Fünf Thesen zu der Frage, ob sich schreiben lernen lasse
I.
Die neueste, wissenschaftlich institutionalisierte Form der Schreibschule heißt „angewandte Literaturwissenschaft“. Sie ist eine Erfindung der akademischen Philologien, mit der diese ihre Relevanz als Ausbildungsstätten für den postmodernen Kulturbetrieb unter Beweis stellen wollen. Sie soll dem Publikum signalisieren: Wir vermitteln genauso wie die Naturwissenschaften und Ingenieursberufe spezifische Fachkompetenzen, die sich dann später auf dem Arbeitsmarkt „anwenden“ lassen. Der Begriff der Anwendung jedoch, der aus den Naturwissenschaften stammt, ist den Geisteswissenschaften insgesamt unangemessen. Er unterstellt, dass sich geistige Gebilde, unabhängig von ihrem besonderen Gehalt, automatisch in sinnvolle Praxis übersetzen lassen, begreift aber auch umgekehrt jede Praxis als reibungslose „Anwendung“ vorgängiger Theorien. Damit tut er der Sphäre des Denkens ebenso Unrecht wie der Sphäre praktischen Handelns. Denn wie Denken, sofern es nicht zum Problemlösen zusammenschrumpfen will, immer über die empirische Realität hinausgreift, in der es stattfindet, so erschöpft sich keine Praxis je in der Umsetzung zugrundeliegender Ideen. Deshalb wird sogar in den Naturwissenschaften nur innerhalb eines eng umgrenzten Rahmens, bei der experimentellen Versuchsanordnung, problemlos von „Anwendung“ gesprochen. Pauschal von einer „angewandten Wissenschaft“ zu reden, zeugt dagegen vor jeder inhaltlichen Bestimmung bereits von einem Missverständnis. Keine Wissenschaft, mag sie sich auch noch so ausgefeilter Methoden bedienen, geht in den Nutzanwendungen auf, die sich aus ihr ableiten lassen; keine Praxis, so reflektiert sie auch sein mag, erschöpft sich in der Realisierung von Ideen. Eine Wissenschaft, deren Telos ihre „Anwendung“ ist, muss geist- und begriffslos werden; eine Praxis, die sich als „Anwendung“ einer Wissenschaft verstände, ginge an der Wirklichkeit vorbei.
II.
Das dubiose Ideal der „angewandten Wissenschaft“ kommt zum ersten Mal im späten 19. Jahrhundert im Zuge des Positivismus auf und reflektiert die zunehmende Ohnmacht theoretischen Denkens ebenso wie die schwindenden Wirkungsmöglichkeiten praktischen Handelns. Je bedingungsloser geistige Arbeit sich am Primat der Nützlichkeit messen lassen muss, desto mehr verkümmern Theorien zu Methoden und Ideen zu bloßen Auslösern von Handlungen. Anders als kulturkonservative Verteidiger der Geisteswissenschaften es sich wünschen, die den Geist, dessen Verwaltung ihnen arbeitsteilig zugewiesen ist, von jeder Spur der Empirie rein halten wollen, beeinträchtigt diese Entwicklung aber auch die Sphäre der Praxis selbst. Der Behaviorismus, der das Verhältnis von Denken und Handeln nur als endlose Kette von Reiz-Reaktions-Impulsen fassen kann, billigt dem Geist ebenso wenig Autonomie zu wie der Praxis. Auch deren Wert erschöpft sich für ihn in den Effekten, die sie nach sich zieht, und den Ursachen, denen sie sich verdankt. Nicht der Geist wird gegenüber der Praxis abgewertet, sondern beide werden auf einen instrumentellen Kausalzusammenhang nivelliert, der sich selbst genügt. „Angewandte Literaturwissenschaft“ macht die Literatur – einen Gegenstand, der gerade durch sein Überschreiten praktischer Zwecke, ja durch Zweckfreiheit bestimmt ist – zum Rohstoff für eine Kulturarbeit, die sich zwar an ihm erprobt, ihm gegenüber aber äußerlich bleibt, weil sie allein sich selbst zum Ziel hat. Damit ist sie Ausdruck einer Wirklichkeit, in der Literatur, die nur noch als „kulturelles Kapital“ fungiert, nicht mehr zweckfrei, sondern tendenziell zwecklos ist.
III.
Der Typus der „KulturarbeiterIn“ bildet sich nahezu zeitgleich mit dem Siegeszug des Positivismus heraus. JournalistInnen, FeuilletonistInnen, ReiseberichterstatterInnen, Conférenciers und KabarettistInnen begreifen ihre Texte zum ersten Mal in der Geschichte ganz unmittelbar als kulturelle Gebrauchsgüter, deren Wert das Publikum ihnen in klingender Münze auszahlt. BerufsschriftstellerInnen hat es schon lange vorher, seit der Blütezeit des Bürgertums, gegeben. Der renommierteste unter ihnen war Goethe, der erfolgreichste Goethes volkstümlicher Rivale August von Kotzebue, dessen Unterhaltungsstücke als Vorform des modernen Boulevardtheaters gelten können. Dennoch ist der/die BerufsschriftstellerIn bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts jemand, von dessen Werken nicht ohne weiteres angenommen wird, dass sie in dem Preis aufgehen, der für sie bezahlt wird. Wo solcher Verdacht ruchbar wird, gilt der/die SchriftstellerIn vielmehr als Schreiberling: Der kulturelle Wert seiner/ihrer Arbeit sinkt im gleichen Maße, wie sein/ihr kommerzieller Erfolg wächst. Der Zwang zum kommerziellen Erfolg als authentische Antriebskraft schriftstellerischer Produktion wird erst seit dem 19. Jahrhundert anerkannt. Der vielleicht erste deutsche Unterhaltungsschriftsteller, der ohne Ansehen seines kommerziellen Erfolgs auch als Künstler geachtet wurde, war Theodor Fontane. Mit der massenhaften Verbreitung der Tageszeitungen und Journale wird die Doppelexistenz als lohnabhängige VerfasserIn von Gebrauchstexten und unabhängige geistige SchöpferIn der eigenen Produkte im späten 19. Jahrhundert zunehmend zu einer, wenngleich prekären, Normalität.
Ein ganzes Repertoire literarischer Stile wäre ohne diese Entwicklung undenkbar gewesen. Autoren wie Joseph Roth, Peter Altenberg, Arthur Schnitzler, Else Lasker-Schüler, aber auch Alfred Döblin oder Egon Erwin Kisch haben nicht nur ihre Themen, sondern die ihnen eigene Schreibweise aus der kommerziellen Gebrauchsliteratur, aus Feuilletons, Reportagen, Essays oder der Reklame bezogen, ohne deshalb einfach „FeuilletonistInnen“ gewesen zu sein. Die skizzenhaften Kleinformen des literarischen Impressionismus, die Plakat- und Pamphletkunst des Expressionismus und Dadaismus, die dringliche Nüchternheit der neusachlichen Literatur sind auf verschiedene, je unverwechselbare Weise ein Ergebnis der Verwandlung von Literatur in Massenware, von LeserInnen in KonsumentInnen und von AutorInnen in bezahlte ProduzentInnen. Selbst die Sprachkritik von Karl Kraus, die den Jargon des aufkommenden Feuilletonismus zerpflückt und die Kommerzialisierung der Sprache, ihre Verwandlung zur bloßen Verkehrsform, mit Verachtung straft, bezieht ihre Pointiertheit und Emphase aus der Auseinandersetzung mit dem/der AngreiferIn, an dem sie sich misst. Sie kennt nicht mehr das gemütliche Räsonnement des bürgerlichen Romans, sondern hat sich in ihrer Schärfe, in ihrer Reaktionsgeschwindigkeit und ihrer Versiertheit an der Sprache der aufkommenden Massenmedien geschult.
IV.
Trotz ihrer Nähe zum Massenkonsum und zur modernen Gebrauchsliteratur waren die AutorInnen jener Blütezeit der Moderne, die heute von einer einzig und allein auf ihre eigene „Anwendbarkeit“ schielenden Literaturwissenschaft als frühe ExponentInnen von „Kulturmanagement“ und „Selbstmarketing“ entdeckt werden, keine MarketingagentInnen in eigener Sache. Ihr gesellschaftlicher und ökonomischer Status war desperat, die Spleens und nervösen Eigentümlichkeiten, die sie ausbildeten, waren keine souveränen Versuche der Selbstvermarktung, sondern Symptome ihres gesellschaftlichen Scheiterns, ihrer Ohnmacht und ihrer Randständigkeit, die notwendig Borniertheiten, Blindheiten und Ticks im Individuum ausbilden – nicht zufällig ist der „Spleen“ in jener Zeit, seit Baudelaire, eine positive Kategorie. Die Moderne ist die wohl letzte Epoche, in der es der Literatur gelingt, die ihr seit dem 18. Jahrhundert notwendig eigene Warenförmigkeit in sich aufzunehmen, ohne der eigenen Form nach zur Ware zu werden. Ihr geschichtlicher Ort ist die Großstadt: Feuilleton, Glosse, Polemik, literarische Karikatur – all diese Stilformen bilden sich vor dem Hintergrund der urbanen Milieus, in Caféhäusern, Kneipen sowie in den modernen Verkehrsmitteln aus. Geschrieben wird nicht mehr in der Studierstube oder Dachkammer, sondern im öffentlichen Raum; der/die AutorIn ist, schon während er/sie schreibt, zumindest virtuell Teil der Massen, die ihn/sie später lesen werden. Der Alltag dieser Massen ist seine einzige literarische Schule. Daher ist er/sie das Gegenteil der VolksschriftstellerIn, der/ die nicht für den anonymen Markt, sondern für die autochthone Gemeinschaft schreibt: Die Entfremdung von den dispersen Massen, denen der/ die moderne AutorIn gerade als IsolierteR, allein auf sich selbst VerwieseneR angehört, ist notwendige Bedingung seiner/ihrer marktvermittelten Produktion. Gerade indem er/sie mit niemandem mehr etwas gemein hat, spricht er/sie für alle, weil er/sie mit allen die eigene Isoliertheit teilt.
V.
Das Aufkommen von Literaturinstituten, Schreibschulen, Creative Writing-Workshops sowie einem ganzen Arsenal von Stipendien-, Wettbewerbs- und Förderprogrammen ist demgegenüber ein genuin postmodernes Phänomen. Es zeugt von dem Versuch, die an ihrer Isoliertheit als bloße Warensubjekte zunehmend irre werdenden Individuen zwanghaft an etwas anderes als den Markt zurückzubinden und die Erfahrung der Entfremdung didaktisch, betriebswirtschaftlich und sozialpädagogisch zu kompensieren. Weil die undurchdringliche Ödnis der Wirklichkeit kaum mehr rudimentäre Anknüpfungspunkte für individuelle Erfahrung übrig zu lassen scheint, soll Erfahrung durch Training ersetzt werden; weil sich angesichts der blanken Irrelevanz der eigenen Existenz kaum jemand mehr sprachlich zu helfen weiß, werden im Einüben eines fungiblen Repertoires von Gattungen, Stilformen und Tonlagen tradierte literarische Formen der Bewältigung von Wirklichkeit gecovert und geklont, die den Subjekten, die sich ihrer bedienen, doch notwendig fremd bleiben müssen. Der richtige Impuls, der von derlei Übungen ausgehen könnte – die Betonung des Handwerklichen gegenüber der Ideologie des Genies und der Inspiration – schlägt in sein Gegenteil um: Das Moment der Spontaneität, des Planlosen und Ungedeckten, das jeder authentischen geistigen Produktion innewohnt, wird als bloßer Effekt von handwerklicher und marketingpsychologischer Geschicklichkeit ausgegeben, ganz so, als käme es auf das Individuum gar nicht mehr an, als sei es nichts als ein Durchgangsort für die geschickte Kombination vorhandener Stile, Formen und Diskurse. Darin konvergieren Postmoderne und Positivismus: Wenn geistige Originalität nichts als ein Ergebnis von Übung und „Genie“ nichts als ein anderes Wort für optimiertes Selbstmarketing ist, dann ist auch Ich nicht mehr „unrettbar“, wie Ernst Mach in der Hochzeit der Moderne behauptet hat, sondern beliebiges Produkt eines flexiblen Selbstmanagements. Und für dessen Gelingen erhält man dann am Ende einen Preis, ein Stipendium oder zumindest ein Diplom.
YOUKI Festival, 16.–21. November, Medien Kultur Haus Wels und Alter Schl8hof Wels. www.youki.at
SchreiberIn oder Schreiberling – kann man Schreiben lernen?
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