Industriegeschichte als Theaterkulisse
Am Ende seien nur noch 20 bis 30 MitarbeiterInnen beschäftigt gewesen. Sie waren die letzten von ca. 300, die nach der sukzessiven Stilllegung zum Teil in Frühpension geschickt, zum Teil in eine Arbeitsstiftung übernommen wurden oder nach Hainburg ins andere Werk übersiedelt sind. Diese zwei Dutzend Männer und Frauen bauten die Maschinen ab, räumten die Büros, packten die Kisten. Am letzten Tag durften sie dabei sein, wie der Leiter der Tabakfabrik Robert Seibezeder im Rahmen eines kleinen Festaktes symbolisch den Schlüssel an Finanzstadtrat Johann Mayr übergab. Und damit das Ende einer 159-jährigen Industriegeschichte besiegelte.
Mit wieviel Geschichte, Schicksal und Leben die Räume der stillgelegten Tabakfabrik imprägniert sind, erfahren Cornelia Metschitzer und Rudi Müllehner von der freien Theatergruppe Bühne04 – Theater für Toleranz jeden Tag bei der Probenarbeit. Selten war man „im Thema und Anliegen“ so schnell drin. Seit Ende September bereiten Cornelia Metschitzer als Regisseurin und Rudi Müllehner als Schauspieler die Premiere von Jura Soyfers Arbeitslosen- und Fortschrittsdrama „Der Lechner Edi schaut ins Paradies“ vor. Gespielt wird in der großen, von Säulen gesäumten Lösehalle, in der früher der Tabak gereinigt und blattweise gelöst wurde. Der süßlich-herbe Geruch von frischem Tabak hängt hier noch immer im Raum. Bislang war die Bühne04 im Kulturzentrum Hof stationiert, musste dieses aber vor dem Sommer verlassen. Dass sie nun als erste Theatergruppe in der Tabakfabrik produziert, folgt keinem finanziellen oder populistischen Kalkül, sondern der Thematik der Produktion.
Geschrieben 1936, vor dem Hintergrund der ersten Weltwirtschaftskrise und kaum ein Jahr nach der Eröffnung der neuen Tabakfabrik, erzählt das Stück von einem Schuhfabrikarbeiter, der sechs Jahre lang arbeitslos ist und sich eines Tages auf die Suche nach der Ursache für seine Arbeitslosigkeit begibt. Gemeinsam mit seiner Freundin Fritzi und dem Elektromotor Pepi unternimmt Edi eine filmische Reise in die Vergangenheit. Pepi wurde ebenfalls ausrangiert und verdient sein Schmieröl nunmehr als Zeitmaschine. Die drei besuchen große Erfinder und Geister der Vergangenheit – und passieren beiläufig komplexe Themen, wie technologische Macht und Fortschrittsglaube, Arbeitslosigkeit im Kapitalismus und das Verhältnis des Einzelnen zum System. In pointierten Szenen und satirischen Dialogen entwickelt Soyfer, dieser viel zu wenig populäre Wiener Schriftsteller, Gedanken und Gedankenspiele, die von so brillanter philosophischer Einfachheit sind, dass sie bis heute aktuell und als Denkmodelle im Umlauf sind. Zum Beispiel ist gleich zu Beginn zu hören, dass Edi wohl selbst Mitschuld an seiner Arbeitslosigkeit trägt, er hätte ja in den letzten sechs Jahren auch keine Schuhe gekauft! Ist jede Volkswirtschaft tatsächlich so gut, wie die Kaufkraft der Bevölkerung?
Als einziger seiner schreibenden Zeitgenossen rief der junge Jura Soyer dazu auf, vereint zur Selbsthilfe zu greifen. Wenn er Edi am Ende der Phantasiereise durch die Technologiegeschichte erkennen lässt: „Auf uns kommt’s an!“, denkt Soyfer, der gerne von allen linken Gruppierungen vereinnahmt wurde, über den kommunistischen Grundsatz: nicht nur die Verhältnisse prägen den Menschen, sondern auch umgekehrt, der Mensch hat es in der Hand, die Verhältnisse zu verändern. In seinem engagierten Leben und ebensolchen Werk forderte Soyfer eine revolutionäre, gesellschaftsverändernde Alternative.
Soziales Engagement kennzeichnet nun auch die Geschichte des Aufführungsortes seines „Lechner Edi“. Im Laufe der Zeit durchschiffte die Tabakfabrik große wirtschaftliche Veränderungen, dennoch versuchte der Betrieb auf die sozialen Bedürfnisse der ArbeiterInnen einzugehen. Derart wurden auch die schwierigen 30er Jahre überstanden. Um die drohende Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, wurde unter dem Motto „Handarbeit gegen Arbeitsnot“ 1931 die Zigarettenmarke „Nur Du“ von zuvor abgebauten und nun wieder eingestellten ArbeiterInnen in Handarbeit produziert. Das Projekt scheiterte zwar, dennoch kann „Nur Du“ für den Firmengeist während der Krise kennzeichnend sein: Auf uns kommt es an!
Auch stilistisch entspricht Soyfers Literarizität der funktional-ästhetischen Industriebaukunst von Peter Behrens und Alexander Popp. Als politischer Essayist und Kabarettautor, ständig auf der Hut vor den Zensoren, schrieb er schnell und bühnenpraktikabel, in einer direkten und zugleich oft vieldeutigen Sprache, gerne im Wiener Dialekt. Die Bezeichnung Tschikbude hätte von ihm sein können. Soyfers Stücke sind gekennzeichnet von starkem kritischen Potenzial, dabei von visionärer Kraft, von tiefgreifendem Humor und großer bilderreicher Poesie, die auch jede karge Umsetzung in Kleinkunstbühnen zum sinnlichen und zauberhaften Erlebnis werden ließ. Soyfer wünschte sich ein Theater, das „ärmlich, halbnackt“ den Zuschauer in seinen Bann zieht. Diesem Zauber des „Armen Theater“ ist auch die Bühne04 verpflichtet. Für die Inszenierung vom „Lechner Edi“ verwendet Cornelia Metschitzer nur Gegenstände, die die Theatergruppe in den Fabriksräumen vorgefunden hat. Und die letzten Mitarbeiter der Tabakfabrik waren gründlich! Nur ganz wenige Gerätschaften sind zurück geblieben und werden als Requisiten verwendet. Dafür sollen eine fein gearbeitete Bewegungsregie, die in Zusammenarbeit mit der Choreografin Doris Jungbauer entwickelt wird, die vielfarbigen Klangräume des Akkordeonisten Andrej Serkow und die immer präsente Erinnerung an die lange Industriegeschichte die Bilder der Phantasiereise in Bewegung setzen.
Der Lechner Edi schaut ins Paradies: Premiere: 18. November 2010, 20.00 h, Termine bis 1. Februar 2011. www.buehne04.at
& Drupal
spotsZ - Kunst.Kultur.Szene.Linz 2006-2014