Das fremdartige Rauschen

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Im April fand an verschiedenen Veranstaltungsorten in Linz die dritte Ausgabe des Poesiefestivals „Für die Beweglichkeit“ statt. Mit dem Motto „Notizen, Ränder, Nomaden“ bewegte sich das Programm von Lesungen zu literaturwissenschaftlicher Auseinandersetzung, von Bildpoetik zu Neuer Musik.

Organisator Christian Steinbacher erstellte das dichte Programm, das ge­mäß dem diesjährigen Motto „Notizen, Ränder, Nomaden“ neben Lesungen, Per­for­mances und einer umfassenden Retrospektive des Bildpoeten Georg Jap­pe auch Raum für Neue Musik und literaturwissenschaftliche Ausei­nan­der­setzung bot. Die Offenheit gegenüber neuen künstlerischen Entwick­lun­gen korrespondiert mit einer überraschenden Geschlossenheit der Programm­pla­nung, die sich in der Konsequenz der vertretenen künstlerischen Posi­ti­o­nen spiegelt. Poesie wird hier verstanden als Bezeichnung einer Tätigkeit des Schaffens und Hervorbringens, die avantgardistische Theorie selbstverständlich neben die Auseinandersetzung mit traditionellen künstlerischen und wissenschaftlichen Verfahrensweisen stellt. Vor diesem Hintergrund ge­winnt die bereits in Platons antikem Symposion gestellte Frage nach dem idealen Kunstwerk neue Konturiertheit und Aktualität, an die auch der Li­te­raturwissenschafter Friedrich W. Block in seinem Referat anknüpfte.

Als Beispiel mögen die in Linz präsentierten Arbeiten der Schweizerin An­nette Schmucki dienen, deren der Lautdichtung nahestehendes „wortballett“ (Schmucki) fünfstimmig hüpfende zur Aufführung gelangte. Schon am ersten Festivalabend überraschte sie jedoch in Kollaboration mit dem Ra­dio­­künstler Reto Friedmann mit einer Versuchsanordnung, die die scheinbar ver­trauten Klangexperimente der 1970er Jahre in eine neue Präzision übersetz­te. Radioempfänger, die quasi auf Zuruf ihre Frequenzen ändern. Ein fremdartiges Rauschen, zusammengesetzt aus einzelnen Stimmen, die sich nicht mehr unterscheiden lassen, ein Changieren zwischen Klang­frag­ment und Stil­le. So wird in den Arbeiten von blablabor Kunst zu einem Ver­fahren der Spu­rensicherung, das keine Rücksicht auf Genregrenzen nimmt und dem eine Beschäftigung mit vielfältigen Vermittlungsstrategien innewohnt. Die Spur zeichnet aus, dass sie überhaupt als solche erkannt wird. Aus künstlich er­zeug­ten Differenzen resultiert eine neuartige „Haltung des Hörens“. Ohne ihn mit einer Interpretation bevormunden zu wollen, bringt Schmucki ihre Zuhörer auf eine genau kalkulierte, klingende Spur.

Diese Lust am Berechenbaren und der Konstruktion bestimmt auch die Ar­bei­ten von Jean-Pierre Balpe und Ilse Garnier. Einen Zyklus widmet sie dem ver­lorenen Garten ihrer Kindheit. Flüchtige Eindrücke, das Verfließen der Zeit wird übertragen in Punkte, Linien und Flächen auf die Zwei­dimen­sio­na­lität des Papiers. Balpes computergestützte Poesie präsentiert sich dagegen als notwen­dig unabschließbares, stets aktualisierbares Schreiben in virtuel­len Räu­men, deren Grundrisse häufig wie etwa Borges’ Bibliothek ironischer­weise der Ge­dankenwelt traditionell verfertigter Literatur entspringen. Die­se Stren­ge der stochastischen Berechnung wird konterkariert von einem mit­tels Goo­gle ge­ne­rierten ironischen Eklektizismus in Form von Bild- und Text­ele­men­ten, der Ilse Garniers visueller Poesie völlig fremd ist. Der ver­meint­li­che Ab­bild­rea­lismus ihrer Dichtung wird durch die Spannung, die in der Kom­bi­na­tion von Bild, Über- und Unterschrift entsteht, suspendiert. Im Anschluss an die tradi­tionelle Emblematik, die die Aufmerksamkeit des Betrachters auf das Bild lenkt, entstehen Umwege und Widerstände in der Lektüre, denen Re­na­te Kühn in einer sensiblen Strukturanalyse Garnier’­scher Dichtung nachspür­te.

Die Integration wissenschaftlicher Betrachtungsweisen ist zwingend für ein Festival, das unter Poesie wesentlich eine reflexive, systematische For­schungs­­tätigkeit versteht. Die Benn’sche Idee vom Lyriker als (Natur)wissenschafter findet ihre Fortsetzung in den Arbeiten der beteiligten Künst­ler­Innen. Peter Ablinger transformiert in Voices and Piano für Klavier und CD-Einspielung die Stimmen historischer Persönlichkeiten in sensible Klang­analysen, Yoko Ta­wa­do erfindet in einem Briefwechsel Etymologien der All­tags­sprache, die in den Antworten ihres Kollegen László Márton einer weiteren Befragung unterzogen werden. Die Sinologin und Schriftstellerin Mi­chèle Métail nahm für ihr neues Projekt La route de cinq pieds, musikalisch reflektiert von ihrem Ehe­mann Louis Roquin und eigenen Fotografien An­lei­hen bei traditionellen For­men asiatischer Dichtung. Ann Cotten schließlich nimmt Benns Aufforde­rung wörtlich und erschließt beschreibend ein Stück Botanik im 7. Wiener Ge­mein­debezirk. Auch das ist Spurensicherung. Nüchterne morphologische Be­schrei­bung bricht sich an ei­nem poetischen Tonfall, Pathos paart sich mit Ratio. Die Autorin verwei­gert sich einer eindeutigen Positionierung, steht erst am An­fang dieses Pro­jekts.
„Für die Beweglichkeit“ bietet somit eine ansonsten im Veranstaltungs­be­trieb fehlende Möglichkeit für die Begegnung mit Werken und ihren Autor­Innen im Entstehungsprozess. So präsentierte das Festival unter anderem neue Ge­dichte von Franzobel und des Ungarn Lajos Parti-Nagy, der einen Zyk­lus nach dem Schema von Morgensterns Fisches Nachtgesang verfasste, übersetzt von István Orbán. Zum Abschluss der Veranstaltungsreihe präsentierte Jörg Lae­der­ach eine Aus­wahl aus seinen Übersetzungen des Dichterphilosophen Mau­rice Blanchot. Anschließend las die auch als Übersetzerin vertretene Zsu­zsa­nna Gahse aus ihren jüngst als Buch erschienenen Dresdner Poetik­vor­le­sun­gen. Sie verwies auf die Nebenwege, die sich im Schreibprozess auftun. Aus ihrem konsequenten Verfolgen erwächst Poesie.
Beglückend, wie Christian Steinbacher es immer neu versteht, Spuren sichtbar zu machen entlang solcher Nebenwege, Randerscheinungen ins Zen­trum poetischer Auseinandersetzung zu rücken.

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05/09
FotoautorInnen: 
Otto Saxinger

Annette Schmucki mit Radios von blablabor.

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