Industriegeschichte als Theaterkulisse

Es kommt nicht oft vor, dass ein Theaterstück und der Bühnenraum einander ästhetisch und thematisch dermaßen entsprechen, wie das bei der kommenden Produktion der Bühne04 der Fall ist. Jura Soyfers Arbeitslosen- und Fortschrittsdrama „Der Lechner Edi schaut ins Paradies“ wird ab 18. November in der Lösehalle der stillgelegten Tabakfabrik gezeigt.

Am Ende seien nur noch 20 bis 30 Mitarbeiter­In­nen be­schäftigt gewesen. Sie waren die letzten von ca. 300, die nach der sukzessiven Stilllegung zum Teil in Frühpension geschickt, zum Teil in eine Ar­beitsstiftung übernommen wurden oder nach Hain­burg ins andere Werk übersiedelt sind. Diese zwei Dutzend Männer und Frauen bauten die Maschi­nen ab, räumten die Büros, packten die Kisten. Am letz­ten Tag durften sie dabei sein, wie der Leiter der Tabakfabrik Robert Seibezeder im Rahmen eines kleinen Festaktes symbolisch den Schlüssel an Fi­nanzstadtrat Johann Mayr übergab. Und da­mit das Ende einer 159-jährigen Industriege­schich­te be­sie­gel­te.

Mit wieviel Geschichte, Schicksal und Leben die Räume der stillgelegten Tabakfabrik imprägniert sind, erfahren Cornelia Metschitzer und Rudi Mül­lehner von der freien Theatergruppe Bühne04 – Theater für Toleranz jeden Tag bei der Proben­ar­beit. Selten war man „im Thema und Anliegen“ so schnell drin. Seit Ende September bereiten Cor­ne­lia Metschitzer als Regisseurin und Rudi Mül­leh­ner als Schauspieler die Premiere von Jura Soy­fers Arbeitslosen- und Fortschrittsdrama „Der Lech­ner Edi schaut ins Paradies“ vor. Gespielt wird in der großen, von Säulen gesäumten Lösehalle, in der früher der Tabak gereinigt und blattweise ge­löst wurde. Der süßlich-herbe Geruch von frischem Tabak hängt hier noch immer im Raum. Bislang war die Bühne04 im Kulturzentrum Hof stationiert, musste dieses aber vor dem Sommer verlassen. Dass sie nun als erste Theatergruppe in der Ta­bak­fabrik produziert, folgt keinem finanziellen o­der populistischen Kalkül, sondern der Thematik der Produktion.

Geschrieben 1936, vor dem Hintergrund der ers­ten Weltwirtschaftskrise und kaum ein Jahr nach der Eröffnung der neuen Tabakfabrik, erzählt das Stück von einem Schuhfabrikarbeiter, der sechs Jah­re lang arbeitslos ist und sich eines Tages auf die Suche nach der Ursache für seine Arbeits­lo­sigkeit begibt. Gemeinsam mit seiner Freundin Frit­zi und dem Elektromotor Pepi unternimmt Edi eine filmische Reise in die Vergangenheit. Pepi wurde ebenfalls ausrangiert und verdient sein Schmier­öl nunmehr als Zeitmaschine. Die drei besuchen große Erfinder und Geister der Vergangenheit – und passieren beiläufig komplexe Themen, wie tech­nologische Macht und Fortschrittsglaube, Ar­beitslosigkeit im Kapitalismus und das Verhält­nis des Einzelnen zum System. In pointierten Szenen und satirischen Dialogen entwickelt Soyfer, dieser viel zu wenig populäre Wiener Schriftsteller, Ge­danken und Gedankenspiele, die von so brillanter philosophischer Einfachheit sind, dass sie bis heu­te aktuell und als Denkmodelle im Umlauf sind. Zum Beispiel ist gleich zu Beginn zu hören, dass Edi wohl selbst Mitschuld an seiner Arbeitslo­sig­keit trägt, er hätte ja in den letzten sechs Jahren auch keine Schuhe gekauft! Ist jede Volkswirt­schaft tat­sächlich so gut, wie die Kaufkraft der Be­­völ­ke­rung?

Als einziger seiner schreibenden Zeitgenossen rief der junge Jura Soyer dazu auf, vereint zur Selbst­hilfe zu greifen. Wenn er Edi am Ende der Phan­ta­­siereise durch die Technologiegeschichte erkennen lässt: „Auf uns kommt’s an!“, denkt Soyfer, der gerne von allen linken Gruppierungen vereinnahmt wurde, über den kommunistischen Grundsatz: nicht nur die Verhältnisse prägen den Men­schen, sondern auch umgekehrt, der Mensch hat es in der Hand, die Verhältnisse zu verändern. In seinem en­gagierten Leben und ebensolchen Werk forderte Soyfer eine revolutionäre, gesellschaftsverändern­de Alternative.
Soziales Engagement kennzeichnet nun auch die Geschichte des Aufführungsortes seines „Lechner Edi“. Im Laufe der Zeit durchschiffte die Tabakfa­brik große wirtschaftliche Veränderungen, dennoch versuchte der Betrieb auf die sozialen Be­dürf­nisse der ArbeiterInnen einzugehen. Derart wur­den auch die schwierigen 30er Jahre über­stan­den. Um die drohende Arbeitslosigkeit zu be­kämpfen, wurde unter dem Motto „Handarbeit ge­gen Arbeitsnot“ 1931 die Zigarettenmarke „Nur Du“ von zuvor abgebauten und nun wieder einge­stellten ArbeiterInnen in Handarbeit produziert. Das Projekt scheiterte zwar, dennoch kann „Nur Du“ für den Firmengeist während der Krise kennzeichnend sein: Auf uns kommt es an!

Auch stilistisch entspricht Soyfers Literarizität der funktional-ästhetischen Industriebaukunst von Pe­ter Behrens und Alexander Popp. Als politischer Essayist und Kabarettautor, ständig auf der Hut vor den Zensoren, schrieb er schnell und büh­nen­praktikabel, in einer direkten und zugleich oft viel­deutigen Sprache, gerne im Wiener Dialekt. Die Be­zeichnung Tschikbude hätte von ihm sein können. Soyfers Stücke sind gekennzeichnet von star­kem kritischen Potenzial, dabei von visionärer Kraft, von tiefgreifendem Humor und großer bilderreicher Poesie, die auch jede karge Umset­zung in Kleinkunstbühnen zum sinnlichen und zauberhaften Erlebnis werden ließ. Soyfer wünsch­te sich ein Theater, das „ärmlich, halbnackt“ den Zu­schau­er in seinen Bann zieht. Diesem Zauber des „Ar­men Theater“ ist auch die Bühne04 verpflichtet. Für die Inszenierung vom „Lechner Edi“ verwendet Cornelia Metschitzer nur Gegenstän­de, die die Theatergruppe in den Fabriksräumen vorgefunden hat. Und die letzten Mitarbeiter der Tabakfabrik wa­ren gründlich! Nur ganz wenige Ge­rätschaften sind zurück geblieben und werden als Requisiten verwendet. Dafür sollen eine fein gearbeitete Be­we­gungsregie, die in Zusammen­ar­beit mit der Cho­reografin Doris Jungbauer entwickelt wird, die viel­farbigen Klangräume des Ak­kordeonisten An­drej Serkow und die immer präsente Erinnerung an die lange Industriege­schich­te die Bilder der Phantasiereise in Bewegung setzen.

Der Lechner Edi schaut ins Paradies: Premiere: 18. November 2010, 20.00 h, Termine bis 1. Februar 2011. www.buehne04.at

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FotoautorInnen: 
Bernhard Mayer

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