Die unerträgliche Leichtigkeit des Freiseins
Nichts ist jemals für den Menschen und für die menschliche Gesellschaft unerträglicher gewesen als Freiheit … legt der Großinquisitor dem nochmals auf die Erde, ins zum religiösen Fanatismus pervertierte Sevilla des 16. Jahrhunderts, zurückgekehrten Jesus Christus seine fundamentale Verfehlung dar. Der Großteil der Menschen wäre nicht imstande – so wie Christus das von ihm verlangte – frei über Gut und Böse zu urteilen und dem Leben des Mensch gewordenen Gottes nachzueifern. Dieser hat sich durch das Widerstehen der drei Versuchungen durch Satan in der Wüste geweigert, seine spirituelle Autorität mit Wundern im Weltlichen unwiderruflich zu untermauern. Nun sei es Aufgabe der Kirche, die Schar der schwächlichen Rebellen mit Hilfe von Mysterien und Macht von der Last der freien Entscheidung zu erlösen.
Fjodor Dostojewskijs „Der Großinquisitor“, eine kurze Sequenz aus dem fünften Buch seines epochalen Romans „Die Brüder Karamasow“, ist längst als eigenständiger Klassiker in die Literaturgeschichte eingegangen. Nach den Terroranschlägen in New York hat eine der Koryphäen des zeitgenössischen europäischen Theaters, Peter Brook, mit Hilfe seiner langjährigen Dramaturgin Marie Hélène Estienne, die erschreckende Aktualität und religions-philosophische Allgemeingültigkeit des Textes für die Bühne beinahe originalgetreu adaptiert.
Das gebannte Schweigen, mit dem das Publikum im Frühjahr die Inszenierung im Landestheater Niederösterreich mitverfolgte und das Brook in der Hoffnung auf Katharsis mindestens genauso wertschätzt wie tobenden Applaus, gibt dem kargen, auf eine Matte und zwei Stühle reduzierten Bühnenbild und Bruce Myers’ intensiven, jedoch unübertriebenen Darstellung des umsichtigen Erzählers und verbittert abgeklärten Großinquisitors in Personalunion Recht. Keine Lichteffekte, keine auffallenden Kostüme lenken vom Inhalt ab, der nahezu ausschließlich durch die Dostojewskij’sche Sprachgewalt und Bruce Myers Fähigkeit, dieser ambivalenten, Märtyrer und Monster in sich vereinenden Figur glaubhaft Leben einzuhauchen, transportiert wird. Ein Paradebeispiel des – auf die Philosophie des „leeren Raumes“ gestützten – Inszenierungsstils: Jesus (Joachim Zuber), harrt unbeweglich den langen Monolog aus, um dem Großinquisitor durch einen Kuss mit gelassener Nachsichtigkeit zu vergeben. Das Mitleid und die Allwissenheit – von Dostojewskij in die Handlung eingeschrieben – werden mittels dieser kleinen finalen Geste auf magische Weise sichtbar. Diese für Brook so typische Entschleunigung und Essentialisierung, sowie der geschichtenerzählerische Charakter der Bühnenfassung mag vorerst befremdlich wirken und einen außerordentlich aufmerksamen Zuschauer verlangen. Wer sagt aber, dass bei frivoleren Theaterabenden nicht mindestens das gleiche Maß an Partizipation gefordert ist?
Antithese zum tödlichen Theater
Nach „Bush – Hommage an einen Sohn“ im Februar und „Was ich hörte vom Irak“ im Mai setzt theaternyx mit „Amerika träumen“ im Oktober einen Kontrapunkt an das Ende der „ground zero“-Trilogie: Haben gerade die ersten beiden Abende den Übergang des american dream zum american nightmare deutlich gemacht, darf nun der gegensätzliche Weg beschritten werden. (Ein ausführliches Interview mit Markus Zeindlinger zu den ersten zwei Produktionen ist in SpotsZ 03/07 nachzulesen).
Linz träumt von Amerika. Textmaterial liefern Interviews mit LinzerInnen aus verschiedenen Bevölkerungsschichten zu ihren Bildern der USA. Das Great American Songbook ist der musikalische, wenngleich schon lange ausgetrocknete Quell des Abends, während Live-Eingaben des Publikums den Boden für Improvisationen der Impropheten, der Theatersportgruppe des Posthof, bereiten. Warum dieser 180°-Schwenk von bloßstellender Anklage zu nostalgischer Verklärung? Zeindlinger: „Zum ersten, haben 50 % der Amerikaner Bush gar nicht gewählt“ und zum zweiten lässt sich Amerika nicht auf die derzeitige Politik reduzieren. – Entscheidungsfreiheit, die, laut Peter Brook, jeden „Theaterbesuch zu einem den Geist beflügelnden Erlebnis machen“ kann.
„Im Theater wird die Tafel immer wieder leergewischt“
Die Erkenntnis, dass jeder „leere Raum“, als nackte Bühne angesehen werden kann, sobald bei Schauspielern und Publikum ein Konsens darüber herrscht, mutet im 21. Jahrhundert nicht gerade revolutionär an. 1968 hingegen stellte diese Behauptung die in der Illusions- und Unterhaltungsdramaturgie festgefahrene Theaterszene auf den Kopf und Peter Brook, Sohn russisch-jüdischer Eltern 1925 in London geboren, ins Licht des breiten öffentlichen Interesses. Schon Anfang der 60er Jahre versuchte Brook mit einer experimentellen Annäherung an das „Theater der Grausamkeit“ von Antonin Artaud ausgetretene Pfade zu verlassen: „Ein Theater, das funktioniert wie die Pest, durch Ansteckung, durch Rausch, durch Analogie, durch Magie; ein Theater, in dem das Stück, das Ereignis als solches an Stelle eines Textes steht.“ – eine euphorische Vision, die sich beim Happening angekommen von selbst wieder erschöpfte. Doch gerade weil „Theater stets eine sich selbst zerstörende Kunst und immer in den Wind geschrieben ist“ entwickelte der Visionär neue Methoden, um dem „tödlichen Theater“ entgegenzuwirken, d.h. einem Theater, dass nur bildungsbürgerliche Sehgewohnheiten befriedigt und nicht danach trachtet, das „Bedürfnis nach echter Berührung mit einer sakralen Unsichtbarkeit durch das Theater“ zu stillen. Das derart zum Superlativ erhobene „heilige Theater“ verlangt von allen Beteiligten (Schauspielern, Autoren, Regisseuren, Kritikern und Publikum) Engagement, Präzision und Offenheit für Neues, sowie Bedingungen, die die Wahrnehmung von Lebenserfahrungen, die über die des Zuschauers hinausgehen, überhaupt ermöglichen.
Als Co-Direktor der Royal Shakespeare Company setzte Brook mit ausstattungstechnisch reduzierten, den Schauspieler in den Mittelpunkt stellenden Inszenierungen von „König Lear“ (mit Paul Scofield) und „Ein Sommernachtstraum“ (mit Ben Kingsley and Patrick Stewart) neue Maßstäbe. Anfang der 70er Jahre gründete Brook zusammen mit Micheline Rozan das „Centre International de Recherches Théâtrales“ (C.I.R.T.) in Paris, mit dessen international zusammengesetzten Ensemble der Prinzipal Möglichkeiten sprachunabhängiger Kommunikationsformen im Theater auslotete und so auch eine dreimonatigen Reise nach Afrika unternahm, um dort für und mit der einheimischen Bevölkerung Theater zu spielen. Mit „Mahabharata“, einer neunstündigen Inszenierung nach dem altindischen, religiösen Epos der Menschheitsgeschichte, avancierte Peter Brook 1985 schlussendlich auch zum Vorreiter für das Welttheater.
Diese vielschichtige, von Traditionen freie Suche nach der „ewig undefinierten Heiligkeit“ des Theaters ist auch Markus Zeindlinger von theaternyx nicht fremd. Das „tödliche Theater“, für ihn schlicht gleichbedeutend mit Langeweile, hänge wie ein Damoklesschwert über jeder Inszenierung. Was er gerne vom Altmeister genauer wissen würde? Wie die konkrete Arbeit mit den Schauspielern von statten geht. In dieses mannigfaltige Mysterium lässt Peter Brook in seinen Schriften meist nur ansatzweise blicken. Bei der Magie des richtigen Moments muss man einfach dabei sein.
theaternyx: Amerika träumen
Dienstag, 23. Oktober, 20.00 h
www.theaternyx.at
Peter Brook: The Grand Inquisitor (englisch mit deutschen Untertiteln)
Mittwoch, 24. Oktober, 20.00 h. Freier Verkauf ab Di.18.09.
www.bouffesdunord.com
Amerika träumen
The Grand Inquisitor (Bruce Myers)
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