Erfahrene Sozialgeschichte

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Im April begab sich Julia Binter auf eine vierstündige Tour des Projektes „Rebellinnen“, das sich zum Ziel gesetzt hat, „Geschichte mit dem Omnibus zu erfahren“. Themen dieser Tour waren „Papiere, Arbeit, Aufenthalte“ und damit eine Spurensuche der Arbeitsmigration in Linz und seiner Peripherie, prall gefüllt mit Antirassismus- und Emanzipationsbestrebungen.

„Ich komme aus, wir kommen aus, ich komme aus … Deutsch … Ich habe keine Angst vor dieser Sprache.“ Gleich zu Beginn der Fahrt, die sich das Verlernen von Sehgewohnheiten klassischer Bustouren zum Ziel gesetzt hat, werden mit einem experimentellen Hörspiel des in Linz ansässigen autonomen Zen­trums von & für Migrantinnen, MAIZ, (in Zusammenarbeit mit dem Institut für transakustische Forschung) auch traditionelle Hör- und Repräsen­tations­konventionen auf die Probe gestellt. Eine Gruppe von adoleszenten Öster­rei­cherInnen mit migrantischem Hintergrund in den hinteren Busreihen zeigt sich weder vom einführenden Vortrag, noch von der künstlerisch verdichteten Beschallung sonderlich beeindruckt. Eines der Mädchen stopft sich be­tont lässig einen Teil des Kopfhörers ihres MP3-Players ins Ohr und lässt ge­konnt ihr langes Haar darüber fallen. Den anderen händigt sie ihrer Freun­din aus. Plötzlich besinnt sie sich und schreibt eine digitale Zettelpost an ih­ren rückwärtigen Sitznachbarn: „Woher kommen deine?“ „Wer?“ „Deine El­tern.“ Der in sich zusammengesunkene Körper belebt sich. Eifrig beginnt der junge Mann in die Telefontastatur zu tippen.

Gleich zu Beginn der Fahrt mit dem „RebellInnen“-Omnibus wird deutlich, dass dieses in einem anspruchsvollen künstlerischen, mit eindringlicher So­zial­kritik gepaarten Ton gehaltene Projekt für ziemlich jede Tour­teil­neh­mer­In, von der SchülerIn bis zur PensionistIn, An- und Aufregendes zu bieten hat. Ob nun Denkanstoß, sinnliches Erlebnis oder Horizonterweiterung – die sich in Renovierung befindlichen windschiefen Gänge und Wände des „Schlössl Hinterbrühl“, in die das leitende Team von trafo-k rund um Nora Sternfeld in den Haselgraben entführt, bilden mit ihren zwei Installationen und vier (aufgrund des Zeitplans leider parallel gezeigten) Dokumen­tar­fil­men einen initiativ-unkonventionellen Raum zur Auseinandersetzung mit fe­mi­nisierter Arbeit und Migration in den Feldern Sex- und industrieller Gast­arbeit. Als Grenzbereich zwischen Linz-Stadt und Mühlviertel betont dieser liminale (Spiel-)Ort die Intention, über das Beispiel Linz hinaus prinzipielle gesellschaftliche Schieflagen aufzudecken und zur Diskussion zu stellen. So brachte in der anschließenden Diskussionsrunde Vida Bakondys Film „Wenn der Fisch kommt/Kad dode riba“ (2004) – eine geschichtliche Aufarbeitung des Schicksals ex-jugoslawischer Gastarbeiterinnen in den österreichischen Fischfabriken C. Warhanek mit Standorten in Wien, Villach und Traun – vor allem die mehrheitsösterreichischen ZeitzeugInnen im Publikum dazu, ihre Erfahrungen des ambivalenten Umgangs von Staatsapparat und Zivilge­sell­schaft mit ArbeitsmigrantInnen aus Südosteuropa ab den 1960er Jahren zu hinterfragen. Durch das Privileg der Anwesenheit der Filmautorin (und an­de­rer ExpertInnen) wurde dabei die Vermittlung sozialkritischer Kunst zum befruchtenden interaktiven Prozess.
Doch gerade die arbeits- und aufenthaltsrechtlichen Restriktionen der Film­pro­tagonistinnen ließen die Frage nach der prinzipiellen Möglichkeit rebellischen Handelns, immerhin das Motto dieser Bustour, laut werden. Kleine Auf­lehnungen im Alltag, so wie es im Film eine der Gastarbeiterinnen mit dem Weiterschenken ihres Firmenweihnachtspräsents, einer 200g (wohlgemerkt keiner 400g) Dose Rollmöpse an die Nachbarin zeigte, könnten doch wohl kaum als Befreiung aus diskriminierenden und ausbeuterischen Struk­turen – laut der Politphilosophin Hannah Arendt das Ziel jeder Rebellion – ge­wertet werden.

Diese trat viel augenscheinlicher beim zweiten großen Themenblock Sexar­beit hervor. Die Dekonstruktion klassischer Medienbilder über Prostitution und der Rolle von Sexarbeiterinnen mit oftmals migrantischem Hintergrund als wehrlose Opfer eines transnational agierenden Zwangssystems sowie ih­re Revaluierung als Dienstleisterinnen im Hinblick auf arbeitsgesetzliche Gleich­berechtigung und Selbstbestimmung im Film „Ni cupable, ni victime“ (von Sexy Shock and the International Committee of the Rights of Sex Wor­kers in Europe, 2005) zog vor allem jüngere TourteilnehmerInnen an. Die Of­fenheit und Unvoreingenommenheit zu diesem von der Gesellschaft margina­lisierten Thema in der anschließenden Debatte habe sie positiv überrascht, so Gergana Schrenk, ihres Zeichens Mitarbeiterin von MAIZ und Gesprächs­leiterin zu diesem Video. Es sei als Zeichen eines großen Aufklärungs- und Erklärungsbedarfes zu werten. Gemeinsam mit der Videoinstallation „RAUH“ von Gerda Martinez-Lopez, Andrea Sasaran und Helene Siebermaier (Stu­die­renden an der Kunstuniversität Linz), der – während des eineinhalbstündigen Aufenthalts im Tourbus auf- und wieder abgebaut – nicht die nötige Auf­merksamkeit zukam, sowie Katharina Strubers Wiederverwertung der von LinzerInnen gestifteten Lippenstifte im Kunstprojekt „lipstick demands“ über auf den Fenstern des Schlösschens formulierten Forderungen von Sexar­bei­ter­innen wurde ein engagiert artikulierter Akzent auf ein Berufsfeld gesetzt, in dem die Verschränkung der Diskriminierungsachsen Migration und Gen­der besonders deutlich zum Tragen kommt.
Das Recycling von originär für andere Räume konzipierten Installationen (so­wohl „RAUH“ als auch „lipstick demands“ wurden im Rahmen von Soho Ottakring 08 für Wien erarbeitet und auch die Filme etablieren keinen spezifischen Linzbezug) verweist dabei zwar auf die Ubiquität von strukturellen Rassismen und Ausschlüssen, der von den Kunstprojekten proklamierte spezifische Konnex der Lebens- und Arbeitswelt von Sexarbeiterinnen mit der urbanen Raumstruktur wird dabei jedoch relativiert bzw. erst in einem weiteren Schritt in geführten Stadtspaziergängen durch Linz für das Publikum direkt erschließbar.

Bevor sich allerdings die TourteilnehmerInnen in den malerischen Gassen von Linz (vor einem Hotel mit traditionell rassistischem Namen) hitzige De­bat­ten zu antirassistischem Sprachgebrauch im Alltag liefern können, wird man/frau im Bus auf eine „Route der Regulierungen“ mitgenommen, die mit wuchtigem Wortschatz die „Polysemie des Grenzregimes“ anprangert und am Linzer Wegesrand ihre institutionellen und lebensweltlichen Manifesta­tio­nen zu finden meint – was bis auf die Denunziation des gutbürgerlichen St. Mag­da­lena als migrantische Wohngegend mit Substandardwohnungen auch nach­vollziehbar und wichtig erscheint.

In der Linzer Innenstadt führen die mit feinsinnig-kritischen Beobachtungen (beispielsweise über die außer im Schillerpark immer kürzer werdenden Park­bänke) gespickten Spaziergänge zuerst zur Zentrale von MAIZ am Tum­mel­platz, ein nach der Regierungsbildung Schwarz-Blau im Jahr 2000 ab­sicht­lich exponiert gewählter Aktionsraum für das Empowering und die För­derung von Migrantinnen für Migrantinnen. Vor den im Fenster des Hauses aus­gestellten, auf eine permanente Kommunikation nach außen hin orientierten Installationen kommt das Gespräch dank der jugendlichen Tour­teil­neh­merInnen auch auf das hier vorhandene Angebot eines Lehrgangs zur Haupt­schulabschlussvorbereitung.
Im Konferenzraum vom Radio Fro (Frequenz 105,0), einer Plattform zum Hörbarmachen subalterner, vor allem migrantischer Stimmen am Fuße des Ars Electronica Center, wird schlussendlich die Möglichkeit geboten, den Tag mit den Initiatoren und KünstlerInnen im Hinblick auf einen Radiobeitrag Revue passieren zu lassen.

Das an den Anfang des Programmheftes gestellte Zitat des Diskurs­theore­ti­kers Michel Foucault, das die RebellInnen-Fahrt als „eine Verbindung, die es er­möglicht, ein historisches Wissen der Kämpfe zu erstellen und dieses Wis­sen in aktuelle Taktiken einzubringen“ preist, ist mit einigen im Übereifer der Sozialkritik entstandenen Schönheitsfehler eingelöst worden. Der immer wie­derkehrende Appell an die TeilnehmerInnen, im eigenen Alltag Zivil­cou­rage zu zeigen (beispielsweise in Form von „Rassismus Streichen! Heißer Scho­ko­la­dekuchen mit Schlag“-Aufklebern), trägt zu einem interaktiven Diskurs bei, der sich als Gratwanderung zwischen Kunstprojekt und sozialkritischem Aktionismus versteht.

Bustouren der Rebellinnen gibt es zu den Themen: „Von einem Kampf zum Anderen“, „Kämpfen, sticken und Rosen“, „Papiere, Arbeit, Aufenthalte“. Weitere Termine noch bis Oktober.
Informationen unter www.linz09.at/de/projekt-2106434/rebellinnen.html

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05/09
FotoautorInnen: 
Dietmar Tollerian

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