Das laute Lesen des Gedichts

Drei Begegnungen mit konkreter?, experimenteller?, postmoderner? – verspielter! Dichtung. (Als notorischer Zweifler an solchen Begrifflichkeiten ist mir „verspielt“ doch am liebsten, aber damit erlaube ich mir etwas, ich weiß.) Ann Cotten, Michèle Mètail und Lukas Cejpek in der Maerz.

So falsch kann „verspielt“ aber gar nicht sein. Im­merhin ist Spielen eine ernste Sache – gerade für einen, der hin und wieder mehr als nur Zuschau­en will, ist Spielen lebenswichtig und so produktiv wie etwas Seriöses. Und das Zerpflücken von Wirklichkeit oder jahrtausende alter Traditionen wie der des Erzählens ist schließlich kein Spaß. Bleibt bloß noch zu klären, wie man mit diesen Autoren mithalten kann, ihrer Aufforderung, mitzuspielen, genüge tun will? Mit Wohlwollen (ich will wohl, und wie!) und Luftanhalten (im Stak­ka­to), um dem Hirn im permanenten Verstehen­wol­len da Sauerstoff abzudrehen und dort zuzuführen.
Trotzdem bleibt mir nichts anderes übrig, als die­se Art der Literatur, diesen Umgang mit Sprache immer wieder, also jedes Mal aufs Neue, grundsätzlich und von ganz von vorne zu betrachten. Also nochmal: Was will der von mir? Was erwartest Du, Dichter?
Auch mit dieser Frage nehme ich mir etwas heraus, und doch glaube ich: Sie steht mir zu. So wie die Autoren ihre Sprache immerzu in Frage stellen, stelle ich als Leser ihre Literatur immerzu in Frage. Ich reflektiere also eine Reflexion, und spä­testens jetzt wird mir klar, warum das Lesen oder Hören dieser Literatur so schwierig ist: ich versuche, mich auf die Metaebene der Metaebene zu han­teln. So betrete ich den Raum der Maerz (die Maerz als beispielgebender Ort in Linz, wo Spie­len nicht nur erlaubt ist) jedes Mal durch dieselbe Tür und stolpere über ihre Schwelle. Bin zum Zeit­­punkt des Betretens nie leichtfüßig genug, das dauert.

Um alle drei Lesungen unter einen Hut zu bekom­men (eine Notwendigkeit, allein schon um die Er­eig­nisse Cotten, Mètail und Cejpek in diesem Auf­satz verpacken zu können) suche ich nach einer Ge­meinsamkeit und finde sie in der Fotografie. Be­merkenswert: Alle drei Autoren schreiben nicht nur, sie fotografieren auch. Mit Cotten konnte ich mich über ihre fotografischen Ambitionen un­­ter­hal­ten, ohne ihre Fotos gesehen zu haben, ähn­­lich geht’s mir mit den Fotos von Mètail: Von ihr hab ich überhaupt nur im Internet gelesen, dass sie fo­to­grafiert. Von Cejpek weiß ich gar nicht, ob er über­haupt fotografiert. Und doch ist es gerade Cej­pek, dessen Arbeit mich auf die Idee gebracht hat, alle drei Autoren über die Foto­gra­fie zu verknüpfen.

In der Tokioter U-Bahn werden im Gedränge abgerissene Ärmel und verloren gegangene Schuhe in Körben eingesammelt. Was die Tun­nel der Londoner Tube verstopfen könnte, sind die Haa­re von Milli­onen von Passagieren. (...) Der Ausgang ist oben. Jeder Anfang ist ein Ausgang. Lucas Cejpek: Dichte Zugfolge

Fotografie bildet Wirklichkeit ab. Fotografie ist kei­ne Kunst. Günstigstenfalls ist Fotografie das „mis­sing link“ zwischen Wirklichkeit und Kunst. Wenn diese Behauptung des ewigen Diskurses über die Annäherung von Kunst und Fotografie stimmt, dann ist Lucas Cejpeks Literatur Foto­gra­fie. Oder eben jener seltene Glücksfall, nach dem Literaten oft suchen: die beiden Ausdrucks­for­men Sprache und Bild zu verschränken, und zwar so, dass der Text das Bild nicht nur beschreibt, das Bild den Text nicht bloß illustriert. Kein Nebenei­nan­der, kein Nacheinander, Cejpeks Sprache ist in einer Weise dokumentarisch-bildhaft, dass sie nach no­ta­te-Veranstalter Christian Steinbacher „anti-sub­jektiv“ wirkt. Für mich als Leser heißt das: Ich le­se und sehe gleichzeitig. Die Tiefenschärfe scheint unendlich.

Verspielter kommen Michèle Mètails 2888 Do­nau­verse an, eine seit 1972 befindliche Arbeit „in pro­gress“. Die Idee holte sich die Französin vom längs­ten Wort, das sich unsereins in Kindestagen zu­sam­menbuchstabieren konnte: Donaudampf­schiff­­fahrts­gesellschaftskapitän. Dement­spre­chend be­steht in den Donauversen Mètails jede Zeile aus sechs Substantiven. Wie sechs Fotografien, Kon­kre­tes oder Symbolisches zeigend, die nebeneinander liegen. In jeder Zeile kommt vorne ein neues Substantiv hinzu und hinten wird eines weggelassen. Die Monumentalität der 2888 Verse ist in ständiger Bewegung.

(...)
1605    Die Säule des Siegs der Olympiade der Sportler der Welt des Rekords
1606    Der Marmor der Säule des Siegs der Olympiade der Sportler der Welt
1607    Der Block des Marmors der Säule des Siegs der Olympiade der Sportler
1608    Der Osten des Blocks des Marmors der Säule des Siegs der Olympiade
1609    (...)

 
Die räumliche Positionierung erfolgt rückwärts, und das heißt: Mit den Donauversen ist wohl auf keinen grünen Zweig zu kommen. Es bleibt beim Prozess des Findens. Gut so.

Ann Cottens Arbeiten sind vielfältiger, auch poetischer im herkömmlichen Sinn. Demnächst wird im Suhrkamp Verlag ihr erster Gedichtband „Fremd­wörterbuchsonette“ erscheinen. Nicht nur in den Gedichten selbst finden sich Bildelemente, so wird etwa auch Ausdruck kultureller Befind­lichkeit „aus Gemüse darstellenden Kritzeln ge­won­nen“ (Steinbacher), das Buch wird mit Foto­gra­fien und Grafiken „illustriert“ – oder eben ge­nau das nicht. Um beide Ausdrucksformen kurzzuschließen, experimentiert sie u.a. mit Größe und Anordnung der Bilder neben den Texten bzw. im Buch.

Um eines ihrer Gedichte herauszugreifen – am Ber­liner Wannsee steht eine Tafel mit folgendem Text:
KLEIST GRAB
FRIEDEN HIER SUCHTE / DES DICHTERS RUHELOSE SEELE / SCHONE DARUM DIE NATUR / DIE IHN HIER LIEBEND UMFÄNGT

Cotten, darauf korrespondierend:
Des Dichters Seele ist ein Beserlpark./Drum komm ihm nicht zu nah, es geht ihm gut (...) Im Winter nährt er sich von Preisel­bee­ren.

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02/07
FotoautorInnen: 
Reinhard Winkler

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