier. Einen Zyklus widmet sie dem verlorenen Garten ihrer Kindheit. Flüchtige Eindrücke, das Verfließen der Zeit wird übertragen in Punkte, Linien und Flächen auf die Zweidimensionalität des Papiers. Balpes computergestützte Poesie präsentiert sich dagegen als notwendig unabschließbares, stets aktualisierbares Schreiben in virtuellen Räumen, deren Grundrisse häufig wie etwa Borges’ Bibliothek ironischerweise der Gedankenwelt traditionell verfertigter Literatur entspringen. Diese Strenge der stochastischen Berechnung wird konterkariert von einem mittels Google generierten ironischen Eklektizismus in Form von Bild- und Textelementen, der Ilse Garniers visueller Poesie völlig fremd ist. Der vermeintliche Abbildrealismus ihrer Dichtung wird durch die Spannung, die in der Kombination von Bild, Über- und Unterschrift entsteht, suspendiert. Im Anschluss an die traditionelle Emblematik, die die Aufmerksamkeit des Betrachters auf das Bild lenkt, entstehen Umwege und Widerstände in der Lektüre, denen Renate Kühn in einer sensiblen Strukturanalyse Garnier’scher Dichtung nachspürte.
Die Integration wissenschaftlicher Betrachtungsweisen ist zwingend für ein Festival, das unter Poesie wesentlich eine reflexive, systematische Forschungstätigkeit versteht. Die Benn’sche Idee vom Lyriker als (Natur)wissenschafter findet ihre Fortsetzung in den Arbeiten der beteiligten KünstlerInnen. Peter Ablinger transformiert in Voices and Piano für Klavier und CD-Einspielung die Stimmen historischer Persönlichkeiten in sensible Klanganalysen, Yoko Tawado erfindet in einem Briefwechsel Etymologien der Alltagssprache, die in den Antworten ihres Kollegen László Márton einer weiteren Befragung unterzogen werden. Die Sinologin und Schriftstellerin Michèle Métail nahm für ihr neues Projekt La route de cinq pieds, musikalisch reflektiert von ihrem Ehemann Louis Roquin und eigenen Fotografien Anleihen bei traditionellen Formen asiatischer Dichtung. Ann Cotten schließlich nimmt Benns Aufforderung wörtlich und erschließt beschreibend ein Stück Botanik im 7. Wiener Gemeindebezirk. Auch das ist Spurensicherung. Nüchterne morphologische Beschreibung bricht sich an einem poetischen Tonfall, Pathos paart sich mit Ratio. Die Autorin verweigert sich einer eindeutigen Positionierung, steht erst am Anfang dieses Projekts.
„Für die Beweglichkeit“ bietet somit eine ansonsten im Veranstaltungsbetrieb fehlende Möglichkeit für die Begegnung mit Werken und ihren AutorInnen im Entstehungsprozess. So präsentierte das Festival unter anderem neue Gedichte von Franzobel und des Ungarn Lajos Parti-Nagy, der einen Zyklus nach dem Schema von Morgensterns Fisches Nachtgesang verfasste, übersetzt von István Orbán. Zum Abschluss der Veranstaltungsreihe präsentierte Jörg Laederach eine Auswahl aus seinen Übersetzungen des Dichterphilosophen Maurice Blanchot. Anschließend las die auch als Übersetzerin vertretene Zsuzsanna Gahse aus ihren jüngst als Buch erschienenen Dresdner Poetikvorlesungen. Sie verwies auf die Nebenwege, die sich im Schreibprozess auftun. Aus ihrem konsequenten Verfolgen erwächst Poesie.
Beglückend, wie Christian Steinbacher es immer neu versteht, Spuren sichtbar zu machen entlang solcher Nebenwege, Randerscheinungen ins Zentrum poetischer Auseinandersetzung zu rücken.
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