Das laute Lesen des Gedichts
So falsch kann „verspielt“ aber gar nicht sein. Immerhin ist Spielen eine ernste Sache – gerade für einen, der hin und wieder mehr als nur Zuschauen will, ist Spielen lebenswichtig und so produktiv wie etwas Seriöses. Und das Zerpflücken von Wirklichkeit oder jahrtausende alter Traditionen wie der des Erzählens ist schließlich kein Spaß. Bleibt bloß noch zu klären, wie man mit diesen Autoren mithalten kann, ihrer Aufforderung, mitzuspielen, genüge tun will? Mit Wohlwollen (ich will wohl, und wie!) und Luftanhalten (im Stakkato), um dem Hirn im permanenten Verstehenwollen da Sauerstoff abzudrehen und dort zuzuführen.
Trotzdem bleibt mir nichts anderes übrig, als diese Art der Literatur, diesen Umgang mit Sprache immer wieder, also jedes Mal aufs Neue, grundsätzlich und von ganz von vorne zu betrachten. Also nochmal: Was will der von mir? Was erwartest Du, Dichter?
Auch mit dieser Frage nehme ich mir etwas heraus, und doch glaube ich: Sie steht mir zu. So wie die Autoren ihre Sprache immerzu in Frage stellen, stelle ich als Leser ihre Literatur immerzu in Frage. Ich reflektiere also eine Reflexion, und spätestens jetzt wird mir klar, warum das Lesen oder Hören dieser Literatur so schwierig ist: ich versuche, mich auf die Metaebene der Metaebene zu hanteln. So betrete ich den Raum der Maerz (die Maerz als beispielgebender Ort in Linz, wo Spielen nicht nur erlaubt ist) jedes Mal durch dieselbe Tür und stolpere über ihre Schwelle. Bin zum Zeitpunkt des Betretens nie leichtfüßig genug, das dauert.
Um alle drei Lesungen unter einen Hut zu bekommen (eine Notwendigkeit, allein schon um die Ereignisse Cotten, Mètail und Cejpek in diesem Aufsatz verpacken zu können) suche ich nach einer Gemeinsamkeit und finde sie in der Fotografie. Bemerkenswert: Alle drei Autoren schreiben nicht nur, sie fotografieren auch. Mit Cotten konnte ich mich über ihre fotografischen Ambitionen unterhalten, ohne ihre Fotos gesehen zu haben, ähnlich geht’s mir mit den Fotos von Mètail: Von ihr hab ich überhaupt nur im Internet gelesen, dass sie fotografiert. Von Cejpek weiß ich gar nicht, ob er überhaupt fotografiert. Und doch ist es gerade Cejpek, dessen Arbeit mich auf die Idee gebracht hat, alle drei Autoren über die Fotografie zu verknüpfen.
In der Tokioter U-Bahn werden im Gedränge abgerissene Ärmel und verloren gegangene Schuhe in Körben eingesammelt. Was die Tunnel der Londoner Tube verstopfen könnte, sind die Haare von Millionen von Passagieren. (...) Der Ausgang ist oben. Jeder Anfang ist ein Ausgang. Lucas Cejpek: Dichte Zugfolge
Fotografie bildet Wirklichkeit ab. Fotografie ist keine Kunst. Günstigstenfalls ist Fotografie das „missing link“ zwischen Wirklichkeit und Kunst. Wenn diese Behauptung des ewigen Diskurses über die Annäherung von Kunst und Fotografie stimmt, dann ist Lucas Cejpeks Literatur Fotografie. Oder eben jener seltene Glücksfall, nach dem Literaten oft suchen: die beiden Ausdrucksformen Sprache und Bild zu verschränken, und zwar so, dass der Text das Bild nicht nur beschreibt, das Bild den Text nicht bloß illustriert. Kein Nebeneinander, kein Nacheinander, Cejpeks Sprache ist in einer Weise dokumentarisch-bildhaft, dass sie nach notate-Veranstalter Christian Steinbacher „anti-subjektiv“ wirkt. Für mich als Leser heißt das: Ich lese und sehe gleichzeitig. Die Tiefenschärfe scheint unendlich.
Verspielter kommen Michèle Mètails 2888 Donauverse an, eine seit 1972 befindliche Arbeit „in progress“. Die Idee holte sich die Französin vom längsten Wort, das sich unsereins in Kindestagen zusammenbuchstabieren konnte: Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitän. Dementsprechend besteht in den Donauversen Mètails jede Zeile aus sechs Substantiven. Wie sechs Fotografien, Konkretes oder Symbolisches zeigend, die nebeneinander liegen. In jeder Zeile kommt vorne ein neues Substantiv hinzu und hinten wird eines weggelassen. Die Monumentalität der 2888 Verse ist in ständiger Bewegung.
(...)
1605 Die Säule des Siegs der Olympiade der Sportler der Welt des Rekords
1606 Der Marmor der Säule des Siegs der Olympiade der Sportler der Welt
1607 Der Block des Marmors der Säule des Siegs der Olympiade der Sportler
1608 Der Osten des Blocks des Marmors der Säule des Siegs der Olympiade
1609 (...)
Die räumliche Positionierung erfolgt rückwärts, und das heißt: Mit den Donauversen ist wohl auf keinen grünen Zweig zu kommen. Es bleibt beim Prozess des Findens. Gut so.
Ann Cottens Arbeiten sind vielfältiger, auch poetischer im herkömmlichen Sinn. Demnächst wird im Suhrkamp Verlag ihr erster Gedichtband „Fremdwörterbuchsonette“ erscheinen. Nicht nur in den Gedichten selbst finden sich Bildelemente, so wird etwa auch Ausdruck kultureller Befindlichkeit „aus Gemüse darstellenden Kritzeln gewonnen“ (Steinbacher), das Buch wird mit Fotografien und Grafiken „illustriert“ – oder eben genau das nicht. Um beide Ausdrucksformen kurzzuschließen, experimentiert sie u.a. mit Größe und Anordnung der Bilder neben den Texten bzw. im Buch.
Um eines ihrer Gedichte herauszugreifen – am Berliner Wannsee steht eine Tafel mit folgendem Text:
KLEIST GRAB
FRIEDEN HIER SUCHTE / DES DICHTERS RUHELOSE SEELE / SCHONE DARUM DIE NATUR / DIE IHN HIER LIEBEND UMFÄNGT
Cotten, darauf korrespondierend:
Des Dichters Seele ist ein Beserlpark./Drum komm ihm nicht zu nah, es geht ihm gut (...) Im Winter nährt er sich von Preiselbeeren.
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