Den Wald und die Metropolen im Kopf

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Karl-Markus Gauß hat im Oktober im Posthof aus seinem neuen Buch „Im Wald der Metropolen“ gelesen. Und wie der Klappentext verspricht, ist das Buch tatsächlich eine vielschichtige Mixtur aus Reiseerzählung, europäischer Kulturgeschichte und Bildungsroman. Eine Annäherung an ein Buch, das inspiriert, fasziniert und der LeserIn, fast nebenbei, Österreich erklärt.

Was als das Genre Reiseerzählung bezeichnet werden kann, erweist sich als Reportage durch 13 Stationen Europas und als ein weitreisendes Assozi­ie­ren im Denken. Was im Klappentext als Kulturgeschichte Europas geführt wird, sind ebenso punktuell-genaue Analysen von den Begebenheiten des Un­be­kannten, Zugedeckten, Wilden, durch das Europa geprägt ist wie durch die of­fizielle Geschichtsschreibung. Was die Folie des Bildungsromans an­geht, ist der Ich-Erzähler in seiner Entwicklung vor allem beeindruckt durch Per­sonen und Geschichten, die „aufklärerisches“ Potential haben. Al­les in allem: Bereits im Titel „Im Wald der Metropolen“ trifft sich das Kul­tu­rel­le mit dem Barbarischen, trifft sich die „Metropole“ als hochaufgeschichtetes kul­turelles Konstrukt mit der geradezu unbekannten Anti-Zivilisation eines symbolisch verstandenen Waldes. Gauß erweist sich dabei als ein in jegli­cher Beziehung eloquenter Reisender, als Erzähler durch die Räume und Zei­ten Europas und ist dabei vor allem absolut trittsicher in der Orien­tie­rungsfrage, die zwar un­ausgesprochen bleibt, aber bei der LeserIn sich fast wie von selbst aufdrängt: Was ist denn bitte Österreich?

Die erste von 13 Stationen beginnt mit zunächst in einer „großen kleinen Stadt“ in Frankreich, einem von Touristen angeblich „überlaufenen“ Ort und damit bei Gauß einer Reflexion über Touristen: „Der Hass des Touristen auf den Touristen ähnelt dem Provinzler auf den Provinzler, er gebiert kuriose Selbstentwürfe, von denen der Abenteurer mit der Kreditkarte einer der apar­testen ist.“ Dass der Ich-Erzähler (der übrigens gerne auch mal in Personal­union mit seiner Frau zum Wir-Erzähler wird) von einer touristischen Sicht der Dinge meilenweit entfernt ist, versteht sich von selbst. Dass er eher an einem „kuriosen Selbstentwurf“ eines sich über Jahrhunderte und Genera­tio­nen herausbildenden Weltgesichtes interessiert ist, das er auf Reisen zu ergründen sucht, ist schon eher sein Anliegen. Und so soll das erste Kapitel mit einem besonders ausgeprägten „Grimassierer“ beginnen, der zuerst als ei­gentümlich gebärdender Mann über den französischen Restaurant­tisch be­obachtet wird – ein Bild eines wahrscheinlich eher unfreiwilligen Unan­ge­passten. Um dann wild zu verschwinden und sich kulturgeschichtlich und erzählerisch zu den Grimassen-Skulpturen zu vervielfältigen, zu den so ge­nannten „Charakterköpfe“ von Franz Xaver Messerschmidt, die der Ich-Er­zähler dann später im Wiener Belvedere wiederfindet. Dabei erkennt der Ich-Erzähler, dass diesen Köpfen nicht beizukommen ist, psychologisch so we­nig wie den eigenen Abgründen und den Abstrusitäten so manch europä­i­scher Kulturgeschichte. Denn damit bringt Gauß dem Leser Franz Xaver Mes­­serschmidt näher, den gefeierten Repräsentationskünstler, der nicht zu­letzt wegen dieser „Köpf-Stückhe“ aus der feinen Gesellschaft hinauskomplimentiert wurde – um dann schlüssig zu einer recht bekannten, aber völlig monströsen Geschichte über äußere Abbildhaftigkeit zu gelangen, wie nur die Wirklichkeit sie schreiben kann: Zur Geschichte vom Kammer­die­ner Soliman, der im 18. Jahrhundert zugleich engster Vertrauter und „Ein­flüs­terer“ einer der damalig mächtigsten österreichischen Aristokraten war. Dieser Soliman ist als Sklave nach Wien gekommen und war, wie man im damaligen Österreich so schön gesagt hat, ein Mohr. Nach seinem Tod er­fuhr er diese Behandlung: „So angesehen Angelo Soliman, so bedeutend sei­ne Stellung unter den Lebenden war, schon am Tag nach seinem Tod wurde er gegen die inständigen Bitten seiner Tochter, gegen den christlichen Ein­spruch des Erzbischofs von Wien dem Präparator übergeben und nach fachkundiger ‚Ausschoppung‘ dem ‚Physikalischen Kunst- und Tierkabinett‘ des Kai­sers als kurioses Beutestück eingegliedert.“ Sprich, er wurde als An­schau­ungsmaterial ausgestopft. Und keineswegs wird mit dieser Geschichte eine billige Pointe gesetzt. Sondern das Kapitel endet, im Gegenteil, im Dickicht des Wiener Straßenlabyrinths, mit Ingeborg Bachmann im assoziierten (Sprach)­Kosmos des Ungargassenlandes, um dort in dieser Gas­se die weitläu­fi­gen Fährten des weltläufigen Wiens aufzunehmen, z. B. in Person des kro­a­tischen Dichters Petar Pereradovic, der über ein paar Reisestationen und Ka­pitel später hier Vuk Karadzic, dem „Vater der serbischen Nation“ be­geg­net: „Und hier auf einer Straße im dritten Wiener Bezirk haben sich Vuk Ka­ra­dzic, der Grammatik, Ortographie und Wörterbuch der modernen Serbi­schen Sprache schuf, und der jüngere Petar Preradovic, mit dem die kroatische Li­teratur anhebt, zum ersten mal getroffen. Sie schlossen Freundschaft, wie woll­ten ja das gleiche, war ihnen Spra­che doch kein Mit­tel, die Menschen auseinander, sondern zueinander zu brin­gen.“ Dass es an­ders kam, als dass allein „die Kroaten und die Serben, die Bru­dervölker, die sich niemals entzweien lassen würden“ dazu berufen wä­ren. „Europa den ewigen Frieden zu bringen“, ist eine andere Geschichte, die auch einen we­sentlichen Teil der ge­danklichen und tatsächlichen Reiserouten einnimmt. Es sei hier darauf hingewiesen, dass in dieser Besprechung nur aus wenigen Kapiteln beispielhaft angeführt wird – die werte LeserIn möge sich von Karl-Markus Gauß selbst durch seine 13 Stationen quer durch Europa leiten lassen: Al­le­mal gilt, dass nicht nur wer eine Reise tut, viel zu erzählen hat, sondern wer aus einer geglückten Erzählhaltung das Biographische mit dem Kul­tu­rel­len, das Unsichtbare mit dem Repräsentativen, kurz: Geschichte und Ge­schich­ten, zu überbrücken weiß – der hat zwischen Italien und Is­tan­bul, zwischen Metropole und Niemandsland, zwischen Zivilisation und Krieg nicht nur viel zu erzählen, dem wird verdienterweise auch zugehört.

Eine Geschichte, die ganz viel über die Beziehung der Österreicher zu den „Fremden“ auszudrücken vermag, soll abschließend noch hier vermerkt wer­den: Als der frühe Arbeiteranführer Franz Schuhmeier 1911 ermordet wur­de, geriet sein Begräbnis zur größten Massendemonstration, die Wien bis da­hin erlebt hatte, eine halbe Million Menschen sollen durch die Otta­krin­ger Straße zum Friedhof gezogen sein. In diesem Zusammenhang führt Gauß an: „Die Arbeiter von Wien wurden nicht mit Soldaten aus der Umgebung nie­dergemacht, sondern von muslimischen Soldaten aus Bosnien und Her­ze­gowina, die in Wien niemanden kannten und, statt mit der üblichen Sol­da­ten­kappe mit dem Fes auf dem Haupt, gehorsam Jagd auf die Arbeiter machten. Im übernational verfassten Staat der Habsburger pflegten die Truppen, die zum Verprügeln und Niederschießen von Demonstranten antreten mussten, stets aus den entfernten Provinzen des Reichs abkommandiert zu werden. So schlug im Volk der Hass auf die Obrigkeit in den Hass auf die Fremden um, ein verhängnisvolles Erbstück der Monarchie, das noch von den Heutigen aufgetragen und darüber immer schäbiger wird.“ Wie wahr.

Karl-Markus Gauß „Im Wald der Metropolen“,  Paul Zsolnay Verlag, 304 Seiten, EUR 20,50

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